Venezuela / Politik

Lateinamerika nach Chávez

Die historische Bedeutung von Venezuelas Präsident Hugo Chávez. Ein Nachruf von Luiz Inácio Lula da Silva, Präsident Brasliens von 2003 bis 2010

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Luiz Inácio Lula da Silva, Gründungsmitglied der brasilianischen Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) und Präsident Brasliens von 2003 bis 2010
Luiz Inácio Lula da Silva, Gründungsmitglied der brasilianischen Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) und Präsident Brasliens von 2003 bis 2010

Die Geschichte wird berechtigterweise die Rolle bestätigen, die Hugo Chávez im Integrationsprozess Lateinamerikas gespielt hat. Ebenso wird sie die Bedeutung seiner 14-jährigen Amtszeit für die arme Bevölkerung Venezuelas bestätigen, wo er nun nach langem Kampf gegen seine Krebserkrankung verstorben ist.

Bevor die Geschichte uns jedoch die Interpretation des Vergangenen diktiert, müssen wir zuerst ein klares Verständnis von Chávez' Bedeutung entwickeln, in beiderlei Hinsicht, sowohl im nationalen als auch im internationalen politischen Kontext. Nur so können die Entscheidungsträger und Menschen Südamerikas – zur Zeit ohne Zweifel der dynamischste Kontinent – klar die vor uns liegenden Aufgaben bestimmen, damit sich die Fortschritte konsolidieren, die in den letzten zehn Jahren auf dem Gebiet der internationalen Einheit erreicht worden sind.

Diese Aufgaben nehmen heute an Bedeutung zu. Jetzt, da wir ohne die grenzenlose Energie von Hugo Chávez dastehen; seinen tiefen Glauben an das Potential der Integration der lateinamerikanischen Staaten. Und ohne seinen Einsatz für soziale Transformation, derer es bedarf, um die Misere seines Volkes zu verbessern.

Die von Hugo Chávez initiierten sozialen Kampagnen, insbesondere im Bereich des öffentliches Gesundheitswesens und in der Wohnungs- und Bildungspolitik, haben zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen von vielen Millionen Menschen in Venezuela beigetragen. Man muss nicht mit allem übereinstimmen, was Hugo Chávez gesagt oder getan hat. Ich bestreite nicht, dass er kontrovers war und oft polarisierte. Dass er jemand war, der sich nie vor einer Debatte scheute und für den kein Thema ein Tabu darstellte. Ich muss zugeben, dass ich oft das Gefühl hatte, dass es für ihn vernünftiger gewesen wäre, nicht alles von dem zu sagen, was er gesagt hat. Aber dies war eine seiner persönlichen Eigenschaften, die seine Qualitäten nicht diskreditieren sollten, auch nicht aus der Ferne.

Man mag auch mit der Ideologie von Herrn Chávez nicht übereinstimmen, und auch nicht mit seinem politischen Stil, den seine Kritiker als autokratisch betrachteten. Er traf keine einfachen politischen Entscheidungen und er schwankte nie in seinen Entschlüssen.

Dennoch, kein auch nur im Entferntesten ehrlicher Mensch, nicht einmal seine schärfsten Gegner, können das Maß an Kameradschaft, an Vertrauen und an Liebe leugnen, das Herr Chávez für die Armen Venezuelas und für die Sache der lateinamerikanischen Integration aufbrachte. Von den vielen Lobbyisten und politischen Staatsoberhäuptern, die ich getroffen habe, haben wenige so vehement an den Zusammenhalt unseres Kontinents und seiner verschiedenen Völker – den Indigenen, den Nachfahren von Europäern und Afrikanern, heutigen Einwanderern – geglaubt, wie er.

Seine Rolle war entscheidend für den Abschluss des Vertrags im Jahre 2008, der die Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) schuf, eine aus zwölf Staaten bestehende Organisation, welche eines Tages in der Lage sein könnte, den Kontinent hin zu einem der Europäischen Union ähnlichen Modell zu führen. Im Jahre 2010 wurde die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) Wirklichkeit, welche ein politisches Forum neben der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bietet. (Der Gemeinschaft gehören die USA und Kanada nicht an, wohl aber der OAS.) Die Bank des Südens, ein neues Kreditinstitut, unabhängig von Weltbank und der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank, wäre ohne Herrn Chávez' Führungsrolle ebenfalls nicht möglich gewesen. Außerdem hatte er großes Interesse an der Stärkung der Beziehungen zwischen Lateinamerika, Afrika und der arabischen Welt.

