Chile / Politik

11. September 1973

Eine unvergessliche politische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts - Ein unsterbliches sozialistisches Ideal

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5. September 1964: Unterstützer von Salvador Allende im Wahlkampf
5. September 1964: Unterstützer von Salvador Allende im Wahlkampf

Ich komme aus Chile, einem kleinen Land, wo jedoch jeder Bürger die Freiheit hat, seine Meinung so zu äußern, wie er es für richtig hält, wo uneingeschränkte Toleranz auf kulturellem, religiösem und ideologischem Gebiet besteht und wo Rassendiskriminierung keinen Platz hat; ich komme aus einem Land, dessen Arbeiterklasse in einem einzigen Gewerkschaftsbund vereinigt ist, einem Land, wo das allgemeine Wahlrecht und die geheime Wahl die Grundpfeiler eines Vielparteiensystems sind, einem Land, dessen Parlament seit seiner Gründung vor 160 Jahren ohne Unterbrechung tätig gewesen ist, dessen Judikative unabhängig von der Exekutive ist und dessen Verfassung, die praktisch immer in Kraft war, seit 1833 nur einmal abgeändert wurde.

Ich komme aus einem Land, wo das öffentliche Leben auf bürgerlichen Institutionen aufbaut, aus einem Land, dessen Streitkräfte ihre berufliche Hingabe und ihren aufrichtigen demokratischen Geist bewiesen haben, einer Nation, die in einer Generation zwei Nobelpreisträger für Literatur hervorgebracht hat, Gabriela Mistral und Pablo Neruda, die beide aus bescheidenen Arbeiterfamilien stammen; einem Land, dessen Geschichte, Boden und Volk in einem umfassenden Bewusstsein ihrer nationalen Identität verschmolzen sind. ....

Ich komme heute hierher, weil mein Land mit Problemen konfrontiert wird, die aufgrund ihrer weltweiten Bedeutung in dieser Versammlung von Nationen ständig behandelt werden: nämlich der Kampf um gesellschaftliche Befreiung, das Bemühen um Wohlstand und geistigen Fortschritt und die Verteidigung der nationalen Identität und Würde. Die Aussicht, der mein Land sich gegenüber sah, war, wie in so vielen anderen Ländern der Dritten Welt, das vertraute Muster: Übernahme eines fremden Modernisierungsmodells; technische Untersuchungen und die tragische Realität haben gezeigt, dass ein solches Modell die unausweichliche Wirkung hat, mehr und mehr Millionen Menschen von jeder Möglichkeit des Fortschritts, des Wohlstands und der sozialen Befreiung auszuschließen und sie zu einem subhumanen Dasein zu verurteilen - ein Modell, das zu noch größerer Wohnungsnot führen und eine ständig wachsende Zahl von Bürgern zu Arbeitslosigkeit, Unwissenheit und physischer Not verdammen muss.

Aus der Rede des Präsidenten Salvador Allende vor der UNO-General-Versammlung in New York, 1972

Der 11. September ist für Chile ein Tag der Besinnung. Es geht um die Tragödie, die sich nach der Wahl zum Präsidenten, dieses bewussten Demokraten und visionären Staatsmannes in diesem fernen Land abspielte. Viermal seit 1952 hatte der Senator Salvador Allende versucht, zum Präsidenten der Republik gewählt zu werden, bevor er die Präsidentschaftswahl im September 1970 gewann. Sicherlich war sein Engagement für die Sache der Arbeiter, für den Sozialismus der Beweggrund seiner Vitalität, so sehr, dass es ihm erlaubte, in den erschütternden finalen Minuten seines Lebens hellwach zu bleiben, wie seine letzte dramatische Rede bekundet. Sein Leben, seine Persönlichkeit wurden ein geschichtliches Ereignis, das über seine Zeit hinaus ging und Vorbild für die Jugend und für die Zukunft in aller Welt bleibt. Allende ging voll in der Rolle als demokratischer Präsident auf, wofür er lange mit leidenschaftlicher Beharrlichkeit gekämpft hatte. Salvador Allende ist durch das hohe Tor in die Geschichte eingegangen, und er tat es in vollem Bewusstsein. Somit widerlegte dieser große Demokrat alle diejenigen, die glaubten, ihn mit Kugeln und Bomben nicht nur aus La Moneda zu eliminieren, sondern auch aus der Erinnerung Chiles.

