Nicaragua / Politik

"Der Mann arbeitet gut"

Daniel Ortega ist zwar als Linker unglaubwürdig, aber seine politischen Erfolge sind nicht von der Hand zu weisen

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Daniel Ortega bei einer Pressekonferenz im Präsidentenpalast in Ecuador (Juni 2008)
Daniel Ortega bei einer Pressekonferenz im Präsidentenpalast in Ecuador (Juni 2008)

"Er wird die Wahlen im November gewinnen, und dafür gibt es gute Gründe." Julio Zúniga ist Kleinunternehmer. Er hat einen Autowaschdienst eröffnet, später kam ein Reifendienst und eine Werkstatt hinzu. Heute lässt Rodriguez keinen Zweifel an seiner Unterstützung für die Regierung Daniel Ortegas, des einstigen Comandante der Revolution, der seit 2007 das Land wieder regiert. Ende Juli sah eine Umfrage der rechten Tageszeitung La Prensa Ortega bei 58 Prozent, während der Radiounternehmer Fabio Gadea mit 17 Prozent als stärkster Kandidat der Rechten chancenlos abgeschlagen war. Sollten sich diese Prognosen heute bewahrheiten, läge Ortega ca. 20 Prozentpunkte über seinem Ergebnis von 2006.

Dass seine Kandidatur für diese Wahl überhaupt möglich wurde, verdankt er einem der vielen juristischen und politischen Winkelzüge, die die FSLN seit der Regierungsübernahme vollzogen hat: Nachdem er im Parlament keine Mehrheit für eine Verfassungsänderung mobilisieren konnte, die ihm eine dritte Amtsperiode ermöglicht hätte, zog er kurzerhand den Obersten Gerichtshof heran, der wie alle wichtigen staatlichen Institutionen von der FSLN kontrolliert wird. Dieser erklärte den betreffenden Verfassungsartikel für ungültig. Die Opposition stand vor der Zwickmühle, das falsche Spiel durch Teilnahme an der Wahl zu legitimieren oder aus dem politischen Geschehen zu verschwinden.

Aber diese Taktiererei meint der Automann Julio Zúniga nicht, wenn er von guten Gründen dafür spricht, dass Ortega die Wahlen gewinnen wird. Ortegas Politik ist auch inhaltlich attraktiver als die seiner Gegner. Die Kooperation mit den ALBA-Ländern ermöglicht Ortega einen finanziellen Spielraum von jährlich geschätzten 500 Mio. US-Dollar außerhalb des 1,4 Mrd US-Dollar umfassenden Staatshaushalts, aus dem soziale Programme finanziert werden. Dass den rechten Kandidaten dafür der Wille fehle, mag Propaganda der FSLN sein. Dass ihnen dafür die finanziellen Möglichkeiten fehlen, ist Realität.

Das rechte Lager hat sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen können und tritt mit vier verschiedenen Kandidaten an, denen derzeit nicht einmal die Chance eingeräumt wird, auch nur in eine Stichwahl gegen Ortega zu gelangen. Überdies sind die Kandidaten der Rechten gegen die Übermacht der FSLN-Propaganda, die sich schamlos der staatlichen Institutionen bedient, kaum noch wahrzunehmen. Ortegas Wahlwerbung findet sich in Gesundheitsposten, Postämtern und auf Müllautos.

Die Stärke Ortegas liegt aber nicht nur in der Schwäche der Rechten. Ungeachtet seines schwerwiegenden und augenfälligen Machtmissbrauchs anerkennen fast alle Nicaraguaner die Verdienste der Regierung in den letzten Jahren. "Der Mann arbeitet gut", meint Francisco Cruz, Kleinbauer im Departamento Matagalpa. Cruz hat sich von Parteipolitik stets fern gehalten und ist in der Basisbewegung Movimiento Comunal organisiert. In seiner Gemeinde sind in Ortegas Amtszeit zwei neue Schulen entstanden, die Landstraße wurde verbreitert und asphaltiert, die bedürftigsten Familien haben Wellblech für ihre Dächer geschenkt bekommen und viele Frauen erhielten den berühmten bono productivo, ein Förderpaket zur Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Freiwillige der Sandinistischen Jugend leisten Erwachsenenbildung für die teils erst kürzlich alphabetisierten Bauern. Angesichts dieser sehr konkreten Fortschritte tritt für Cruz der Zweifel an Ortegas demokratischer Redlichkeit in den Hintergrund.

