Die Befriedung Rio de Janeiros

Ein Modell für die Aufstandsbekämpfung im urbanen Raum

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Einsatz der Spezialeinheit BOPE in den Favelas von Rio de Janeiro
Einsatz der Spezialeinheit BOPE in den Favelas von Rio de Janeiro

Dieser Beitrag erschien in der Juniausgabe der Zeitschrift Ausdruck, herausgegeben von der "Informationsstelle Militarisierung" (IMI).


"Wir werden in den kommenden vier Jahren alle Gebiete, die von den Kriminellen kontrolliert werden, zurückerobern. Wir werden den Gemeinden, die von der Parallelmacht beherrscht werden, den Frieden bringen",1 erklärte der heutige Gouverneur von Rio de Janeiro Sérgio Cabral vor vier Jahren. Was wie eine Kriegserklärung klingt, war wohl auch als eine gemeint. Die "Estrategia de Pacificação" – die Befriedungsstrategie –, mit der die Armenviertel von Rio unter die Kontrolle des Staates gebracht werden, erinnert nicht nur begrifflich an den europäischen Kolonialismus vor allem in Afrika: "Befriedung kann nicht nur als eine militärische Aktion zur Niederschlagung des feindlichen Aufstandes, sondern als eine breitere und weitreichendere Maßnahme zur Errichtung einer neuen soziale Ordnung verstanden werden".2

Nicht von ungefähr setzte sich Cabral 2010 das Ziel, bis heute die Favelas in Rio befriedet zu haben, schließlich beginnt in wenigen Tagen die Fußball-WM der Männer in Brasilien, 2016 wird Rio der Austragungsort der Olympischen Spiele sein. Bereits kurz nachdem die FIFA 2007 entschieden hatte, die WM in Brasilien austragen zu lassen, wurde die Befriedungsstrategie, deren Herzstück die Aufstellung einer Befriedungspolizei (Unidades de la Policía Pacificadora - UPP) ist, entwickelt.

Die Regierung von Rio ließ sich, eigenen Angaben zufolge, bei der Erarbeitung des Konzeptes von Strategien des Kampfes gegen die Guerilla und die Drogen in Kolumbien inspirieren.3 Die US-Botschaft wiederum verglich die Strategie der UPP in einer, von Wikileaks veröffentlichten Depesche mit der Aufstandsbekämpfungsstrategie des US-Militärs im Irak und in Afghanistan. 4

Paramilitärische Besetzung …

Betrachtet man den Ablauf der Befriedung der Viertel, so ist der Vergleich mit einer militärischen Aufstandsbekämpfung kaum übertrieben: die paramilitärische Polizeieinheit "Batalhão de Operações Policiais Especiais" (BOPE) durchsucht meist wochenlang in martialischem Aufgebot, mit schweren Waffen und unter Einsatz von Helikoptern und gepanzerten Fahrzeugen die Favelas nach Waffen, Drogen und Kriminellen. Dadurch, dass die Aktionen frühzeitig angekündigt werden, können die Drogen und Waffen vor Ankunft der Polizei aus dem Viertel entfernt werden. Dies bedeutet allerdings nicht – anders als es vor allem in der brasilianischen Presse lange dargestellt wurde –, dass die Besetzung der Favelas ohne Kämpfe oder gar ohne massiven Gewalteinsatz vonstattengingen. Vor allem in den letzten Monaten haben die Berichte von durch die Polizei willkürlich verhafteten, gefolterten, verletzten und getöteten Favela-Bewohnern zugenommen.5 Immer wieder sterben Menschen, wenn die Spezialeinheiten in den eng bebauten Vierteln auf schwer bewaffnete Kriminelle treffen.6

Der Bevölkerung wird nicht nur durch die massive Zurschaustellung von Kriegsgerät klar gemacht, dass ihr Viertel besetzt ist, in vielen Favelas wurde die Fahne der BOPE, gemeinsam mit der brasilianischen Nationalfahne gehisst, "gewissermaßen, um deutlich zu machen, dass der Besitzer gewechselt‘ hat".7 Ist die militärische Besetzung des Viertels erfolgt, so wird eine zivile "Befriedungspolizei" (UPP) dauerhaft in der Favela stationiert. Um die notwendige Akzeptanz bei der Bevölkerung zu schaffen, soll zeitgleich das "UPP Sozial" starten, dass die Infrastruktur innerhalb der Favelas verbessern soll – so das Konzept.

Inzwischen sind 38 Posten der UPP in Rio de Janeiro errichtet worden. Die Auswahl der Favelas, die von den UPPs kontrolliert werden, zeigt, dass – trotz anderslautender Behauptungen der brasilianischen Regierung – die Befriedungsstrategie in direktem Zusammenhang zu der bevorstehenden Fußball-WM und den Olympischen Spielen steht: "Die meisten der UPP-Posten befinden sich im Süden der Stadt oder um das berühmte Maracaña Stadion herum und schaffen so einen ‚urbanen Sicherheitsgürtel‘ um die Austragungsorte der FIFA Weltmeisterschaft und der Olympischen Spiele. Die übrigen Favelas, die sich in der Nähe von größeren Touristenattraktionen und Zugängen zu dem neu gebauten Öffentlichen Transportsystem befinden, stehen auf der Liste der Gebiete, die demnächst im Rahmen des Programms pazifiziert werden sollen."8