Wir sind von niemanden mentale Kolonisten. Hier und jetzt beginnt die Geschichte eine neue Wende. Ich bin sicher, wir werden die notwendige Energie und Fähigkeit haben, unsere Anstrengungen voranzutreiben, indem wir die erste sozialistische Gesellschaft nach einem demokratischen, pluralistischen und freiheitlichen Muster modellieren... Die Aufgabe ist von einer enormen Komplexität, weil es dafür keinen Präzedenzfall gibt, von dem wir uns inspirieren lassen können. Wir betreten einen völlig neuen Weg und haben keinen anderen Kompass als unsere Treue zum Humanismus aller Epochen ... Es ist dies eine unglaubliche Zeit, die die materiellen Mittel bereitstellt, um die großzügigen Utopien der Vergangenheit anzugehen. Lediglich das Gewicht eines Erbes von Begierde, von Ängsten und von obsoleten institutionellen Traditionen hindert uns, sie zu erreichen. Zwischen unserer Epoche und der des befreiten Mannes wird auf planetarischer Skala dieses Erbe überwunden sein. Nur so kann der Mensch sich weiterentwickeln, nicht als Ergebnis einer Vergangenheit von Unfreiheit und Ausbeutung, sondern als bewusste Realisierung seiner nobelsten Potentialitäten. Dieses ist das sozialistische Ideal!

Erste offizielle Rede von Präsident Salvador Allende vor dem Nationalkongress - Plenarsaal, März 1971

Mehr als ein Drittel Jahrhundert ist seit Allendes Wahltriumph vergangen, als er 1970 Präsident Chiles wurde. Seine Regierung war eine kurze Etappe von drei Jahren. Eine Koalition fortschrittlicher Kräfte, die Unidad Popular, begann einen tiefen Veränderungsprozess im Einklang mit der damaligen Verfassung und bestehenden Gesetzen. Die Verstaatlichung von Bergwerken und großer ausländischer Unternehmen, die Agrarreform, die Verstaatlichung von Banken und Monopol-Unternehmen und die gerechtere Verteilung des Nationaleinkommens wurden Realität, unterstützt von einer breiten sozialen Bewegung. Dass alle diese Veränderungen mit einer demokratischen Vertiefung einher gingen, provozierte ein noch größeres Interesse an diesem Prozess in verschiedenen Ländern Europas und Lateinamerikas so wie in zahlreichen fortschrittlichen Bewegungen der ganzen Welt.

Die öffentliche Aufmerksamkeit versucht bis heute, den Hintergrund dieser Zeit zu ignorieren und lediglich die schreckliche Konsequenz zu betrachten: die Diktatur General Pinochets und die Greueltaten dieser deplatzierten, 17 Jahre langen Episode (1973-1990) in der Geschichte Chiles. Man muss das Schweigen über den Präsidenten Allende endlich brechen und ihn in den Vordergrund stellen, anstelle des verräterischen Generals.

Es ist an der Zeit für die chilenische Gesellschaft und für die Weltöffentlichkeit einzusehen, dass der terroristische militärische Sturz von Präsident Salvador Allende schon lange vor Allendes Amtsantritt erdacht und geplant wurde. Was diesen Militärputsch betrifft, ist die Figur von General Pinochet absolut sekundär, völlig unbedeutend. Der unter der Diktatur von Augusto Pinochet ermorderte ehemalige Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte, General Carlos Prats, bestätigt in seinen Memoiren, dass sich Augusto Pinochet dem lang geplanten Putsch nur in den letzten Wochen anschloss. Es ist natürlich einfach und bequem für die Hauptverantwortungsträger, einen Sündenbock für all das Unheil zu haben, um selbst versteckt außer Acht zu bleiben in einer Zeit, in der die allgemeine Verurteilung der chilenischen Diktatur weltweit unbestreitbar ist.