Die Liste der Verbesserungen lässt sich fortsetzen: Die Energieversorgungskrise, die das Land vor Ortegas Amtsantritt lähmte, konnte mit dem Beitritt zum ALBA-Bündnis schnell überwunden werden. Darüber hinaus hat sich das Land durch eine Vielzahl sozialer Programme verändert. Einige davon haben eindeutig assistenzialistischen Charakter: Casas para el Pueblo ist ein Wohnungsbauprogramm, Calles para el Pueblo baut Straßen in benachteiligten Vierteln an den Stadträndern, beim erwähnten Plan Techo bekommen bedürftige Familien neues Wellblech für ihre Dächer geschenkt und das Programa Amor kümmert sich um Straßenkinder in den Städten. Bei anderen geht es um eine Dynamisierung der Wirtschaft in den untersten Einkommensbereichen: Usura Cero (Null Wucher) unterstützt mit Mikrokrediten Frauen bei der Gründung von Kleinstunternehmen, der Bono de Patio (Hof-Bonus) soll landlosen Familien dazu verhelfen, mit Garten und Kleintierzucht zusätzliches Einkommen zu erzeugen.

Die meisten dieser Programme werden aus den ALBA-Mitteln finanziert – ohne Kontrolle des Parlamentes. Die am häufigsten geäußerte Kritik besteht in der parteilichen Auswahl der Begünstigten. Auch wenn die FSLN dies stets dementiert, kommt hier traditioneller caudillismo zum Ausdruck: Ein populistischer Führer begünstigt seine eigenen Gefolgsleute. Trotzdem haben die sozialen Programme bewirkt, dass Nicaragua nach vier Jahren Regierungszeit Ortegas ein Land mit günstigeren Werten in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Alphabetisierung, Ernährung ist – Werte, die sich im Alltag des Landes in konkreten Fakten äußern.

Nicaragua ist, entgegen einer verbreiteten Kritik, kein Rentierstaat, der allein von der Gunst Chávez' lebt. Die Wirtschaftspolitik ist konsistent und stellt sowohl die Gewerkschaften zufrieden, als auch nationalen Unternehmerverband, den IWF und die ausländischen Investoren. Dass Nicaragua gleichzeitig Bündnisse mit den USA, der EU und dem ALBA eingeht, ist für den Präsidenten kein Widerspruch. Ortega geht es um die Diversifizierung der Handelspartner. Während die Steuereinnahmen den höchsten Stand in der Geschichte Nicaraguas erreicht haben, ist die Inflationsrate gering. Seit jüngerer Zeit werden wieder Grundnahrungsmittel in die Nachbarländer exportiert. Es sind Großprojekte in Planung, wie der Bau eines Tiefseehafens an der Atlantikküste und einer Ölraffinerie, die Nicaragua in die Lage versetzen soll, Benzin und Diesel zu exportieren. Der Bau eines Großstaudamms in Bocana de Paiwas wurde wegen ökologischer Bedenken gestoppt. Trotz des vorteilhaften Ölgeschäfts mit Venezuela setzt Nicaragua auf Strom aus nachhaltigen Energien, Geothermie- und Windkraftanlagen sind bereits in Betrieb.

Umdenken in der Landwirtschaft: Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität

Nachdem Staatsbetriebe und Kooperativen in den 1980er Jahren nicht zu der erhofften Steigerung der Nahrungsmittelproduktion geführt hatten, setzt die Landwirtschaftspolitik Ortegas auf Landbesitz in privaten Händen. Der Großgrundbesitz, seit der sog. Peñata Anfang der 1990er Jahre in den Händen vieler führender FSLN-Mitglieder, wurde nicht angetastet. Eine Landreform findet nicht statt. Es werden lediglich unklare Besitztitel für Kleinbauern legalisiert. Der noch existierende Bestand an Kooperativen wird zwar gefördert, aber nicht ausgebaut.

Im Fokus der Bemühungen im Bereich der Landwirtschaftspolitik stehen die privaten Kleinbauern. Lebten diese früher von einer Überlebens-Subsistenzwirtschaft, die vor allem auf die eigenen Erfahrungen aufbaute, geht es heute um den Aufbau einer ländlichen Ökonomie. Zielgruppe der Förderung sind in den meisten Fällen Frauen. Dass das anfangs belächelte "Null-Hunger"-Projekt Früchte trägt, bestätigen mittlerweile auch Ortegas Gegner. Die Verteilung von Nutztieren an Kleinstbauern und die Einführung von lokalen Kreditsystemen hat dem ländlichen Raum zu einem Entwicklungsimpuls verholfen. Diese Orientierung auf die Grundversorgung der Bevölkerung spiegelt sich wider im Gesetz zur Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität, das die Regierung Ortega im Jahr 2009 verabschiedet hat.

