Schüsse in der Prärie, Flächenbrand in Mexiko

Mexikanische Polizei begeht Massaker in Nochixtlán, Oaxaca

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Straßensperre mit ausgebranntem Bus. Auf dem Transparent: "Mörder des Volkes" mit den Konterfeis von Präsident Peña Nieto und Innenminister Osorio Chong
Straßensperre mit ausgebranntem Bus. Auf dem Transparent: "Mörder des Volkes" mit den Konterfeis von Präsident Peña Nieto und Innenminister Osorio Chong

"Am Sonntag frühmorgens kam die Polizei und begann uns sofort mit Tränengas anzugreifen, ohne uns eine Frist zu geben, wir waren nicht viele und sind erst davongerannt", berichtet sichtlich empört eine mixtekische Lehrerin von der Barrikade in Nochixtlán. Doch nachdem die rund 800 Polizisten die Blockade auf der einzigen Zufahrtsstraße von Puebla nach Oaxaca Stadt überrannt hatten, folgte eine achtstündige Schlacht.

Sonntag ist Markttag in der Kleinstadt Nochixtlán, dem Handelszentrum der staubtrockenen, prärieartigen Mixteca. An diesem Sonntag, den 19. Juni, schlugen die Kirchenglocken Alarm und die umliegenden Gemeinden unterstützten den Widerstand der Lehrerinnen und Lehrer. Schon in den Morgenstunden waren viele Verletzte auf beiden Seiten und ein ziviles Todesopfer zu beklagen. Doch als die Polizei im Verlauf der Straßenschlacht einsah, dass sie den Widerstand nicht brechen kann, beging sie den entscheidenden Fehler: Mehrere Polizisten eröffneten das Feuer auf die nur mit Steinen bewaffneten Protestierenden. Schnellfeuer, Pistolenschüsse, die Leute ducken sich minutenlang weg, wie Videoaufnahmen dokumentieren. Der Behauptung der Polizisten, sie hätten mehrere Verletzte durch Schüsse auf ihrer Seite gehabt und dieses Feuer bloß erwidert, widersprachen Demonstrierende und renommierte Journalisten. Acht tote Demonstranten und 45 Schussverletzte ist die bisherige traurige Bilanz. Und ein Flächenbrand der Empörung, der sich von Nochixtlán aus im ganzen Land ausbreitet.

Seit Mitte Mai eskaliert der Konflikt mit der Lehrergewerkschaft CNTE, der oppositionellen Strömung innerhalb der gelben Einheitsgewerkschaft SNTE. Die zirka 200.000 Mitglieder der CNTE befinden sich in den vier Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Guerrero und Michoacan seit dem 15. Mai in einem wilden Streik, gegen die Bildungsreform aber auch um gegen die Verhaftungen von Gewerkschaftern zu protestieren. Tausende Polizisten sind seither im Einsatz, griffen insbesondere Lehrerdemonstrationen in Chiapas an, wo sich ebenfalls große Teile der Bevölkerung mit ihren "maestros" solidarisieren. In Oaxaca ließen die Verhaftungen der führenden Gewerkschafter der Sektion 22 der CNTE das Fass überlaufen. Als der Generalsekretär Rubén Nuñez und sein Vize Francisco Villalobos am 11. Juni wegen angeblicher Geldwäscherei festgenommen wurden, richteten Lehrer mit Unterstützung von Eltern, sozialen Bewegungen und indigenen Gemeinden auf Überlandstraßen an die 50 Blockaden ein und legten so die Ökonomie des Bundesstaates lahm.

Statt nach den seit drei Jahren andauernden Protesten endlich in einen Dialog mit den Streikenden einzutreten, sandte die Regierung immer mehr Polizei in die südlichen Provinzen. Diese Polizeieinheiten konnten in Oaxaca jedoch aufgrund der Blockaden nicht mehr auf dem Landweg in die Region gelangen. Das Innenministerium unter Führung von Miguel Ángel Osorio Chong kündigte Tage vor dem schwarzen Sonntag von Nochixtlán an, Straßenblockaden würden nicht mehr toleriert und wo nötig, werde "moderater Gebrauch der Staatsgewalt" gegen Demonstrierende angewandt.