Jetzt ist es gelungen, die Streitkräfte Chiles als Institution darüber aufzuklären, dass sich niemals die Waffengewalt gegen die höchste Autorität des Landes erheben durfte, den vom Volk verfassungsmäßig demokratisch gewählten Präsidenten. Die Bomben auf das Präsidentenamt und als Folge Allendes Sturz waren der erste Terror-Akt der Militärs, die dazu von extrem reaktionären politischen Kräften im In- und Ausland angestiftet wurden. Der terroristische Sturz des vom Volk gewählten Präsidenten war nicht nur absolut unverhältnismäßig, sondern völlig unbegründet, denn der Präsident war vorher bereit, dem Volk per Plebiszit über seine weitere Regierung die Entscheidung zu überlassen. Es war vorgesehen, der Präsident würde am jenen Dienstag, den 11.September 1973, das Plebiszit ankündigen. Die Militärgewalt und der Putsch verhinderten diesen geplanten demokratischen Ausweg aus der Krise unter Präsident Salvador Allende.

Die Presse in Deutschland wiederholt ständig die offizielle Version der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet, die weit verbreitet wurde, Allende hätte im Palast Selbstmord begangen. Zu diesem Punkt ist es angebracht, die Worte vom damaligen österreichischen Kanzler Bruno Kreisky zu zitieren. Als der Botschafter des diktatoriellen Regimes Chiles diese Version in seiner Anwesenheit in der Wiener Hofburg wiederholte (September 1973), reagierte Bruno Kreisky bestimmt: "Die Regierung Chiles wird immer Zweifel darüber annehmen müssen."

In der Tat gibt es zahlreiche Indizien, unbestrittene Tatsachen und Zeugenaussagen, aus denen zu schließen ist, dass Allende in La Moneda, im Regierungspalast, ermordet wurde. Allendes Töchter, weder Beatriz noch Isabel (nicht die Schriftstellerin), die ihren Vater im Palast La Moneda begleiteten, haben niemals die Selbstmord-Version bestätigt. Auch nicht die Journalistin Verónica Ahumada, noch irgendeiner seiner Minister, die bis zum Schluß an der Seite des Präsidenten Allendes in La Moneda waren. Beherzt und bestimmend wiederholte Allende in den schrecklichen Stunden des militärischen Sturms immer wieder seinen Entschluss, sich nicht zu ergeben. Mit unbezähmbarem Mut kämpfte er tapfer stundenlang im Palast gegen die aufständischen Generäle und Militärs zusammen mit seinen Leuten.

Die Absicht zum kaltblütigen Mord Allendes ist inzwischen durch die in Chile veröffentlichten Dokumente "Interferencia Secreta" belegt und offenkundig. In diesem geheim erstellten Telefon-Mitschnitt kann man General Augusto Pinochet hören: " Wir erhalten das Angebot aufrecht, ihn (Allende) aus dem Land per Flugzeug herauszubringen, aber das Flugzeug stürzt während des Fluges ab." (Augusto Pinochet in Gespräch mit Admiral Patricio Carvajal). Die mörderische Absicht des Angreifers ist somit bekundet. (Interferencia Secreta, 11 de Septiembre de 1973, Patricia Verdugo, Editorial Sudamericana, mit CD-Platte, 1998) Außerdem wurde eine Autopsie des Körpers des Präsidenten niemals praktiziert, nicht einmal angeordnet. Der Witwe, Hortensia Bussi de Allende, wurde daran gehindert, den Korps ihres Mannes anzusehen.

