Der TIPNIS-Konflikt

In Bolivien protestieren indigene Gruppen gegen ein Infrastrukturprojekt der Regierung

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Eingang zum TIPNIS-Nationalpark
Eingang zum TIPNIS-Nationalpark

Seit über 20 Tagen marschieren indigene und überregionale Verbände von Trinidad zur Regierungshauptstadt La Paz, um gegen den geplanten Bau einer Verbindungsstraße zwischen Villa Tunari und San Ignacio de Moxos zu protestieren. Es geht um eine Straße, die mitten durch den als indigenes Territorium anerkannten Nationalpark Isiboro Secure (TIPNIS) führen soll. Der Protestmarsch wird hauptsächlich vom Verband der indigenen Tieflandbevölkerung CIDOB und vom Verband der Hochland-Indigenen CONAMAQ angeführt.

Auch die Versammlung des Volkes der Guaraní (APG) organisiert den Protest mit, obwohl in dem TIPNIS Gebiet Yuracaré, Moxeño und Chimán leben, die von diesem Verband nicht repräsentiert werden. Nicht nur in Bolivien, auch international wurde der Eindruck geweckt, die Indigenen Boliviens würden sich zumindest in diesem Punkt geschlossen gegen den Präsidenten Evo Morales stellen. Das internationale Medienecho war und ist wohl auch deshalb so groß, weil der aktuelle Protest ideal dafür geeignet ist, die zwei Haupteigenschaften, für die Evo Morales bekannt ist und die ihn so beliebt gemacht haben, auseinander zu nehmen.

Zum Einen wird der Protest als "Indigene gegen den ersten indigenen Präsidenten Boliviens" dargestellt - also als Moment, in dem der Präsident seine Basis verliert. Zum Anderen wird Evo Morales, der wohl am meisten für sein Engagement für den Umweltschutz bekannt ist, wegen dem Bauvorhaben als Umweltzerstörer schlechthin empfunden. Der aktuelle Protest ist also ideal geeignet, um ihn als Kämpfer für die Indigenen sowie als Naturschützer unglaubwürdig zu machen.

Die Realität ist aber nicht ganz so schwarz-weiß und wird zumindest innerhalb Boliviens, nach knapp einmonatiger öffentlicher Debatte, auch wieder etwas reflektierter wahrgenommen. Die Fronten haben sich, wie häufig behauptet, nicht verhärtet. Der Dialog zwischen Regierung und TIPNIS Bewohnern läuft anders als medial dargestellt in vollem Gange und trägt bereits Früchte. Das einige Gegner des Bauvorhabens den Dialog stur ablehnen, und warum gerade diese medial überrepräsentiert werden, hat Gründe, die es zu analysieren gilt. Zuerst muss erklärt werden: Worum geht es bei dem Bauvorhaben, was sind die Argumentationen für und gegen das Projekt und wie steht es um den Protest?

Das Bauvorhaben

Es geht um die Konstruktion einer Straße, die das Tiefland-Departement Beni mit dem Hochland-Department Cochabamba verbinden soll und dabei durch das indigene Territorium TIPNIS verlaufen würde. Die Pläne für diesen Straßenbau liegen seit über 20 Jahren in den Schubladen der verschiedenen Regierungen Boliviens, sind bisher aber aus finanziellen Gründen nie umgesetzt worden.
Bereits 1765 wurden in Expeditionen erstmals Möglichkeiten gesucht, einen sicheren Verbindungsweg durch das Gebiet bauen zu können.

Die Notwendigkeit eines Verbindungsweges zwischen Chapare und Moxos wurde dann mit dem Republikgesetz von 1826 zur nationalen Verpflichtung erklärt. Ein Regierungswechsel rückte das Projekt aber wieder in den Hintergrund. Die Pläne sind also nicht neu und man kann davon ausgehen, dass wenn die aktuelle Regierung das Projekt nicht umsetzt, wird es eine zukünftige tun. Hinter dem Bauvorhaben stehen heute auch brasilianische Interessen, weshalb die Entwicklungsbank Brasiliens auch besonders zinsgünstige Kredite für den Bau der Straße zur Verfügung stellt. Die Straße wird Brasilien helfen, ihre Exportwaren günstig an den Pazifischen Ozean zu transportieren. Dieses brasilianische Interesse macht viele Bolivianer skeptisch, die Opposition schürt offen Vorurteile gegenüber einem "brasilianischen Imperialismus".