Was "moderate Staatsgewalt" für die Regierung bedeutet, zeigten dann die nächsten Tage. Am 17. Juni drangen zirka 1.000 Polizisten aus Chiapas kommend in den Isthmus ein und räumten unter massivstem Tränengaseinsatz mehrere Straßenblockaden, erst in Zanatepec, anschließend in den Ortschaften Ciudad Ixtepec, Mixtequilla, Tehuantepec. Schließlich stießen sie in die wichtige Industriehafenstadt Salina Cruz vor und befreiten die blockierte Ölraffinerie und Dutzende mit ihr festgesetzte Tanklastwagen.

Nach dem Durchzug der marodierenden Polizeikarawane organisierten sich die Dörfer neu und besetzten die wichtigsten Kreuzungen erst recht. "Unerhört, absurd und sinnlos" sei diese Aktion der Bundesregierung, warnte das lokale Menschenrechtszentrum Tepeyac tags darauf. Diese repressive Antwort "ist das Kennzeichen eines Staates, der mit der Logik von Konfrontation und Gewalt den Machterhalt sichern will, statt Verhandlungsräume zu öffnen, in der diese zerbrochene Demokratie neue Wege finden könnte", mahnt das auch vom Netzwerk der Gemeindemenschenrechtler "Redecom" mitunterzeichnete Bulletin.

Die zweite Polizeikarawane, von Puebla kommend, verursachte noch weit mehr Schaden. Auf der Einfahrt nach Nochixtlán verhaftete sie frühmorgens vom Friedhof weg 17 Personen, die das Grab für ihren tags zuvor verstorbenen Familienangehörigen schaufelten und nichts mit dem Protest zu tun hatten. Auch sechs Protestierende wurden im Verlaufe des Tages festgenommen. Sie waren lange Stunden der Willkür und Folter der Polizisten ausgeliefert, bis die im Morgengrauen des Montags endlich den Justizbehörden übergeben wurden. Die Bewohner einer Ansiedlung von Wellblechhütten hatten das Pech, dass ihre Colonia 20 de Noviembre unweit der Autobahnausfahrt liegt. Sie erwachten an diesem Sonntag mit Tränengas und Schlägen der Polizei. Die 22 Kinder und 28 Erwachsenen, darunter eine schwangere Frau, mussten fliehen und waren nach dem Schock eine Woche lang in einer Notunterkunft in einer Nachbargemeinde untergebracht.

Nach ihrem Abzug aus Nochixtlán, auf dem Weg nach Oaxaca-Stadt, zerstreute die Karawane der Bundespolizei und der neuen Spezialeinheit Gendarmerie immer wieder mit Tränengas und Schüssen weitere Protestierende. Um 17 Uhr nachmittags bei der Autobahnausfahrt von Oaxaca-Stadt angekommen, trafen sie auf ein Wirrwarr von an die 50 Barrikaden und eine Bevölkerung, die durch Tränengaseinsätze aus Helikoptern aufgeheizt war. Während mehrerer Stunden lieferten sich die Jugendlichen der verarmten Vorortgemeinden eine heftige Straßenschlacht mit den Polizisten, die auch hier wieder Schusswaffen einsetzten: Der 18-jährige Jovan Azarael Galán Mendoza kam durch einen Bauchschuss ums Leben. Gegen zehn Uhr, nach einem 15-stündigen Einsatz mit katastrophalen Konsequenzen, stellte die Polizei ihre Angriffe ein. Das Zentrum des Protests, den Hauptplatz von Oaxaca-Stadt mit dem Camp der Lehrer, hatte sie jedoch nicht erreicht.