Ein anderer Terror-Akt signalisierte früh die subversiven Tendenzen gegen die verfassungsmäßigen Institutionen Chiles: Der Mord am Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General René Schneider, in den letzten Monaten der Regierung des christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei Montalva, also bevor Salvador Allende als neuer Präsident vom Congreso Nacional (Parlament) bestätigt wurde. Der Mord an General Schneider, der sich öffentlich immer wieder für den Respekt der Verfassung und Legalität äußerte, gleich welcher Präsident, gleich welche Partei an die Macht käme, war damals der erste Versuch (Oktober 1970), Salvador Allende zu verhindern, und zwar noch vor seinem Amtsantritt. Der gemeine Versuch misslang, gab aber früh zu erkennen, dass einigen Militärs nicht zu trauen war. In diesem Zusammenhang war das Vertrauen und die fehlende Vorsicht von Präsident Allende gegenüber der militärischen Institution ein tragischer Fehler.

Nicht einmal eine Vereinbarung zwischen den Christdemokraten und den Unidad-Popular-Kräften hätte den Putsch verhindern können. Die Entscheidung dafür war schon von übermächtigen nationalen wie internationalen Kräften getroffen worden. Bevor Salvador Allende die Macht übernahm, hatte die US-Regierung entschieden, "die chilenische Wirtschaft heulen zu lassen", wie der amerikanische Präsident Richard Nixon wörtlich vulgär sagte (United States Senate Document, 1975). Mitten im Jahr 1972 waren alle Dämonen gegen die Regierung Chiles losgelassen: Die politische Rechte, darunter Unternehmer, Bankiers, Großgrundbesitzer, Industrielle. Das zentrale Problem war für die Machthaber die kommunistische Partei, die sich damals anschickte, neben Cuba in einer weiteren Regierung Lateinamerikas eine wichtige Rolle zu spielen.

Es handelte sich nicht um ein chilenisches, sondern um ein weltweites Problem in der Perzeption der reichen Industriestaaten. Einerseits wollten diese Staaten unter Führung der USA kein zweites Kuba in Lateinamerika tolerieren. Andererseits hatte die internationale kommunistische Bewegung nach den Spielregeln dieser wohlhabenden Nationen keine demokratische Glaubwürdigkeit. Weder die US-Regierung noch die oppositionellen politischen Kräfte Chiles waren bereit, die großen Reformen der sozialistischen Regierung Chiles mitzutragen. Eine solche Regierung war auch nicht als Vorbild einer sozialistischen Regierung in Lateinamerika akzeptabel.

Deshalb war der Dialog mit den Christdemokraten von Anfang an unmöglich und zum Scheitern verurteilt. Das ungelöste Schlüssel-Problem für die chilenische Gesellschaft in den Jahren 1972 und 1973 war die Unzulässigkeit für die US-Regierung einer „zweiten marxistisch-leninistischen Regierung“ in Lateinamerika, wie im amerikanischen Jargon zu hören war. In diesen Jahren spielte das Land verrückt. Die größte Tageszeitung von Santiago, El Mercurio, rief dazu auf, "Wut zu sammeln"; ein neues Jakarta wurde angekündigt, der Begleiter (Edecán) des Präsidenten Allende wurde ermordet, täglich wurden fast zehn terroristische Akte verübt. Man probierte vergeblich verschiedene legale Ausflüchte, um den Präsidenten verfassungsmäßig anzuklagen. Vergebens auch, ihn als Wahnsinnigen, Betrunkenen oder Unfähigen zu zeigen, damit die Anklage durch eine einfache Mehrheit im Congreso Nacional (chilenisches Parlament) gebilligt werden könnte.