Der in Bolivien und Lateinamerika weit verbreitete Anti-Imperialismus, der sich meist gegen die USA und Europa richtet, soll hier gegen die wirtschaftliche Übermacht Brasilien genutzt werden. Hinter dem Bauplan der Verbindungsstraße stehen aber nach wie vor in erster Linie bolivianische Interessen - nicht nur wirtschaftliche sondern auch soziale. Die neue Verfassung garantiert allen Bolivianern neben dem Zugang zu Trinkwasser, Bildung und Gesundheitswesen auch gleiche soziale Teilhabe. Vor diesem Hintergrund verspricht die aktuelle Regierung, die Integration aller Bolivianer voranzutreiben.

Durch Investitionen in Höhe von 100 Millionen US-Dollar soll beispielsweise der Wasserzugang der mehr als zehn Millionen Bolivianer sichergestellt werden. Mit weiteren 1.807 Millionen US-Dollar allein im Jahr 2010 wurde die Konstruktion von 12.000 km Asphaltstraße realisiert. Der Aufbau eines Straßennetzes soll neben dem wirtschaftlichen Aufschwung vor allem die Integration der Regionen vorantreiben und die Umsetzung der Rechte auf Trinkwasser, Bildung, Gesundheit und Teilhabe unterstützen.

Andere Maßnahmen wie der flächendeckende Bau von Schulen und Krankenhäusern, aber auch die Konstruktion des ersten bolivianischen Satelliten sollen die weiteren verschiedenen Versorgungs- und Integrationslücken schließen. In dem Naturschutzpark TIPNIS wohnen rund 6000 Menschen, die von den neu garantierten Rechten noch mehr oder weniger ausgeschlossen sind. Nachdem sich selbst zum Höhepunkt der Proteste nur 23 Kommunen des TIPNIS gegen den Bau aussprachen, setzen sich seit vergangenem Wochenende 49 der 64 Kommunen für den Bau der Verbindungsstraße ein.

Die Verbindungsstraße soll aber nicht nur der Bevölkerung des Naturschutzgebietes zugute kommen, sie soll auch die Integration zwischen Ost und West, Hochland und Tiefland vorantreiben, die immer noch ein großes Problem darstellt.

Die Argumentationen

Viele Bolivianer haben Anfangs befürchtet, die Verbindungsstraße würde das Naturschutzgebiet, dessen Einwohner sowie dessen Ökosystem empfindlich stören. Das Vorhaben, die Straße mitten durch das Naturschutzgebiet verlaufen zu lassen, hat international für Empörung gesorgt. Wie vermutlich auch andere Umweltverbände in anderen Ländern startete beispielsweise der "Rettet Den Regenwald e.V." online eine Petition gegen das Vorhaben, die Berichterstattung übernahm unreflektiert die Sicht der Straßen-Gegner, die jetzt mehr denn je eine Minderheit ausmachen, und lange Zeit wurde über kaum ein anderes Thema aus Bolivien berichtet. Dieser Trend hat sich außerhalb von Bolivien fortgesetzt während er sich in Bolivien derzeit einem Wandel unterzieht.

Die Hauptargumente der Gegner des Straßenbaus lauten wie folgt:

  • Die Straße würde die illegalen Abholzung in dem Naturschutzgebiet vervielfachen und somit das Ökosystem stören.
  • Am Rande und Nahe der Straße würden sich Siedlungen niederlassen, worunter wiederum die Flora und Fauna empfindlich leiden würde.
  • Der Drogenschmuggel an der Grenze zu Brasilien würde florieren.