… und Vermarktung der Favela

Während immer mehr Favelas von den BOPE besetzt und festungsähnliche Stationen der zivilen UPP eingerichtet werden, ist von der versprochenen Verbesserung der sozialen Infrastruktur in den befriedeten Favelas kaum etwas zu spüren. Vordergründig handelt es sich bei "UPP Sozial" vor allem um ein Programm zur Verbesserung des Images der Polizei in den Favelas. Insofern erstaunt auch nicht, dass das Sozialprogramm den Namen der Polizeiintervention trägt. Das Programm dient ganz offensichtlich der Vermarktung einer Strategie, bei der es darum geht, die Favelas unter die Kontrolle des Staates zu bekommen. Dies führt dann zu etwas grotesken Bildern, auf denen Polizisten der UPP-Einheiten in schusssicheren Westen in einer Kinderkrippe Kinder betreuen oder in Uniform Schüler in "Computertechnologie" unterrichten.9

Das Programm "UPP Sozial" allerdings als wirkungslos darzustellen, wäre falsch. Vielmehr verändert sich das Leben in der Favela grundlegend. So ist die Favela "Santa Marta", die als erste 2008 befriedet wurde, heute eine Vorzeigefavela, die inzwischen von Reiseführern als Touristenattraktion verkauft wird.10Schwerwiegender als die Touristen wirkt jedoch die Öffnung der Favela für private Dienstleistungsfirmen: "Mit der Errichtung der UPP kam bald, noch bevor es Investitionen im Bildungs-, Sanitär- und Gesundheitsbereich gab, die Regulierung und Formalisierung marktförmiger Dienstleistungen wie die Energieversorgung".11 Zuvor hatten die Bewohner vieler Favelas diese Grundversorgung illegal bezogen, was nicht ungefährlich aber bezahlbar war. Die ärmsten Bewohner werden nun aus ihrem Zuhause gedrängt, weil sie die Stromrechnung nicht mehr bezahlen können. 

Zivil-Militärische Zusammenarbeit

Die Spezialeinheit BOPE kann geradezu als Symbol für eine zunehmende Vermischung militärischer und polizeilicher Aufgaben gesehen werden: als Polizeieinheit untersteht sie dem Innenministerium, ist aber militärisch ausgebildet und ausgerüstet. Aber auch das Militär selbst spielt – fast 30 Jahre nach dem Ende der letzten Militärdiktatur – eine zunehmend wichtige Rolle bei der Gewährleistung der inneren Sicherheit. Olympia und die WM haben diese Entwicklung eindeutig beschleunigt12 und es besteht die berechtigte Befürchtung verschiedener brasilianischer Organisationen, dass das Militär auch nach dem Ende der Spiele nicht mehr vollständig zurückgezogen wird oder werden kann. Ganz offensichtlich ist dies auch nicht das Ziel der Regierung: "Es freut mich sehr zu sehen, wie Zivil- und Militärpolizei heute zusammenarbeiten", erklärte Cabral während eines Besuchs in einer der elf Kommandozentralen, die Daten unterschiedlicher Dienste zusammentragen, um die elf Großstädte zu überwachen, in denen Spiele während der WM ausgetragen werden.13

Das Militär wiederum freut sich über zahlreiche neue, hochmoderne Rüstungsgüter. Das Verteidigungsministerium kaufte in den letzten Jahren u.a. vier Drohnen aus Israel – zur Überwachung des Luftraums über den Austragungsorten; 34 Flugabwehrpanzer aus Deutschland – zum Schutz der Stadionbesucher; 30 Bodenroboter aus den USA, die bisher vor allem vom US-Militär in Afghanistan und Irak zur Aufklärung unzugänglichen Geländes eingesetzt werden14 – bei der WM sollen die Roboter "Sicherheit herstellen", "Bomben entschärfen" und "Verdächtige identifizieren helfen".15 Zusätzlich werden während der Fußball-WM mehr als Hunderttausend Soldaten im Einsatz sein, eine Sondereinheit der Armee wurde geschaffen, die vor allem in der Kontrolle von Massenprotesten ausgebildet wurde.16 Die Flughäfen, die Hotels in denen die Fußballmannschaften untergebracht sind und die Straßen auf denen sie sich bewegen, werden vom Militär kontrolliert werden.17

Befriedung – weit über die WM hinaus

Christopher Gaffnes beschreibt die Umwälzungen innerhalb der brasilianischen Gesellschaft im Zuge von WM und Olympia als Schock, die dahinterstehende Doktrin in Anlehnung an Naomi Klein als Schockstrategie: "Die Megaevent-Stadt befindet sich durch die jahrelangen Bauarbeiten, die Verschuldung, die Umwandlung des täglichen Lebens, die mediale Werbung, die Ankunft hunderttausender reicher Touristen und die Militarisierung des urbanen Raumes in einem Schockzustand. Dieser Schock hallt in Zeit und Raum nach, während die Instrumente zu seiner Durchführung sich in der Erinnerung auflösen."18Tatsächlich ist nicht vorgesehen, dass die quasi militärische Besatzung der Favelas wieder aufgehoben wird, ihre marktwirtschaftliche Erschließung wird ebenso wenig wieder rückgängig gemacht werden können wie die Verdrängung der Ärmsten.

Das Militär spielt erneut eine wichtige Rolle in der brasilianischen Innenpolitik und hat zahlreiche hochmoderne Rüstungsgüter erhalten, die es selbstverständlich auch unabhängig dieser Großeinsätze einsetzen wird. Auch die Kontrollzentren werden wohl kaum nach 2016 wieder abgebaut werden.

Mehr noch, die "Estrategia de Pacificação" macht Schule in Lateinamerika, auch in solchen Ländern, in denen keine Großveranstaltungen ins Haus stehen.19