Europa / Politik / Wirtschaft

Weg vom Sparprogramm

Ignacio Ramonet zur europäischen Krisenpolitik

"Die größte Stärke der Tyrannen
ist das Stillhalten der Völker."
Macchiavelli

Es ist wie ein Gefühl des Erstickens. So empfinden es viele Bürger in unterschiedlichen Ländern der EU, die von Einschränkungen, Kürzungen und Sparprogrammen betroffen sind. Ein Gefühl, das noch durch die Gewissheit bestärkt wird, dass ein Wechsel in der politischen Führung keine Änderung der rabiaten Sparprogramme der Regierenden mit sich bringt.

In Spanien zum Beispiel, einer von den brutalen Sparprogrammen des (sozialistischen) Präsidenten José Luis Rodríguez Zapatero seit Mai 2010 gebeutelten Gesellschaft, hat der konservative Kandidat der Volkspartei, Mariano Rajoy, in der Wahlkampfphase im vergangenen November versprochen, einen "Wechsel" herbeizuführen und das "Glück zurückzubringen". Er siegte mit absoluter Mehrheit. Aber kaum hatte er sein Amt eingenommen, begann er mit den aggressivsten sozialen Kürzungen in der neueren Geschichte Spaniens.

Das gleiche geschieht in anderen Staaten, in Griechenland zum Beispiel oder in Portugal. Erinnern wir uns daran, dass in diesem Land im Juni 2011 der Sozialist José Sókrates, nachdem er vier unpopuläre Programme der "Finanzdisziplin" eingeleitet hatte und den nicht weniger verabscheuungswürdigen Rettungsplan der Troika akzeptiert hatte, die Wahlen verlor. Der konservative Sieger, Pedro Passos Coelho, der jetzige Ministerpräsident, der vorher den Kürzungen der Sozialisten sehr kritisch gegenüber stand, zögerte nicht, kaum dass er gewählt war, zu bestätigen, dass es zur Erfüllung der Forderungen der EU sein Ziel sei, eine "noch höhere Dosis an Einsparungen" durchzusetzen.

Wozu sind Wahlen dann gut, wenn in den wichtigen Dingen, das heißt in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die neuen Regierenden das gleiche (sogar noch verstärkt) tun wie ihre Vorgänger? Wer sich diese Frage stellt, zweifelt in der Tat an der Demokratie. In der EU haben die Bürger die Kontrolle über eine Reihe von Entscheidungen verloren, die ihr Leben bestimmen. In Wirklichkeit schränken die Forderungen der Märkte das Funktionieren der Demokratie ernsthaft ein. Viele Regierenden – der Linken und der Rechten – sind davon überzeugt, dass die Märkte immer Recht haben und dass das Problem eben genau die Demokratie und der öffentliche Diskurs ist. Sie ziehen kompetente Investoren "verantwortungslosen Wählern" vor.

Die Wähler ihrerseits haben das Gefühl, dass in Europa heute eine geheime, von den Märkten diktierte Agenda mit zwei konkreten Zielen existiert: die Souveränität des Staates weitest möglich abzubauen und den Wohlfahrtsstaat komplett abzuschaffen.

Wer in dieser Hinsicht noch Zweifel hat, der braucht nur die neuesten Erklärungen von Mario Draghi, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), zu lesen, in denen er bekräftigt: "Das soziale Modell in Europa ist tot und wer die Haushaltskürzungen rückgängig macht, riskiert sofortige Sanktionen der Märkte (…). Was den europäischen Fiskalpakt angeht, so handelt es sich in Wirklichkeit um einen großen politischen Fortschritt, denn dank dieses Vertrages verlieren die Staaten einen Teil ihrer nationalen Souveränität." Deutlicher geht es nicht mehr.

In Wirklichkeit leben wir in Zeiten eines aufgeklärten Despotismus, in der Demokratie weniger durch eine Stimmabgabe oder die Möglichkeit einer Wahl definiert wird als durch die Einhaltung von Regeln und Verträgen (Maastricht, Lissabon, Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM), Fiskalpakt), die vor langer Zeit und in einer allgemein vorherrschenden Indifferenz beschlossen wurden und die sich nun als wahre juristische Gefängnisse ohne Fluchtmöglichkeit heraus stellen.