Was außerhalb Boliviens nicht zur Kenntnis genommen wurde ist, dass in den letzten Wochen eben diese Hauptargumente gründlich debattiert wurden.
So argumentiert die Regierung auf die Punkte folgendermaßen:

  • Die Straße wird die illegale Abholzung nicht unterstützen, sondern sie ist die einzige Möglichkeit, diese effektiv zu Bekämpfen. Ein Gutachten der bolivianischen Behörde für Straßenbau geht davon aus, dass der Bau der Straße die illegale Abholzung jährlich um maximal 0,03 Prozent begünstigen würde.
  • Spezialeinheiten der Polizei könnten so erstmals schnell in den Park eindringen, nachdem illegale Abholzungen durch Luftaufnahmen aufgespürt würden.
    Ein entsprechendes Gesetz wird die Ansiedlung neben und nahe der Straße verbieten. Darüber hinaus garantiert die Regierung, jeden Baum, der wegen dem Bau der Straße gefällt werden muss, daneben wieder anzupflanzen.
  • Jedes Fahrzeug, dass über die Straße Bolivien verlässt oder betritt soll kontrolliert werden. Mit der Straße würde die Kontrolle an der Grenze zu Brasilien ausgebaut und vereinfacht werden.

Dass die Straße nach wie vor durch den Naturpark anstatt außen herum gebaut werden soll, wie häufig von Naturverbänden international gefordert wurde, liegt daran, dass es entlang des Naturparks keine Möglichkeit zum Bau gibt. Westlich des Parks besteht der Boden aus losen Steinschichten und großen Felswänden, die eine Umleitung der Straße in diese Gegend unmöglich machen. Östlich endet der Park in einem Sumpfgebiet, das auch hier den Bau unmöglich macht.
Die Regierung hat aber angekündigt, dass es innerhalb des Parks etliche Möglichkeiten gibt, wie die Straße verlaufen könnte. Hier hat die Regierung ihre Bereitschaft erklärt, auf die Vorschläge der Gemeinden einzugehen. Es solle auf jeden Fall verhindert werden, dass eine Gemeinde durch die Straße getrennt wird. Auch Lebensräume von bedrohten Tierarten sollen weiträumig umgangen werden und so unangetastet bleiben.

Vizepräsident Alvaro Garcia Linera betonte am vergangenen Wochenende, man müsse in der Diskussion um den Straßenbau erst einmal „die Vorurteile“ weglassen. Es handle sich um eine Straße, die durch einen speziellen Wald führen soll. Man könne einen Wald aber nicht nur mit Straße zerstören, man könne einen Wald auch ohne Straße zerstören. Andersherum könne man einen Wald nicht nur ohne Straße bewahren sondern eben auch mit Straße. Der Bau der Straße, wenn richtig gemacht, könne zum Schutz des Gebietes beitragen. Eine negative Auswirkung könne dann unter Garantie verhindert werden. Deshalb sei der Dialog und die Debatte wichtig, damit der Bau eben richtig gemacht wird und alle berücksichtigt.

Der Protest

Nachdem die eben genannten Argumentationen die Debatten der letzten Wochen bestimmt haben, hat sich die öffentliche Meinung der Bolivianer zugunsten des Straßenbaus geändert. Der wirtschaftliche Nutzen und die Garantien der Regierung, die Straße würde weder das Naturschutzgebiet noch die Lebensweise der indigenen TIPNIS-Bewohner stören, hat nach einem Monat der Diskussion eine Meinungsänderung herbeigeführt.

Laut Umfrage der größten und eher regierungskritischen bolivianischen Tageszeitung La Razón sprechen sich 77,11 Prozent für das Bauvorhaben aus. Inzwischen veröffentlichten über 350 Indigenen-Verbände, Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen Resolutionen, die sich offen für den Bau der Straße aussprechen.Am vergangenen Wochenende gingen in Cochabamba tausende Menschen für das Bauvorhaben auf die Straße.

Von den ursprünglich 600 erwarteten Teilnehmern an dem Marsch gegen die Straße nehmen zur Zeit doch nur einige Hundert teil, rund 50 Organisationen sagten ihre Teilhabe ab. Hinter dem Vorhaben stehen 49 der 64 im TIPNIS lebenden Gemeinden. Mit den restlichen 15 Gemeinden will die bolivianische Regierung den Dialog fortsetzen. Am vergangenen Donnerstag wurden 10 Verhandlungstische mit den jeweiligen Gemeinden eingerichtet.

Der Dialog mit CIDOB und CONAMAQ kommt allerdings nicht voran, wobei diese auch nicht unbedingt die Bewohner des TIPNIS repräsentieren. Ihre erste Forderung, die Regierung solle zehn ihrer Minister zu dem Protestmarsch schicken, wurde von der Regierung direkt akzeptiert. Schon vorher machten sich zwei Minister auf den Weg zum Protestmarsch um direkt mit den Protestlern zu reden.