Auf schärfsten Widerstand bei den europäischen NGOen, den Regierungen und der Solidaritätsbewegung ist Ortegas Genderpolitik gestoßen. Vor allem anderen steht die Befürwortung des generellen Abtreibungsverbots und die Kriminalisierung von Organisationen der Frauenbewegung. Demgegenüber stehen gesellschaftliche Veränderungen, die ursprünglich nicht einmal als Frauenförderung intendiert waren: Frauen werden als Begünstigte der Programme Usura Cero (Kleinkredite) und Hambre Cero (Null-Hunger) vielfach zum ersten Mal Eigentümer von Produktionsmitteln.

Andererseits gibt es auch Fortschritte in der Geschlechtergerechtigkeit: Es gibt eine Gender-Mainstreaming-Stragegie und das Ziel, die verantwortlichen Posten in Regierung und Partei paritätisch zu besetzen. In seinen letzten Reden verwendete Ortega die geschlechtergerechte Sprache nicht nur in der Anrede, sondern durchgehend. Motor dieser Entwicklung ist die Präsidentengattin Rosario Murillo. Während die meisten Frauenorganisationen ihr eine reaktionäre, familienorientierte Frauenpolitik vorwerfen und ihre Rolle im Verfahren gegen Ortega wegen Missbrauchs an seiner Stieftochter nicht vergessen haben, halten andere sie für eine hochintelligente Politikerin, die sich gegen den Widerstand einer durchgehend männlichen Führungsriege in der FSLN durchgesetzt hat. Ihre Stellung in der Parteihierarchie kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Investitionen im Bildungsbereich: Viele Projekte, aber die FSLN bleibt hinter ihrem Anspruch zurück

Bildung gehörte stets zu den zentralen Anliegen der FSLN. Bereits ihr Gründer Carlos Fonseca hatte die Parole ausgegeben, den Guerilleros auch das Lesen beizubringen. Trotzdem steigerte sich der Bildungshaushalt nur vergleichsweise wenig, und die Fortschritte bei den Einschulungsquoten, den Lehrergehältern und der Qualität der Bildung sind nur gering. Hinzu kam, dass der erste Bildungsminister der Regierung Miguel de Castilla, der vielen als Visionär galt, bereits nach zwei Jahren wegen Mangel an Fügsamkeit entlassen wurde. In Francisco Cruz' Gemeinde sind trotzdem Veränderungen zu spüren, die immerhin eine deutliche Steigerung zu den neoliberalen Vorgängerregierungen ausmachen: In einer abgelegenen Zone entstand eine neue Zwerg-Grundschule, aufgrund der Entfernung zur nächsten Sekundarschule wurden Samstagskurse eingerichtet, das Nationale Technologieinstitut INATEC bietet Kurzausbildungen in Bereichen an, die in der Region von Nutzen sind, wie Handyreparaturen, Nähen, Buchhaltung, Umgang mit Software und ähnliches. Freiwillige aus der Sandinistischen Jugend leisten Erwachsenenbildung für die zum Teil erst jüngst alphabetisierten Kleinbauern.

Diese deutlich spürbaren Verbesserungen haben dafür gesorgt, dass heute auch viele ehemalige Gegner Ortegas hinter ihm stehen. Julio Rodriguez wundert sich über die kritische Haltung derer, die in den 1980ern die Frente bejubelten: "Worüber regt ihr euch auf? Die Repression war doch damals viel schlimmer. Heute gibt es keine politischen Gefangenen, die Presse und Opposition wird zwar gepiesackt, kann aber im Wesentlichen tun und lassen was sie will." Dem ist nicht so. Die FSLN sorgt mit bezahlten Schlägerbanden dafür, dass Demonstrationen der Opposition in Prügeleien enden. Mittlerweile finden diese nur noch vereinzelt statt. Gleichzeitig hat der Druck auf die unabhängigen NGOen nachgelassen. Andere fragen sich, warum Ortega die zahlreichen Kompetenzen der NGOen nicht in seine Politik einbezieht, sondern sie durch Ausgrenzung und Kriminalisierung zu seinen Gegnern macht.