Daher fragen sich viele enttäuschte Bürger: Was nützt es zu wählen, wenn wir gezwungen sind, Regierungen zu wählen, deren Aufgabe es sein wird, ein für allemal beschlossene Regeln und Verträge anzuwenden?

Wir stehen vor einem Fall von "demokratischer Verheimlichung": nämlich dem des europäischen Fiskalpakts. Warum gibt es keine öffentliche Debatte über diesen Pakt, der gerade auf dem Weg ist, beschlossen zu werden und der das Leben von Millionen von Bürgern betreffen wird? Genau wie der ESM, von dem er abhängt, bedeutet dieser Pakt einen brutalen Angriff auf die Rechte der Bürger. Er wird die unterzeichnenden Staaten (unter anderem Spanien) für immer dazu zwingen, ihre Ausgaben für das Sozialwesen, für Renten und Löhne zu kürzen. Er bestimmt außerdem die Autorität der Europäischen Union über die Haushaltspolitik ihrer Mitgliedsstaaten. Er wird die Kompetenzen der nationalen Parlamente und ihre Souveränität einschränken und einige Staaten in reine europäische Protektorate verwandeln.

Gibt es noch einen Ausweg aus so einer Situation? Die Wahlen in Frankreich eröffnen vielleicht eine Perspektive. Nicht so sehr wegen der Millionen von Wählern, die enttäuscht und verzweifelt für eine extreme anti-europäische und fremdenfeindliche Rechte gestimmt haben, sondern weil der sozialdemokratische Kandidat Francois Hollande selbst – den Umfragen zufolge der Favorit – versprochen hat, in dieser Hinsicht die Dinge zu ändern.

Im Bewusstsein darüber, dass die Präsidentschaftswahlen in Frankreich für den Kurs Europas wichtig sind, fordert Hollande insbesondere, dem Fiskalpakt ein Bündel an Maßnahmen für Wachstum, Solidarität und Anreize hinzufügen. Ebenso fordert er eine Zinssenkung der EZB und direkte Anleihen für die Staaten (und nicht für die Privatbanken), um den Weg einer Gesundung schnell frei zu machen.

Obwohl die geforderten Änderungen minimal und zweifellos nicht ausreichend sind, widersetzt sich Hollande der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und der Bundesbank, die in Wirklichkeit die Finanz- und Wirtschaftspolitik der EU bestimmen. Aber der französische Sozialist hat erklärt, dass Frankreich den Fiskalpakt nicht ratifizieren wird, wenn Deutschland diese Änderungen nicht annimmt.

Was wird passieren, wenn Hollande nach seiner Wahl seine Vorstellung durchsetzen wird, Europa aus dem Sparzwang und der Rezession herauszuholen, indem er Strukturreformen auf den Weg bringt und Wachstum anregt? Zwei Dinge können passieren. Erste Möglichkeit: Wie Mario Draghi angekündigt hat, werden die Märkte sofort Frankreich attackieren und ihm einen Strick daraus drehen; Hollande wird eingeschüchtert, weicht zurück, er duckt sich genauso vor der Spekulation wie seine sozialdemokratischen Freunde Zapatero, Sócrates und Papandreou und wird so zum unbeliebtesten linken Politiker in der Geschichte Frankreichs.

Zweite Möglichkeit: Weil in der EU nichts ohne die Zustimmung Frankreichs geht, der zweitgrößten Ökonomie in der Eurozone (und fünften in der Welt), behält Hollande seine Position und wird radikaler. Er beschließt, sich Unterstützung durch eine Mobilisierung der europäischen Volkskräfte zu holen (beginnend mit der Linksfront von Jean-Luc Mélenchon), er erhält die Unterstützung von vielen europäischen Regierungen, die auch auf eine Politik des Wachstums setzen. Es gelingt ihm, die Linie der EZB und der Bundesbank zu ändern. Und so beweist er: wenn in einer Demokratie das Mandat des Volkes mit einem festen politischen Willen zusammen trifft, gibt es kein Ziel, das nicht erreicht werden kann.