Die sogenannte Konsolidierung der Unidad Popular Regierung war sachlich unmöglich. Sie wurde in Gesprächen mit den Christdemokraten fruchtlos von Präsident Allende versucht. Das letzte Gespräch fand im Haus von Kardinal Raúl Silva Henríquez statt, der persönlich die Initiative dafür ergriff. Die Ergebnislosigkeit und das letztliche Scheitern des Dialogs wird verständlich, wenn man endlich die Tatsache ans Licht bringt, dass die Planung und Entscheidung für einen Putsch begannen, lange bevor Präsident Allende die Macht übernahm, viel früher als irgendein Punkt seines Programms politisch umgesetzt wurde. Unter vielen anderen Dokumenten bestätigt diese Tatsache der Church Bericht des US-Senats. Sowohl der Vorgänger Allendes, Präsident Eduardo Frei Montalva (Christdemokrat), wie der damalige US-Präsident Richard Nixon (Republikaner) hatten eine katastrophale Einschätzung der Regierung Allende, noch bevor diese Regierung ihre Arbeit aufnahm. Mit dieser Vision hatten weder Frei noch Nixon das Handeln der Unidad Popular-Regierung einfach gemacht. Frei erfasste den Scheideweg, den Veränderungsprozess, in den das Land mit der Wahl Allendes eintrat.

Man hätte die soziale und politische Einheit annehmen müssen, die damals 1970 der fortschrittliche Christdemokrat Radomiro Tomic dem Land anbot. Radomiro Tomic, in jenem Jahr Präsidentschaftskandidat und Vertreter des fortschrittlichen Flügels der Christdemokraten, war ebenso wie Allende entschlossen, das Wirtschaftssystem Chiles gründlich zu ändern zugunsten einer realen sozialen Marktwirtschaft. Er hatte die Idee einer Allianz zwischen Christdemokraten und der Unidad Popular und gerade auf dieses Ziel orientierte Tomic seine Wahlkampagne, allerdings ohne Erfolg.

Unbegreiflich bleibt, dass der ehemalige Präsident Eduardo Frei Montalva und andere intelligente Männer der chilenischen Christdemokratie damit rechneten, das Militär habe den Putsch ausgeführt, um ihnen kurz danach die Macht zu übergeben. Dieser dummen Illusion waren viele tonangebende Christdemokraten vollkommen verfallen. Eine andere Illusion verbreiteten die Anhänger von Pinochet, indem sie sich selbst als Befürworter einer freien Gesellschaft und Verteidiger der Demokratie definierten! Dennoch oder gerade deshalb erhielten die Pinochetisten während der Militärdiktatur entschiedene Unterstützung von der deutschen Christdemokratie in Bonn, besonders von der CSU, um dieses Märchen zu erzählen. Ein CSU-Professor aus Würzburg, namens Dieter Blumenwitz, engagierte sich sogar persönlich in der Redaktion der autoritären Verfassung der chilenischen Diktatur, vor allem was die undemokratischen Klauseln, die unter anderen den Ausschluss von großen Sektoren der chilenischen Gesellschaft betrifft und die Ernennung von General Augusto Pinochet als Senator auf Lebenszeit.

Mit finanzieller wie persönlicher Hilfe der CDU/CSU und ihren Stiftungen entstand damals die sogenannte autoritäre Verfassung der chilenischen Diktatur, die sogar heute immer noch ein großes Hindernis für die Demokratisierung des Landes darstellt. Dass deutsche Bundestagsparteien Sitze ihrer Stiftungen im Ausland finanzieren, auch in Santiago, die sich im demokratischen Kampf des Landes zu engagieren versuchten, ohne einen wahren Sinn und Begriff für Demokratie zu haben, ist bemerkenswert. Sie agierten in Santiago mit deutschen Steuermitteln, als hätten sie ein Mandat: In Chile mischten sie sich ein und verrieten dabei, wessen Geistes Kind sie wirklich sind. Ihr Einfluss hatte teilweise Erfolg: Pinochets Diktatur-Verfassung blieb bis heute fast vollständig erhalten. Die deutschen Christdemokraten waren interessiert, die mit ihrer Hilfe und Unterstützung geschaffte Verfassung von General Augusto Pinochet unreformierbar zu halten und lediglich den General als Führer zu ersetzen. Das diktatorielle System sollte bleiben, aber mit einer anderen Figur an der Spitze, dem Christdemokraten Patricio Aylwin,

