Leben in Zeiten der Cholera

Anwälte wollen, dass die UNO Verantwortung für die Choleraepidemie in Haiti übernimmt

Miville Mirlande sitzt erschöpft auf den Stufen eines kleinen Hauses, am Rande der staubigen Straße nach Mirebalais. Sie hat sich ihren Zopf über die Nase gezogen, er teilt ihr Gesicht in zwei Hälften. Miville gehört zu den ersten Opfern der Choleraepidemie in Haiti. "Am Anfang hatte ich Durchfall und Erbrechen", sagt sie. "Als es ganz schlimm wurde, bin ich zur Behandlung nach Mirebalais gekommen."

Mehr als 100 Jahre ist es her, dass der letzte Cholerafall in Haiti aufgetreten ist – die Krankheit galt als ausgerottet. Die Wucht, mit der sie jetzt wiederkommt, ist umso stärker. Unzureichender Zugang zu sauberem Trinkwasser, eine chronisch unterentwickelte Infrastruktur und mangelnde Bildung über Hygiene bieten einen fruchtbaren Nährboden für die Ausbreitung der Krankheit, die innerhalb von einem Jahr schon mehr als 7.000 Menschen das Leben gekostet hat.

Von Port-au-Prince aus schlängelt sich die Straße nach Mirebalais zwei Stunden lang durch die bergige Landschaft. Die Stadt gilt als der Ursprungsort der Choleraepidemie. Hier, 163 Meter über dem Meeresspiegel, fließt der Artibonite vorbei, der längste und wichtigste Fluss Haitis. Durch ihn hat sich die Seuche im ganzen Land verteilt. An einer der vielen Straßenbiegungen liegt ganz unauffällig das ehemalige Camp der nepalesischen Einheit der MINUSTAH, der Friedensmission der UNO. Hier könnte der Ursprung des neuesten haitianischen Unglücks liegen. Eine Analyse der Cholerabakterien hat hohe Übereinstimmungen mit einem in Südasien heimischen Bakterium ergeben. Dort ist die Cholera seit langem verbreitet.

Anwalt Mario Joseph sitzt zwischen Telefonen und Aktenstapeln in seinem Büro, die Klimaanlage brummt. Er arbeitet für das Bureau des Avocats Internationaux, eine Anwaltskanzlei deren Schwerpunkt auf der Verteidigung von Menschenrechten liegt. Joseph und seine Kollegen sind überzeugt, dass die nepalesische Einheit der MINUSTAH für den Ausbruch der Cholera verantwortlich ist. Gemeinsam haben sie mit Opfern gesprochen, Unterschriften gesammelt und eine Petition gegen die UNO mit weitreichenden Forderungen eingereicht. "Für die, die erfolgreich behandelt werden konnten, verlangen wir 5.000 US-Dollar Wiedergutmachung. Und für die Familien der Opfer, die gestorben sind, fordern wir 10.000 US-Dollar", sagt Joseph. Dazu kämen massive Investitionen in die Verbesserung der Trinkwassersituation sowie: eine offizielle Entschuldigung der UNO.

Die Anschuldigung birgt Zündstoff, denn es wäre nicht das erste Mal, dass die MINUSTAH im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen auftaucht. Erst vor wenigen Monaten trat der Kommandeur der uruguayischen Einheit zurück, als ein Video an die Öffentlichkeit gelangte, das die Vergewaltigung eines 18-jährigen Haitianers durch MINUSTAH-Soldaten zeigte. Die haitianische Bevölkerung reagierte in den vergangenen Wochen immer wieder mit Protesten und Demonstrationen gegen die MINUSTAH. Mit steigenden Infektionszahlen von Cholerapatienten wurden diese entsprechend intensiver. Der UNO ist die Explosivität der Situation bewusst, trotzdem oder gerade deshalb hält sie sich mit genauen Aussagen zum Fall um die Cholera zurück.

Das Hauptquartier der MINUSTAH erscheint riesig und wird schwer bewacht. Kurz hinter dem Flughafen von Port-au-Prince erstreckt es sich hinter kilometerlangen weißen Schutzwällen. Auf betonierten Straßen rollen Panzer, kein Baum, der Schatten spendet. Seit 2004 sind hier rund 7.000 Blauhelme stationiert, sie kommen aus so unterschiedlichen Ländern wie Brasilien, Jordanien, Guatemala, Kanada, Korea, den Philippinen und eben Nepal.

Ein Hubschrauber im Landeanflug weht der Pressesprecherin der MINUSTAH, Sylvie Van Den Wildenberg, ihre Notizen aus der Hand und zerzaust ihre Haare. Auf den Papieren reihen sich Zahlen aneinander, die den Erfolg der UN-Mission untermalen. "Wir haben einen langen Weg zurückgelegt, dieses Land stand kurz vor dem Bürgerkrieg", sagt sie. "Wenn die MINUSTAH nicht hier wäre, würden wir täglich neue Gewalttaten riskieren." Van Den Wildenberg spricht charismatisch und engagiert, nur beim Thema Cholera muss sie mehrfach neu ansetzen. "Es gibt die Wahrnehmung in Haiti, dass die MINUSTAH die Cholera eingeschleppt hat. Es wäre schrecklich, wenn das stimmt. Allerdings haben wir direkt nach dem Ausbruch der Seuche alle unsere Soldaten untersucht. Keiner wurde positiv getestet."

