Klassenkampf am Ofen

Die Autoglas-Fabrik Vivex ist seit knapp zwei Jahren besetzt

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Arbeiter in der Vivex-Fabrik
Arbeiter in der Vivex-Fabrik

Der dicke schwarze Staub ist überall. Er bedeckt den Boden, hat Stühle und Bänke fest im Griff und natürlich auch die Maschinen in der Werkhalle. Dazwischen stehen Windschutzscheiben. Ebenfalls verstaubt. Auf einigen sind antikapitalistische Parolen, auf anderen die Namen von Marx und Chávez gekritzelt. Zwischen dem ganzen Staub der Autoglasfabrik Vivex in Barcelona im Osten Venezuelas hängen Wäscheleinen. In den Hallen wohnen einige Arbeiter. Reihum sorgen sie dafür, dass die Fabrik nie verlassen ist.

Vivex ist seit fast zwei Jahren besetzt, deswegen der viele Staub. Dabei werden die Scheiben von Vivex gebraucht. In einem Land mit so vielen Autos auf oft so schlechten Straßen wie in Venezuela schlägt schnell mal ein Stein die Frontscheibe kaputt. Die Scheiben von Vivex sind von guter Qualität, besser als die billigen Alternativen aus Korea oder China, die ansonsten eingesetzt würden, versichern die Arbeiter. Derzeit aber haben sie wenig zu tun, weil der Status der Fabrik unklar ist. Die Arbeiter befinden sich im Rechtsstreit mit dem Fabrikbesitzer. Der weigerte sich, mehr als ein Drittel des Jahresgehalts zu zahlen.

Das war im Dezember 2008. Seitdem halten die Arbeiter die Fabrik besetzt. Besetzung heißt für die Arbeiter derzeit vor allem Warten. Sie sitzen vor der Fabrikhalle und diskutieren die politische Situation, aber auch die vielen persönlichen Probleme, die eine Fabrik, die kaum Löhne zahlen kann, notwendigerweise mit sich bringt. Da kommt es drei der Arbeiter gerade recht, dass vor dem Tor ein Mitsubishi mit Steinschlag die relative Ruhe unterbricht. Luis Pera und zwei seiner Kollegen, die momentan für die Besetzung zuständig sind, machen sich ans Werk. Alte Scheibe rauslösen, neue Scheibe vorbereiten und einbauen.

Das geht ganz professionell und eine Stunde später sieht der gut gepflegte Wagen wieder fast aus wie neu. Nur wer genau hinschaut sieht, dass die Besetzer am Werk waren. Links unten an der Scheibe prangt unscheinbar das neue Logo von Vivex, das die Arbeiter selbst entworfen haben. Denn seit Februar helfen sie nicht nur mal dann und wann beim Wechseln kaputter Frontscheiben, sie haben auch die Produktion wieder aufgenommen. Zumindest ein wenig, denn derzeit fehlen die Abnehmer. Kapitalistische Autobauer kaufen nicht gern von Besetzern.

Etwa 120 bis 150 Frontscheiben produzieren sie im Monat, erklärt Paolo Cumana von der Betriebsgewerkschaft Sutra-Vivex. Er und seine radikalen Kollegen sind der Hauptgrund dafür, warum der Kapitalist die Löhne drücken und gleichzeitig den radikalen Teil der Belegschaft entlassen wollte, erzählt Cumana, bevor er gemeinsam mit seinen Kollegen zur Werksführung einlädt. Der Fabrikbesitzer habe das Werk künstlich in die roten Zahlen gerechnet. “Viele der Scheiben, die wir produziert haben, hat er offiziell anderen Werken zugeschrieben.”

Diese Werke gebe es indes nicht, sie existierten nur auf dem Papier, lautet der Vorwurf der Kollegen. So konnte der Besitzer Gewinne vertuschen und Subventionen kassieren. Ein Gericht hat den Arbeitern kürzlich recht gegeben, aber ihr Gegenspieler ist in Berufung gegangen. Der Kampf geht weiter. “Wir haben noch viele Scheiben im Lager, die vor der Besetzung produziert wurden”, sagt Cumana. “Wenn wir unser Geld nicht bekommen, dann verkaufen wir diese und zahlen daraus den ausstehenden Lohn.”

Und dabei soll es nicht bleiben. Die Arbeiter wollen wieder richtig ans Werk. Schließlich könnten neben den Frontscheiben auch Heckund Seitenscheiben produziert werden. In der Halle steht eine moderne Maschine zum Zuschneiden sowie ein großer Ofen – genannt “Drache”, weil er nicht nur so aussieht, sondern auch die Scheiben ebenso schnell “verschluckt “ wie wieder fertig “ausspeit”. Beide Maschinen sind auf Akkordbetrieb angelegt. Die 30 Arbeiter, die derzeit in der Kooperative zusammengeschlossen sind, sind dafür zu wenige, sie können nur Frontscheiben herstellen. Und auch damit gibt es Probleme, erläutern Cumana und Pera, während sie durch die Fabrik führen.