Das einzige Mitglied des Deutschen Bundestages, das sich im wahren demokratischen Sinn für Chile einsetzte und das Problem der autoritären Verfassung erkannte, war Hildegard Hamm-Brücher. Mit tiefem demokratischen Verständnis sprach sie darüber im Deutschen Bundestag (29.9.1988) und betonte die Notwendigkeit, die Verfassungsreform durchzuführen. Realistisch sah Hildegard Hamm-Brücher voraus, dass Chile wegen der erforderlichen Veränderung der diktatoriellen Verfassung ein langer Weg der Demokratisierung bevorstand. Allerdings folgten die chilenischen Christdemokraten nicht dem Vorschlag ihrer deutschen CDU/CSU-Freunde, allein den Militärdiktator durch einen eigenen Kandidaten zu ersetzen.

Diese merkwürdige Haltung zu Demokratie, diese Neigung zu autoritären Systemen, zur Diktatur hat Wurzeln in Deutschland. Aber nicht in Chile, dessen Bevölkerung eine lange Praxis in der Ausübung von Demokratie und Freiheit hat und deren Toleranz und Offenheit die gesellschaftliche pluralistische Auseinandersetzung der Chilenen prägt.

Die Hauptparteien der Koalitionsregierung von Salvador Allende, die Sozialistische Partei und die Kommunistische Partei, waren keine neuen politischen Formationen, sondern hatten eine lange Praxis gemeinsamen politischen Handelns und eine tiefe Verwurzelung im chilenischen Volk. Es ist zudem wichtig, das dauerhafte politische Leben der Kommunistischen und der Sozialistischen Parteien zu berücksichtigen. Ihre ersten Aktivitäten gehen weit zurück auf 1900, als in den Siedlungen um die Salpeter-Minen das chilenische Proletariat entstand. 1912 formierte sich die Sozialistische Arbeitspartei, die 1921 nach der Dritten Internationale den Namen Kommunistische Partei Chiles annahm. Diese Tatsache ist relevant, da sich die Kommunistische Partei Chiles vor der sowjetischen Revolution formierte und ihr Ursprung grundsätzlich proletarisch war, nicht kleinbürgerlich. Die Sozialistische Partei wurde 1933 gegründet. Kurz: Die chilenischen Linksparteien hatten schon 1970, als sie die Macht demokratisch eroberten, Tradition, Solidität und Legitimität, was die Wahrscheinlichkeit von Erfolg steigerte. Christliche Sektoren, die sich selbst als sozialistisch bezeichneten, schlossen sich während Allendes Zeit der Regierungskoalition an.


Vor Weltanschauungen haben Chilenen sich nie gefürchtet. Gerade diese hochentwickelte politische Kultur Chiles ermöglichte die Verstaatlichung der Kupfer-Minen, eine Initiative des Präsidenten Salvador Allende, die im Parlament von Santiago im Interesse des Landes zusammen mit den Stimmen der Konservativen, Sozialisten und Kommunisten einhellig gebilligt wurde.

Wie in vielen anderen Ländern, die die Demokratie dank der Stimmen der Kommunisten wieder erreichen konnten, geschah es auch in Chile: Nach der langen Militärdiktatur (1973-1990) konnte der christdemokratische Präsident Patricio Aylwin die Macht im März 1990 erst mit den Stimmen der breiten Linken einschließlich der Kommunisten gewinnen. Die Brutalität, die das militärische Regime über Chile brachte, war ohne Präzedenz und dem Land fremd. Gott sei Dank konnte sie trotz allen Unheils die über Jahrzehnte geprägte Offenheit und politische Kultur der Chilenen nicht völlig zerstören. Es war diese Toleranz und politische Bildung, die in Chile den Übergang von einer Militärdiktatur in Richtung einer erneuten Demokratie ohne Blutvergießen trotz aller Schwierigkeiten und trotz aller ideologischen Betonköpfe ermöglichte.

