Venezuela / Politik

Die Herausforderung an die bolivarische Revolution: von vorn beginnen

Der Tod von Hugo Chávez und der knappe Wahlsieg von Nicolás Maduro am 14. April bedeuten einen tiefen Einschnitt für den politischen Prozess in Venezuela

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Reinaldo Iturriza
Reinaldo Iturriza

Reinaldo Iturriza ist Basisaktivist und Soziologe aus Venezuela. Er kommentiert in seinem Blog "Saber y Poder" (Wissen und Macht) die politischen Entwicklungen in Venezuela. Er hat unter anderem am Aufbau des Wahlbündnisses "Großer Patriotischer Pols" (GPP) mitgearbeitet. Am 21. April wurde er vom neu gewählten Präsidenten Nicolás Maduro zum Minister für die Kommunen ernannt. Damit ist er für das Kernprojekt der bolivarischen Revolution in Venezuela zuständig: die Entwicklung eines neuen "kommunalen Staates". 


Ein paar Genossen stimmten darin überein, dass das knappe Ergebnis vom 14. April gleichbedeutend damit ist, noch einmal von vorne anzufangen. "Es ist, als ob wir anfingen" und "es ist, als ob wir ins Jahr 2002 zurückgekehrt wären", wurde mir von verschiedenen Seiten zu unterschiedlichen Zeiten gesagt. Ich denke, dass diese – meiner Meinung nach richtige – Einschätzung eines der Schlüsselprobleme umreißt, um in diesem politischen Augenblick mit den Füßen fest auf dem Boden zu bleiben.

Als erstes müsste ich eingestehen, dass ich mich geirrt habe; nicht nur bei den Wahlvorhersagen: Ich dachte an einen etwas knapperen Ausgang als am 7. Oktober, mit etwas weniger Zustimmung zum Chavismus und einem leichten Anstieg für das antichavistische Lager, mit etwa zehn Prozentpunkten Vorsprung, vielleicht etwas geringer. Nie hatte ich ernsthaft die Vorstellung in Erwägung gezogen, mehr als die 8.191.132 Stimmen zu erreichen, wie sie Comandante Chávez im vergangenen Jahr erzielte.

Aber außerdem machte ich einen weiteren Denkfehler: Mir war klar, dass wir am 15. April in einem anderen Land erwachen würden, dass wir in eine neue Etappe der bolivarischen Revolution eintreten würden, mit einigen völlig neuen Herausforderungen (fast alle durch die physische Abwesenheit von Chávez verursacht), mit einer Festigkeit, die die neuerliche Bekräftigung des bolivarischen Weges (am 14. April) mit sich brächte, mit der Notwendigkeit, die Liste der uns entgegenstehenden Probleme zu aktualisieren, strategische Diskussionen wieder aufzunehmen usw.

Jedoch war das Land schon am 6. März nicht mehr dasselbe. Der Tod des Comandante hinterließ in den Reihen der Chavisten tiefe Spuren, deren Ausmaß wir noch nicht genau zu ermessen vermögen. Man könnte die sehr vorläufige Hypothese aufstellen, dass einige Hunderttausend der Meinung waren, dass man sich mit Chávez' Tod auch von dem von ihm angeführten politischen Projekt verabschieden müsse. Vielleicht hilft uns dieses Herangehen, damit zu beginnen, den knappen Wahlausgang am 14. April zu verstehen.

Auf jeden Fall ist jedoch klar, dass die bolivarische Revolution nicht mit dem Comandante Chávez gestorben ist. Darauf muss man bestehen, obwohl das vielen nicht ersichtlich erscheint. Sie ist nicht gestorben, denn auch ohne die Führung durch den politischen Giganten Chávez haben wir es geschafft, die Kandidatur der Oligarchie erneut zu Fall zu bringen. Zum heutigen Zeitpunkt fällt es uns sehr schwer, die historische Bedeutung dieses schwierigen Kampfes richtig einzuschätzen, aus dem wir siegreich hervorgegangen sind. Aber vielleicht dient er in der Zukunft als Beispiel eines revolutionären Volkes, das trotz des Todes seines Anführers weiter kämpft und siegreich ist.

In diesem Sinne erscheint mir die Einschätzung richtig, gemäß derer wir wieder von vorne anfangen. Klar, bis hierher sind wir mit dem historischen Gepäck gekommen, mit großartigen materiellen und geistigen Fortschritten, mit einer politischen Kultur, die sich verfestigte. Aber wir haben unseren Anführer verloren. So groß war sein Gewicht, seine Bedeutung, seine Wirkung als Stratege, dass wir angesichts seines Fehlens fast mehr als nötig zurückgewichen sind. Es war unsere Festigkeit, die das verhindert hat, unser Bewusstsein, falls einem dieser Begriff lieber ist.

Wenn wir jetzt von vorne beginnen, ist es so, weil wir nicht verloren haben. Aber vor allem: Wir fangen nicht bei Null an.

Aus diesem Grunde erscheint es mir nicht richtig, das Ergebnis vom 14. April als einen Ausdruck mangelnden "Bewusstseins" des "verräterischen" Volkes anzusehen. Ganz im Gegenteil: Der 14. April ist der beste Beweis dafür, wozu ein Volk fähig ist, das sich seiner eigenen Stärke und der dringenden Notwendigkeit bewusst ist, neue Männer und Frauen nach vorne zu bringen, die Führungsfunktionen übernehmen.