Trotzdem beauftragte UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon bereits Ende 2010 ein unabhängiges Forschergremium mit einer gründlichen Untersuchung der Ursachen. Van Den Wildenberg fasst die Ergebnisse so zusammen: "Die Choleraepidemie in Haiti ist aus einem Aufeinandertreffen von Umständen entstanden. Der Ausbruch kann nicht auf die Handlung einer einzelnen Person zurückgeführt werden." Bei einem Blick in die Originalversion des Berichts ist allerdings auch zu lesen: "Die MINUSTAH beschäftigt eine externe Firma mit der Beseitigung der Fäkalien. Die sanitären Anlagen im MINUSTAH-Camp in Mirebalais waren nicht ausreichend, um eine Kontamination des Artibonite mit Fäkalien zu verhindern."

Für die Anwälte des Bureau des Avocats Internationaux ist damit die Schuldfrage geklärt. Sie fordern die UNO auf, sich öffentlich ihrer Verantwortung zu stellen. "Wir wollen die nepalesischen Soldaten nicht hinter Gitter bringen. Nepal ist ein Land, das fast genauso arm ist wie Haiti. Darum geht es uns gar nicht. Es geht uns darum, die Vereinten Nationen dazu zu bringen, Verantwortung zu übernehmen und ihre Fehler und ihren Leichtsinn zu korrigieren", sagt Mario Joseph. Rechtlich berufen er und seine Kollegen sich auf ein Versäumnis der UNO, das noch viel weiter zurück reicht, als der Ausbruch der Cholera.

Als die MINUSTAH 2004 ihr Mandat in Haiti aufnahm, versank das Land gerade in blutigem Chaos durch den Streit zwischen Anhänger und Gegner des damaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide. Straßenschlachten, Waffengewalt und Tote waren an der Tagesordnung – die Blauhelme sollten das richten. Die UNO unterzeichnete damals gemeinsam mit dem haitianischen Staat ein Abkommen, das die Regeln des Einsatzes beschreibt. Den MINUSTAH-Truppen wird darin unter anderem absolute Immunität garantiert. Als Ausgleich war die Bildung einer Kommission vorgesehen, um mögliche Probleme zwischen der Bevölkerung und der MINUSTAH zu verhandeln. Laut Mario Joseph ist diese permanente Beschwerdekommission niemals zum Einsatz gekommen. Die Berufung auf dieses Versäumnis ist eine der Grundlagen für die angedrohte Klage des Bureau des Avocats Internationaux.

Im Hauptquartier der UNO verscheucht Sylvie Van Den Wildenberg ungeduldig neugierige Blauhelme, die aus einem Panzer heraus Fotos machen. Die Frage, ob und, wenn ja, wie die UNO Verantwortung übernehmen würde, ist ihr sichtlich unangenehm. "Was ist mit Aids? Was ist mit der Vogelgrippe? Hat in der Geschichte der Menschheit, jemals jemand die Forderung gestellt, die Person, die eine Epidemie ins Land gebracht hat, dafür verantwortlich zu machen?", fragt sie.

Für Miville Mirlande könnte die Frage entscheidend sein. Nach einer ersten erfolgreichen Cholerabehandlung wurde sie erneut krank. Diesmal war sie hochschwanger. Mirlande musste ihr letztes Geld zusammenkratzen und in ein privates Krankenhaus gehen. Sie und ihr Kind haben auch die zweite Behandlung überlebt. Aber ohne weitere Rücklagen hat sie Angst vor einer weiteren Infektion. Auch kann sie nicht mehr so viel arbeiten wie vorher. "Ich habe nicht mehr dieselbe Energie wie vor der Krankheit", sagt sie.
Doch dass die Vereinten Nationen ihr den geforderten Schadensersatz zahlt, erscheint wenig realistisch.

Schon vor dem Erdbeben lebten 67 Prozent der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar pro Tag. Eine Zahlung von 10.000 US-Dollar entspräche also mehr als 13 durchschnittlichen Jahresgehältern. Für die UNO stellt die Petition des Bureau des Avocats Internationaux außerdem eine schwierige Grundsatzfrage dar. Ihr Ausgang könnte schnell wegweisend für ähnliche Fälle in anderen Ländern sein. Bislang üben sich die Anwälte der UNO in New York jedoch in Zurückhaltung, eine offizielle Antwort gibt es nicht.


Der Text ist in Ausgabe Nummer 455 (Mai 2012) der Lateinamerika Nachrichten erschienen.

Lateinamerika Nachrichten abonnieren