Patricio Aylwin, damals Präsidentschaftskandidat, zusammen mit der demokratischen Allianz oder Concertación para la Democracia denunzierte die Verfassung Pinochets als ungeeignetes Instrument für die Demokratisierung des Landes und reklamierte öffentlich die notwendigen Veränderungen, ohne die ein demokratisches System in Chile unmöglich gewesen wäre. Die ersten Reformen fanden während seiner Präsidentschaft statt (1990-1994). Die lange demokratische Tradition Chiles ist heute trotz allem wieder zu erkennen: Der Übergang zur Demokratie trotz der Spannungen war und bleibt immer noch ein friedlicher Prozess. Der alltägliche Umgang miteinander ist eher von Toleranz gekennzeichnet. Eine Gabe, um die viele Länder die Chilenen beneiden können, die beste Voraussetzung für die gegenwärtige Aufgabe aller Chilenen, die Geschichte anzunehmen, um die Zukunft gemeinsam aufzubauen.

Jetzt ist Chile in einer stabilen Demokratie angekommen. Nach den post-diktatoriellen Präsidenten, zum Schluss Ricardo Lagos und Michelle Bachelet, ist im vergangenen Januar ein Vertreter des rechten Lagers, ein Industrieller, zum Präsidenten gewählt worden, ohne dass es zu Unruhen kam. Morgen hat die Sozialistin Michelle Bachelet die besten Chancen, wieder Präsidentin zu werden. Sie hat großen Rückhalt in der ganzen Bevölkerung, konnte aber aus Verfassungsgründen nicht gleich nach ihrer Amtszeit wieder zur Wahl antreten.

Im letzten Jahrzehnt war die Aufklärung der Streitkräfte in vollem Gang. Der Verrat ist anerkannt worden. Weitere Aufklärung muss innerhalb der rechten politischen Parteien erfolgen, vor allem innerhalb der Christdemokraten.

Über alle Geschehnisse erhebt sich - heute stärker als zuvor - die besonnene anziehende Persönlichkeit des großen Demokraten Präsident Salvador Allende. Vorbildlich für alle Politiker in der ganzen Welt war seine authentische Art, Politik zu betreiben. Seine prägnanten Worte beinhalten eine große Hoffnung, eine große Vision, das unsterbliche sozialistische Ideal, wie der Präsident Salvador Allende während der Bombardierungen um ihn herum im Präsidentenpalast in seiner letzten dramatischen Rede über Radio Magallanes prophezeite (11.9.1973):

… Die Geschichte wird sie (die Verräter) beurteilen und bestrafen. Immer werde ich bei Euch (Arbeiter meines Vaterlands) sein. Meine Erinnerung wird diejenige eines würdigen Mannes sein, der zur Sache der Arbeiter immer loyal war. Eher früher als spät, werden sich die großen Alleen wieder öffnen, damit der freie Mensch in ihnen gehen kann, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen. ...

Seine große Selbstbeherrschung und politisches Selbstbewusstsein erklären, wie Präsident Allende diese anrührende Rede halten konnte, völlig improvisiert, die aus seiner tiefen Seele entsprang. Niemals wurde die Rede eines Chilenen in so viele Sprachen übersetzt wie diese. Noch hat sie eine so große Zahl von Malern, Dichtern und Komponisten aller Sprachen inspiriert.


Luz María de Stéfano de Lenkait ist chilenische Rechtsanwältin und Diplomatin (a.D.). Sie war jüngstes Mitglied im Außenministerium und wurde unter der Militärdiktatur aus dem Auswärtigen Dienst entlassen.

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