Die Verbände lehnten dann überraschend den Dialog mit den Ministern ab und erklärten sich ausschließlich zum Dialog mit dem Präsidenten persönlich bereit. Bisher hat der Präsident diese Art von Forderungen immer abgelehnt und darauf bestanden, Konflikte müssten zuerst auf ministerialer Ebene diskutiert werden.
Diesmal aber stellte Evo Morales auch sein persönliches Erscheinen bei dem Protestmarsch in Aussicht. Daraufhin lehnten die beiden Verbände auch dies überraschend ab. Nachdem die Regierung bereits sechs hochrangige Kommissionen nach Santa Cruz, Trinidad, San Ignacio de Moxos, Puerto San Borja und San Borja schickte, machte sich Mitte dieser Woche die siebte Kommision der Regierung auf den Weg zu den Protestlern. Diese Kommission begleitet jetzt zusaetzlich der Außenminister, womit jetzt insgesamt 50 Prozent des Regierungskabinetts mobilisiert wurden.

Nachdem es Anfangs so aussah, die Regierung würde sich stur für den Bau einsetzen und nicht auf den Dialog setzen, fragen sich nun viele Bolivianer, warum die den Protest anführenden Verbände nicht auf die wiederholte Dialogbereitschaft der Regierung eingehen wollen. Während die Regierung in der öffentlichen Debatte des letzten Monats immer neue Argumente für den Bau sowie ihre Bereitschaft zum Dialog erklärt hat, erheben CIDOB und CONAMAQ immer neue Forderungen. Nachdem sich immer mehr Verbände von in dem TIPNIS Gebiet lebenden Indigenen für den Bau aussprechen, fragen sich viele Bolivianer, warum sich CIDOB und CONAMAQ eigentlich zu den Anführern des Protest erklären?

Kritiker der Proteste führen die Vorgehensweise der beiden Verbände auf politische Verbindungen zurück, die weder umweltpolitische noch indigene Interessen tangieren. So hält CIDOB enge Kontakte zur US-Botschaft und entwickelt Projekte mit USAID. Dieser Umstand alleine stimmte erst wenige misstrauisch. Dass die USAID dann aber acht Millionen US-Dollar an CIDOB zahlte, beweist für viele den Vorwurf der Käuflichkeit.

CONAMAQ, so Analysten, habe sich Ex-Diktator und späteren Präsident Hugo Bánzer (1997-2002) regelrecht “untergeordnet” und die bisherige neoliberale Regierung auch nur nur selten kritisiert. Gegen die Regierung Morales bringt der Verband jedoch regelmäßig Klagen vor: So kritisierte CONAMAQ im Juni zuletzt ein neues Agrargesetz, dass den Großgrundbesitz einschränken sollte und das die Regierung als Gesetz zum Schutz vor genmanipuliertem Saatgut erklärte. CONAMAQ aber erklärte, dieses Gesetz öffne dem genmanipuliertem Saatgut Tür und Tor. Eine Argumentation, mit der CONAMAQ damals nur wenige gegen das Gesetz mobilisieren konnte.

Die Debatte in Bolivien ist eben nicht so schwarz-weiß wie medial häufig dargestellt. Häufig wurde von einer Spaltung des linken Lagers in Bolivien berichtet. In Wahrheit gibt es in Bolivien eine deutlich größere Zustimmung zum Projekt, als es Projektgegner gibt. Dass dies nur innerhalb von Bolivien gilt, liegt wohl daran, dass hier in den letzten Wochen eine öffentliche Debatte geführt wurde, die international nicht stattgefunden hat. Auch wurde behauptet, "die Indigenen" würden sich gegen ihren ersten indigenen Präsidenten stellen.

Dass ein großer Teil der indigenen Völker weiter hinter Evo Morales und seiner Regierung stehen, sah man am vergangenen Montag, als Boliviens größter Indigenen Verband Bartolina Sisa der Ermordung seiner Namensgeberin vor 229 Jahren gedachte und den Präsidenten, den Vizepräsidenten sowie einige Minister einlud. Auf der Großveranstaltung wurde von der Verbandsspitze die Bedeutung von Evo Morales als erstem indigenen Präsidenten Boliviens betont.