Haiti / Politik

Nichts ist gut in Haiti

Bilanz zwei Jahre nach dem Erdbeben

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Vor dem Erdbeben: MINUSTAH-Truppen schützen den Präsidentenpalast
Vor dem Erdbeben: MINUSTAH-Truppen schützen den Präsidentenpalast

208 Jahre sind vergangen, seit die ehemaligen Sklaven ihre Herren vertrieben und nach opferreichen Kämpfen die erste "Schwarze Republik" ausriefen. Sie wurden bitter dafür bestraft. Zwei  Jahre sind vergangen, seit die Erde in Haiti bebte und große Teile der Hauptstadt und der umliegenden Ortschaften in sich zusammenfielen. Mehr als 250.000 Menschen verloren dabei ihr Leben, gut 1 Million blieb ohne Dach über dem Kopf zurück.

In den Meldungen über den 12. Januar 2010 war oftmals die Rede von der schlimmsten Erdbebenkatastrophe in der Geschichte der Menschheit. Die Bilder von hilflos umher irrenden Menschen vermittelten einen Eindruck von Apokalypse. Kein Ereignis zuvor hat jemals eine vergleichbare Welle der Betroffenheit, der Hilfsbereitschaft in der ganzen Welt ausgelöst. Ausgerechnet in Haiti, jenem geschlagenen Land, das seit seiner Unabhängigkeit nie zur Ruhe gekommen ist, ausgerechnet hier musste so etwas passieren?

Am 12. Januar 2012, dem zweiten Jahrestag des Bebens, bot sich nun ein gespenstisches Bild anlässlich der offiziellen Zeremonie zu Ehren der vielen tausend Opfer, die in einem Massengrab im Norden der Hauptstadt, in Titanyen, vor 2 Jahren beigesetzt worden waren. Neben ausgewählten Gästen und Geistlichen aus allen Religionen versammelten sich dort ausgesprochen prominente Persönlichkeiten: Der gerade aus Nicaragua zurückgekehrte Präsident Martelly, der nicht müde wird, eine "neue Zeit" zu beschwören und seinem Volk das Blaue vom Himmel zu versprechen. Seine Gattin, die krampfhaft bemüht ist, die Rolle der Premiere Dame zu spielen. Und drei Ex-Präsidenten, die mit ernster Miene der Zeremonie beiwohnen: William Jefferson Clinton, der die Geschicke des Landes wie kein anderer lenkt, Prosper Avril, der gescheiterte Militärtribun, der 1988/89 noch einen letzten Versuch gemacht hatte, das Land vor dem überkochenden Volkszorn zu "retten", und schließlich die Symbolfigur einer vergangenen Epoche, die längst abgeschrieben war, und die seit einem Jahr wie ein Zombie wieder in die haitianische Realität getreten ist: Jean Claude "Baby Doc" Duvalier, der 1971 als 19 jähriger die schmutzigen Amtsgeschäfte seines Vaters übernommen hatte und als Mittdreißiger 1986 mit Sack und Pack und einem Haufen Dollars Hals über Kopf das Land verlassen musste, um Zuflucht bei der früheren Kolonialmacht Frankreich zu suchen.

Dessen korruptes Regime hatte nicht nur den haitianischen Staat in den Bankrott getrieben, sondern dessen Schergen trieben auch tausende von Haitianern ins Exil, wenn sie nicht schon vorher erwischt, ermordet oder gefoltert wurden; der den Ausschlag gegeben hatte für die Entstehung einer Lawine (Lavalas), einer breiten Volksbewegung, die ein gemeinsames Ziel verfolgte – den verhassten Tyrannen und seine gesamte Familie zum Teufel zu jagen; der vor genau einem Jahr mit einer Linienmaschine der Air France aus seinem 25 Jahre währenden Exil nach Haiti zurückgekehrt ist, "um seinen Landsleuten in dieser schwierigen Lage zu helfen".

Diese drei Figuren sitzen also während der offiziellen Zeremonie zum Gedenken an die namenlosen Opfer der Katastrophe gemeinsam auf der Ehrentribüne und lauschen den Worten des amtierenden Präsidenten Martelly: "Alles muss neu gedacht und anders aufgebaut werden. Es ist der Moment gekommen, an dem wir uns von den alten Gewohnheiten verabschieden müssen. Neue Werte müssen wir uns aneignen, damit jedes Risiko einer Wiederkehr des Horrors beseitigt werden kann...."

Was mag ein weiterer Ex-Präsident, Jean Bertrand Aristide, angesichts solcher Sätze und einer solchen Versammlung historischer Persönlichkeiten denken? Auch er befindet sich im Land, hat sich seit seiner Ankunft aus dem südafrikanischen Exil im März 2011 nicht ein einziges Mal öffentlich geäußert. Dem amerikanischen Ex-Präsidenten hatte er 1994 seine Rückkehr auf den Präsidentenstuhl zu verdanken. Er nutzte damals die ihm verbleibende Zeit um per Präsidialdekret die Armee abzuschaffen, ohne jedoch diesen Beschluss in der Verfassung zu verankern. Heute stellt sich das als verhängnisvoller Fehler heraus.

Die Herren Duvalier, Avril und Martelly arbeiten mit Hochdruck daran, die alten Militärseilschaften wieder zu reaktivieren, mit neuen Kräften aufzufrischen und auf diese Weise einen Macht- und Repressionsapparat aufzubauen, der in den kommenden Jahren in ihren Augen bitter nötig sein wird. Die bisher als Ordnungsmacht fungierenden UN-Blauhelme werden von der Bevölkerung immer weniger akzeptiert, besonders seit klar ist, dass sie wesentlich für das Auftreten der Cholera-Epidemie verantwortlich sind. In der Öffentlichkeit stößt das Verhalten der UN-Verantwortlichen auf wenig Verständnis, wenn sie auf entsprechende Klagen stets mit dem lapidaren Hinweis reagieren, dass eine Verkettung unglücklicher Umstände zur Ausbreitung der Krankheit geführt habe. Schadensersatzansprüche von Angehörigen der mittlerweile mehr als 7.000 Cholera-Opfer und einer geschätzten halben Million Infizierter werden kategorisch abgelehnt. Die Mission muss weiterhin als Erfolgsgeschichte verkauft werden.

Unterdessen werden seit einigen Wochen Parks und öffentliche Plätze der Hauptstadt, die bisher immer noch vielen tausenden obdachlosen Familien als Notunterkünfte dienten, systematisch geräumt. Das gilt nicht nur für den eher residentiellen Stadtteil Petionville, sondern auch für den im Zentrum vor dem zertrümmerten Präsidentenpalast gelegenen Champs de Mars, auf dem ca. 5.000 Menschen in prekären Zeltunterkünften einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Auch die Zeltstädte im Umfeld des Flughafens sollen in nächster Zeit geräumt werden. Den ankommenden Investoren aus USA, Kanada, Südkorea oder auch aus europäischen Ländern soll der Anblick stummen Elends erspart bleiben.

In Abwandlung eines Käßmann-Wortes könnte man auch heute noch sagen: Nichts ist gut in Haiti.