Zunächst werden die Scheiben für die jeweiligen Modelle – Vivex produziert für Toyota, Mitsubishi, Fordund General Motors – zurecht geschnitten. Dann kommt ein schwarzes Bindemittel an die Ränder, an denen später die Scheibe festgeklebt wird. Dann wartet der Ofen. Dort bekommen die Scheiben die notwendige Krümmung. Wenn der Ofen denn funktioniert. Das aber tut er derzeit nicht. Der moderne Ofen mit Computer-Steuerung wurde Teil des Klassenkampfes.

Ein eingeschleuster Arbeiter hat ihn manipuliert. Cumana erzählt davon, als wäre das völlig normal. Die Arbeiter haben sich damit abgefunden, dass ihre Gegner mit allen Mitteln arbeiten. Deswegen erhebt der 36-Jährige die Stimme nur kurz und berichtet: “In einer Schicht im Juni haben wir mit sechs Leuten gearbeitet, fünf kannten wir gut, einen weniger. “ Genau dieser saß am Steuerungspult des Ofens. Dann war er weg, der Ofen funktionierte nicht mehr. Er war offenkundig eingeschleust worden und hatte die Software manipuliert. “Er ist nie wieder aufgetaucht.”

Immerhin gibt es gleich nebenan einen weiteren Ofen. Einen alten. “Der schafft viel weniger”, erklärt Pera. “Und wir brauchen mehr Arbeiter.” Im gleichen Atemzug berichtet er von einer angenehmen Erfahrung: der Solidarität unter den Arbeitern. Gemeinsam mit Kollegen des benachbarten Werk von Mitsubishi, das im vergangenen Jahr auch für einige Monate besetzt war, versucht die Vivex-Kooperative, die Software wieder zum Laufen zu bekommen. Einen anderen Teil der Produktionskette haben sie so wieder in Betrieb nehmen können. Der letzte Kontrollmechanismus, eine Vakuumkammer, war ebenfalls verstellt worden.

Hier werden die Scheiben das letzte Mal auf Mängel untersucht, die im Produktionsprozess entstanden sind. Schließlich ist es mit der Biegung der Scheiben noch nicht getan. Windschutzscheiben bestehen aus zwei quasi baugleichen zusammengepressten Glasscheiben. Dazwischen liegt eine Folie, die bei Steinschlag verhindert, dass die Frontscheibe zerbricht und Fahrer und Beifahrer verletzt. Dass die Produkte der Arbeiter um Pera und Cumana einwandfrei sind, zeigt die Kontrolle am Spiegel und dann eben in der Vakuumkammer, für deren Reparatur sich die Besetzer wieder auf die Solidarität der Kollegen von Mitsubishi verlassen konnten. Sie mussten aber auch einen auswärtigen Ingenieur beauftragen, dessen Honorar der Kasse der Kooperative ein dickes Minus bescherte.

Eines wird beim Rundgang durch die Fabrik klar: Die Arbeiter halten die Fabrik nicht einfach nur besetzt, um ihr Geld zu bekommen. Sie wollen mehr. Nicht zuletzt deshalb haben sie sich in den vergangenen Jahren die Produktionskompetenz angeeignet. Auf Kapitalisten oder leitende Angestellte können sie verzichten. Wie andere mit ihnen in der Revolutionären
Vereinigung der besetzten Betriebe und Betriebe unter Mitbestimmung (Freteco) zusammengeschlossene Arbeiter haben sie durch ihre konkrete Praxis dabei ihr revolutionäres Bewusstsein gestärkt, meint Cumana.

Schon deshalb ist die Zusammenarbeit mit den Kommunen, die für ihre lokalen Transportkooperativen Ersatzscheiben bei Vivex ordern, ein wichtiger Teil im Gesamtkonzept von Vivex. Ein weiterer ist die Verankerung in der eigenen Gemeinde. Denn mit den umliegenden Consejos Comunales der Zona Industrial Los Montones in Barcelona, also den Räten der Selbstorganisation der Basis, besteht eine enge Verbindung. Wenn sich die 21 Consejos jetzt zu einer sozialistischen Kommune zusammenschließen, sind die Vivex-Arbeiter mit dabei. Jüngst haben sie eine Schule wieder mit aufgebaut. Ihr Speisesaal dient den Aktivisten der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas ebenso als Versammlungsraum wie Gewerkschaftern.

Und ein weiteres großes Ziel darf nicht fehlen. Cumana: “Wir wollen gemeinsam mit den Arbeitern eine Zweigstelle der bolivarischen Universität errichten.” Bildung sei schließlich das Kernelement beim Aufbau des Sozialismus. Die Arbeiter um Luis Pera und Paolo Cumana wissen, dass sie hier ein Beispiel von neuer, solidarischer Produktion ausprobieren. Sie wissen, dass genau deshalb das Kapital alles versucht, die Arbeit zu sabotieren. Und sie wissen auch, dass noch ein langer Weg zu gehen ist. Auch damit der Drache wieder richtig läuft und der Staub in der Werkhalle wieder förmlich vom Schweiß der harten (und heißen) Arbeit weggewischt wird.


Zuerst erschienen am 26. November 2010 in der Tageszeitung „Neues Deutschland“