Wenn eine politische Figur stirbt ohne Ideen zu hinterlassen, finden sein Erbe und seine Tatkraft auch ein Ende. Dies war bei Herrn Chávez nicht der Fall, eine starke, dynamische und unvergessliche Persönlichkeit, deren Ideen noch für Jahrzehnte in Universitäten, Gewerkschaften, politischen Parteien und überall dort diskutiert werden wird, wo sich Menschen weltweit für soziale Gerechtigkeit, die Verbesserung miserabler Lebensbedingungen und für eine faire Verteilung der Macht einsetzen. Vielleicht werden seine Ideen in Zukunft junge Menschen inspirieren, so wie das Leben Simón Bolívars, des großen Befreier Lateinamerikas, einst Hugo Chávez inspirierte.

Die Ideen, die Hugo Chávez hinterlassen hat, bedürfen weiterer Arbeit, wenn sie Realität werden sollen, in dieser chaotischen und unschönen politischen Welt, in der Ideen debattiert und angefochten werden. Eine Welt ohne ihn bedarf anderer Führungspersönlichkeiten, die seinen Einsatz und seine Willensstärke aufweisen, damit seine Träume nicht einfach nur auf dem Papier in Erinnerung bleiben.

Um sein Erbe zu bewahren, haben Chávez' Sympathisanten viel Arbeit vor sich, um demokratische Institutionen aufzubauen und zu stärken. Sie werden dazu beitragen müssen, das politische System organischer und transparenter zu gestalten; politische Partizipation zugänglicher zu machen; den politischen Dialog mit der Opposition zu fördern; und um Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Gruppen zu stärken.

Venezuelas Einheit und das Fortbestehen der von Chávez hart erkämpften Errungenschaften bedürfen dieses Einsatzes. Ohne Zweifel ist der Anspruch aller Venezolaner – egal ob Sympathisanten oder Gegner von Hugo Chávez, ob Soldat oder Zivilperson, Katholik oder Protestant, arm oder reich – das Potential einer so zukunftsträchtigen Nation wie der ihren auszuschöpfen. Frieden und Demokratie allein können diesen Anspruch Realität werden lassen.

Die multilateralen Institutionen, die mit Hugo Chávez' Hilfe entstanden sind, werden auch dabei behilflich sein, den Segen der südamerikanischen Einheit zu bewahren. Er wird nicht mehr an den südamerikanischen Gipfeltreffen teilnehmen, aber seine Ideale und der venezolanische Staat werden weiterhin präsent sein. Demokratische Verbundenheit unter den Staatsoberhäuptern Lateinamerikas und der Karibik ist die beste Garantie für die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Einheit, die unsere Menschen wollen und brauchen.

Auf dem Weg zu einer Einheit stehen wir an einem umumkehrbaren Punkt. Doch, auch wenn wir hiervon felsenfest überzeugt sind, müssen wir diese Standhaftigkeit umso mehr in den internationalen Foren wie den Vereinten Nationen, dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zeigen. Diese Institutionen, die aus der Asche des Zweiten Weltkriegs geboren wurden, waren bisher nicht in der Lage, ausreichend auf die Wirklichkeit unserer heutigen multipolaren Welt zu reagieren.

Charismatisch und eigenwillig, mit seiner Fähigkeit, Freundschaften aufzubauen und mit den Massen kommunizieren zu können wie kaum ein anderer – so wird Hugo Chávez vermisst. Ich werde für immer Erinnerung an die Freundschaft und die Partnerschaft bewahren, die während der acht Jahre entstanden ist, in denen wir gemeinsam als Präsidenten gearbeitet haben, und die so viele Vorteile für Brasilien und Venezuela und unsere Menschen geschaffen hat.


Luiz Inácio Lula da Silva war von 2003 bis 2010 Präsident Brasiliens. Er ist ehrenamtlicher Präsident des Instituto Lula, dessen Fokus die Beziehungen zwischen Afrika und Brasilien ist.