Ansonsten kann man Ortega und Murillo das machtpolitische Geschick aber nicht absprechen. Die "2. Etappe der Revolution" (Ortega) hat aus ihren Fehlern gelernt: Es ist ihr gelungen, die aus dem Contra-Krieg entstandene gesellschaftliche Spaltung zu überwinden. Die traditionelle Kirche darf nicht als Gegner der FSLN dastehen, ebenso wenig die privaten Unternehmer, die mittlerweile den größten Teil der Führungsriege der FSLN ausmachen. Weiterhin wird die Opposition durch geschickte Spaltungs- und Kooptationspolitik in Uneinigkeit gehalten. Das aus 14 Parteien bestehende UNO-Bündnis hatte 1990 die FSLN zu Fall gebracht.

All dies wurde mit politischen Zugeständnissen erkauft, die die FSLN heute als weit von den politischen Idealen der sandinistischen Revolution erscheinen lassen: Sie negiert den laizistischen Staat, die Interessen der Frauenbewegung, die Idee einer Demokratisierung der Gesellschaft und die von ihr selbst geschaffene Verfassung. Die antiimperialistische Propaganda steht im deutlichen Widerspruch zur politischen Praxis.

Durch taktische Winkelzüge hält Ortega mittlerweile die Kontrolle über alle staatlichen Organe mit Ausnahme von Polizei und Militär. Er kann wie ein Diktator regieren. Die Vermischung von Staat und Partei, der Missbrauch staatlicher Institutionen zu Propagandazwecken findet allerorten statt. Durch die Zusammenarbeit mit dem ALBA stehen ihm finanzielle Ressourcen zur Verfügung, die ihm einen politischen Gestaltungsspielraum verschaffen, von dem seine Gegner nur träumen können. Zu einem Staatshaushalt von 1,4 Mrd. US-Dollar kommen jährlich weitere ca. 500 Mio. US-Dollar aus dem Ölgeschäft mit Venezuela. Mit der nationalistischen Kampagne um den südlichen Grenzfluss Rio San Juan konnte er landesweit viele Gegner für sich gewinnen.

Ebenso mit dem Rekurs auf Glaube und Spiritualität, deren Bedeutung mit der Verbreitung der evangelikalen Kirchen in Nicaragua noch zugenommen hat. Mag die politische Umwidmung religiöser Feiertage als grotesk erscheinen – bei vielen gläubigen Nicaraguanern verfehlt sie ihre Wirkung nicht. Andere, wie der katholische Bischof Leonardo Brenes, sind erbost über den politischen Missbrauch des Glaubens und sehen die Monopolstellung seiner Kirche gefährdet.

Was aus der Perspektive europäischer Sympathisanten der sandinistischen Revolution unverzeihlich ist, stört in Nicaragua jedoch nur wenige: Die anderen Präsidenten waren noch wesentlich korrupter, haben aber weitaus weniger für die Bevölkerung getan. Es sind wenige, die in Nicaragua ernsthaft Demokratie und Verfassung verteidigen; umso weniger, als die Politik der FSLN der Bevölkerung zugute kommt. Den Anhängern der FSLN selbst scheint die Vermischung von Staat und Partei völlig unproblematisch: Sie begreifen beide als Instrumente einer Revolution, die sich selbstverständlich gegen ihre Gegner durchsetzen muss. Die Kalkulation scheint aufzugehen: Dass Ortega heute wieder gewählt wird, gilt den allermeisten als sicher. Ende Juli veröffentlichte die rechte Tageszeitung La Prensa eine Umfrage, in der Ortega 58 Prozent der Stimmen vorausgesagt wurden. Dies wäre das höchste Ergebnis bei einer Wahl in Nicaragua seit 1984. Im Jahr 2006 hatten 38 Prozent der Wähler ihm ihre Stimme gegeben.

Das Umfrageergebnis spricht für sich: Auch wenn die autoritären Strukturen in der FSLN nicht nahe legen, dass ihre Politik sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert – ihre Erfolge können die Wähler überzeugen. Die Abkehr vom neoliberalen Modell und die Förderung des ländlichen Raums können sogar als beispielhaft für andere Länder gelten. Unter den gegebenen historischen Bedingungen hat Ortega in den letzten Jahren sehr klug gespielt, und es ist deutlich, dass es ihm dabei nicht, wie etwa dem Ex-Präsidenten Alemán, nur um seinen eigenen Profit ging. William Rodriguez, FSLN Dissident seit den 1990er Jahren, sieht die Erneuerung aus der Parteibasis selber hervorgehen. Irgendwann, meint er, wird die Sandinistische Jugend es satt haben, auf Befehl Fahnen zu schwingen und Wände zu bemalen. Bis dahin sei Daniel Ortega der beste Präsident, den Nicaragua haben kann.


Erstveröffentlichung in ak 565 vom 21.10.2011