Schnell wird die Auffassung vom "nutznießenden" Volk vertreten, das sich entschieden hat, für seine Klassenfeinde zu stimmen. Was jedoch bekämpft werden muss – und zwar in einem erbarmungslosen Kampf –, ist genau diese Logik vom "Nutznießer". Dieses Bild von einem Volk, das für die revolutionäre Option stimmt, weil ganz einfach aus einem oder anderen Sozialprogramm ein "Nutzen" gezogen wird. Das ist ein Bild, das im Kopf vieler "bewusster" Linker bzw. von etlichen Partei- oder Amtsbürokraten festsitzt, was eine Leugnung der Bewusstseinsidee als solche zur Folge hat und damit endet, dass die Logik des Diskurses reproduziert wird, die der Antichavismus errichtet hat, um sich auf das chavistische Volk zu beziehen.

Auch wird viel über fehlerhaftes Agieren der bolivarischen Regierung geredet, und es gibt welche, die sich dazu versteigen, das Wahlergebnis als eine Art Abstrafung zu bezeichnen. Ich sehe das nicht so. Ich kenne Chavisten aus der Mittelklasse, die nicht zur Wahl gingen, nicht nur, weil sie sich eines Sieges von Maduro "sicher" waren, sondern als "Abstrafung" für fehlerhafte Amtsführung. Eine wirklich schlimme Lehre zu diesem Zeitpunkt: Am 14. April ging es überhaupt nicht um die Amtsausübung, sondern um das politische Vermächtnis des Comandante Chávez und das Voranschreiten oder Nicht-Voranschreiten auf dem demokratischen und revolutionären Weg.

Wenn es um die Amtsführung geht, so ist das Erste, was gesagt werden muss, dass der Schwerpunkt immer die Politik ist. Die bolivarische Revolution hat nie versucht, den Staat schlechter oder besser zu verwalten, sondern hat versucht, ihn zu überwinden, indem eine neue Institutionalität geschaffen wird. Denn jenseits des abstrakten Staates gibt es einen sehr konkreten Staat, der nach dem Bilde und gemäß den Interessen der Oligarchie geschaffen ist.

Man denke nur an die erste Sitzung des Ministerrats nach dem 7. Oktober 2012.1 Wenn es um die Amtsführung geht, sollten wir uns in das Thema "Ineffizienz" einer etablierten und kleinmütigen Funktionärsschicht vertiefen, aber wir sollten auch von der politischen Effektivität sprechen, so wie sie von Alfredo Maneiro gefordert wurde, die auf die Führungsfähigkeit einer Regierung verweist, indem diese konkrete Lösungen für grundlegende Probleme der venezolanischen Nation anbietet. Nur wenn man so handelt, wird die Revolution vorangetrieben.

Sprechen wir aber auch von den Sabotageaktionen im Energiewesen, von der Spekulation, von Versorgungsschwierigkeiten; alles Erscheinungen, um die herum viele von uns in die Falle getappt sind, ausschließlich die Regierung dafür verantwortlich zu machen, aber nicht den Saboteur, den Spekulanten, die Verbrecher, die mit den Lebensmitteln für das Volk ihre Spielchen treiben. Eine Losung aus den frühen Jahren der Revolution legte Zeugnis ab vom beschleunigten Prozess der Politisierung des venezolanischen Volkes, seiner unvergleichlichen Klarsicht: "Trotz Hunger und Arbeitslosigkeit, ich stehe zu Chávez". Heutzutage könnte man sagen, dass wir gesiegt haben, lag daran, weil, wie ein Genosse schrieb, "trotz Spekulation und Sabotage, stehe ich zu Maduro".

Lassen wir mal die Überheblichkeit beiseite, die so viel Schaden anrichtet. Keiner von uns hatte je das Ergebnis vom 14. April für möglich gehalten, was ganz einfach dieses "Ich hab es doch schon immer gesagt" unentschuldbar macht. Wir haben schon genug Egomanen und Besserwisser. Keiner hat das vorhergesagt. Keiner konnte das tun. Das Land veränderte sich, und wir haben es nicht bemerkt. Wir sollten aufhören, die Schuld bei anderen zu suchen und Schemata anzuwenden, die nur zum Nachdenken über ein Land taugten, in dem wir vor dem 5. März lebten.

Noch immer gibt es welche, die glauben, dass, so und wie es nach jeder Wahl seit etlichen Jahren geschah, das dann die Tage der "Selbstkritik" einsetzen. Was für ein abgedroschenes Geschwätz. Fangen wir doch damit an anzuerkennen, dass wir uns geirrt haben, dass wir die Antwort auf all die völlig neuen Fragen, die auf uns zukommen, nur finden werden, wenn wir aufs Volk hören.

Einige gehen sogar so weit zu sagen, dass der Sieg vom 14. April ein Sieg mit einem Beigeschmack nach Niederlage war. Das sollen sie mal dem Volk sagen, das nicht nur bis zum Umfallen den Sieg vom Sonntag feierte, einem Volk, das zufrieden war, weil es seinen Treueschwur für den Comandante Chávez erfüllte, sondern das jetzt bereit ist, den Sieg mit dem Leben zu bezahlen. Denn das bewusste Volk hat keine Zeit, nicht existierende Niederlagen wiederzukäuen, und noch viel weniger, wo der Faschismus auf seine Gelegenheit lauert.

In diesem Land, das sich verändert hat, in dieser Revolution, die wieder von neuem beginnt, steht das chavistische Volk fest auf dem Boden und hat einen neuen Präsidenten. Zwar ist Nicolás Maduro nicht Chávez, aber er hat auch nie vorgegeben, es sein zu wollen. Aber es ist doch so, dass jetzt nichts mehr so ist, wie es war. Wir sind in eine neue Etappe eingetreten, und dem Genossen Maduro wurde die Aufgabe zuteil, an der Spitze zu stehen. Nun denn, ich stehe zu Maduro.