Amerikas / Politik

Das neue historische Gedächtnis Lateinamerikas und der Karibik

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Büste Jorge Eliécer Gaítans in Medellin. Am 9. April 1948 wurde der linksgerichtete Präsidentschaftskandidat in Bogotá ermordet
Büste Jorge Eliécer Gaítans in Medellin. Am 9. April 1948 wurde der linksgerichtete Präsidentschaftskandidat in Bogotá ermordet

Diese Woche wurde in Kolumbien ein weiteres Mal der Ermordung des liberalen politischen Anführers Jorge Eliécer Gaitán am 9. April 1948 gedacht. Die Tageszeitung La Nación des Landes stellte die Tat als den "Mord, der die Geschichte veränderte" dar und heute, fast 70 Jahre danach, ist sie immer noch relevant, um die aktuelle politische und soziale Lage in Kolumbien zu verstehen. Man darf nicht vergessen, dass seine Ermordung einen Volksaufstand auslöste – bekannt als Bogotazo1 – bei dem unzählige öffentliche Einrichtungen zerstört wurden und 3.000 Personen starben, und bis zum heutigen Tag bestehen Zweifel darüber, wer den Mord anordnete. Dieser Fall ist, wie viele andere, mit der ineinander verwobenen Vergangenheit und Gegenwart von Lateinamerika und der Karibik eng verknüpft.

Lange ist es her, dass die Geschichtsbücher die "Entdeckung" Amerikas als zivilisationsbringenden Jahrestag feierten. Heute geht die Rettung der eigenen verborgenen oder vergessenen Geschichte über das bloße touristische "Interesse" hinaus, Inka-, Maya- oder Azteken-Ruinen zu besichtigen. So ist die koloniale Vergangenheit fester Bestandteil der Gegenwart, wie die kürzlich gestellten Reparationsforderungen der Karibikstaaten gegenüber den europäischen Kolonialmächten gezeigt haben, die beispielsweise von Ralph Gonsalves, Premierminister von St. Vicent und den Grenadinen, mit den Jahrhunderten von "Sklaverei, Genozid und kolonialer Ausbeutung" begründet werden, wenn er an internationalen Foren teilnimmt. Noch stärker sind im kollektiven Gedächtnis die Staatsstreiche verankert, die im 20. Jahrhundert so viele Länder erschütterten. So wurde zum Beispiel dieses Jahr in Brasilien dem 50. Jahrestag des Sturzes von Joao Goulart mit sehr viel mehr Intensität als anderer "Gedenkereignisse" des 20. Jahrhunderts gedacht.

Es ist nicht so, als habe es in der Vergangenheit keine Erinnerung gegeben. Die Kolonisatoren, pro-europäischen Regierungsführer oder die Verbündeten Washingtons und ihre auf der School of the Americas2basierende Politik ersannen sich die Geschichte und die Erinnerung auf Grundlage ihrer eigenen Interessen. Was sich in den letzten Jahren des 20. und den Anfängen des 21. Jahrhunderts geändert hat, ist der Sinn der Erinnerung. Angefangen bei den Protesten in der Dominikanischen Republik gegen den Bau eines Leuchtturms zu Ehren von Columbus im Jahr 1992 anlässlich der Feier des 500. Jahrestags der "Entdeckung" bis hin zum Urteil gegen den guatemaltekischen Diktatur Ríos Montt, über den zapatistischen Aufstand der indigenen Völker und die Suche der Angehörigen der Verschwundenen in Argentinien, befindet sich die "Erinnerung" voll und ganz in einem Prozess des Wandels. Der Aufstieg einer "progressiven" Strömung im weitesten Sinn des Wortes trägt bedeutend zu dieser Veränderung bei. In einigen Fällen geschieht dies über die Anklage von Verantwortlichen von Staatsstreichen, Massakern, Massenmorden oder Verschwindenlassen; in anderen Fällen über die Rehabiliation der Geschichte und des Handelns von politischen Figuren, die demokratisch an die Macht kamen und durch die Streitkräfte abgesetzt wurden.

Die neuen Technologien haben beträchtlich zur Wiedererlangung der Erinnerung beigetragen. Im Jahr 1992 bekamen wenige außerhalb der Dominikanischen Republik vom Skandal um die Erbauung des Columbus-Leuchtturms mit, während heute einige der Urteile gegen Unterdrücker live übertragen werden, man in den sozialen Netzwerken ungekürzte Dokumentarfilme aus vergangenen Zeiten sehen kann, man heimliche Aufnahmen von Musikern zu hören bekommt, die die Zensur umgingen, Dokumente, die für jeden zugänglich gemacht werden, Bücher, etc. Die Technik ist zu einem großen Verbündeten der Vergangenheitsaufarbeitung geworden, indem sie dazu beigetragen hat, vieles, was jahrzehntelang versucht wurde zu verstecken, wieder ans Tageslicht zu bringen. Dies hilft die Geschichte zu (re)konstruieren, die Erinnerung, die Gegenwart und – nicht weniger wichtig – die damit verflochtene Zukunft der Region.

11. April 2014


Pedro Brieger, Soziologe und Journalist aus Argentinien, ist Herausgeber des Internetportals "Nodal – Nachrichten aus Lateinamerika und der Karibik" http://www.nodal.am/

  • 1. Wortbildung aus Bogotá + -azo (Nachsilbe für große Ereignisse, in Lateinamerika oft Aufstände
  • 2. Heißt heute "Western Hemisphere Institute for Security Cooperation". Trainingscamp der US-Streitkräfte, das bis zu 60.000 lateinamerikanische Militärs durchliefen und in Verbindung mit der US-amerikanischen Unterstützung von Militardiktaturen in Lateinamerika steht