Nach dem blutigen Wochenende ist die Gesellschaft Oaxacas aufgewühlt wie seit langem nicht mehr. In Nochixtlán herrscht Trauer und immense Wut, an allen Eingängen bewachen die Mixteco-Indigenen auf Barrikaden ihr Städtchen. Im Zuge der Auseinandersetzungen wurden auch PRI-nahe Kreise der Zusammenarbeit mit dem Polizeikonvoi bezichtigt, das Gemeindehaus und ein Hotel gingen in Flammen auf, der Gemeindepräsident nahm Reißaus. Am Sonntagabend kursierten Gerüchte, dass ein Militäreinsatz drohe, am Montag war das Städtchen wie ausgestorben.

In den Tagen nach dem Massaker zeigten sich immer mehr Organisationen solidarisch, besuchten beispielsweise Repressionsopfer in der Region. Darunter auch die Nichtregierungsorganisation Codigo DH, die insbesondere Folteropfer betreut. Deren Repräsentantin Sara Mendez kommentiert die Situation nach einer intensiven Woche der Begleitung: "Diese Repression war ein heftiger Schlag für die Gemeinde, mit einem solch gewalttätigen Polizeieinsatz hat niemand gerechnet. Aber nach der Wut und trotz der kollektiven Angst, die unter anderem auch die medizinische Versorgung der Verletzten erschwert, hat die Gemeinde erste Schritte unternommen, um ihr kommunitäres Leben neu zu organisieren". So wählten in einer Gemeindeversammlung am Freitag nach dem Massaker die Bewohner einen Stadtrat, der den geflohenen Präsidenten ersetzen soll.

Ironie der Geschichte: Just in der Woche des Massakers gedachten die sozialen Organisationen Oaxacas dem Volksaufstand gegen Gouverneur Alejandro Ulises Ruiz, der am 14. Juni 2006 mit einer missratenen Räumung des Lehrercamps begann. Aber zehn Jahre später sind die Rahmenbedingungen andere: Der vermeintliche Politikwechsel weg von der PRI misslang auf lokaler und nationaler Ebene. Am 5. Juni wurde der neue Gouverneur von Oaxaca gewählt, mit nur 30 Prozent der Stimmen bekam Alejandro Murat am meisten Unterstützung. Er ist der Sohn des ehemaligen PRI-Gouverneurs José Murat, der Ulises Ruiz voranging. Vater José Murat war der Architekt des verhassten "Pakts für Mexiko" der Parteien PRI-PRD-PAN, welche die Strukturanpassungsmaßnahmen durch das Parlament brachte – darunter die Bildungsreform, die keine Verbesserungen der Bildung anpeilt, aber die Gewerkschaften aushebelt und das Lehrpersonal über periodische Evaluationen prekarisiert.

Letztlich, darin sind sich alle Beobachter einig, richtet sich der immer breitere und radikalere Protest gegen die Politikermafia und gegen die neoliberale Politik der Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto. Der Gesundheitssektor macht Warnstreiks in Solidarität mit den Lehrern aber auch gegen die Strukturanpassung in diesem Sektor. Die Bewohner verschiedener Regionen wie der Sierra Norte, der Region Mixe marschieren durch Dörfer und Städte. Dutzende Gemeindepräsidenten geloben mit Stempel und Unterschrift die Lehrer zu unterstützen und rufen zu einem Treffen in Nochixtlán auf, um den Widerstand besser zu vernetzen. Die Prärie brennt.

Ob es der Regierung gelingt, dieser Entrüstung den Schwung zu nehmen, werden die nächsten Wochen zeigen. Nach den Toten und nach den weltweiten Protesten hat sich das Innenministerium nun doch bereit erklärt, in einen Dialog mit den dissidenten Lehren einzutreten. Auch werden die Polizisten verhört, 100 von ihnen sollen an dem Tag des Massakers mit einer Schusswaffe im Einsatz gewesen sein. Doch die Behörden verfolgen ein doppeltes Spiel, denn gleichzeitig wird in staatsnahen Medien sogenannte "radikale Elemente" genannt, die hinter dem Aufstand der CNTE und den Ereignissen in Nochixtlán stehen sollen. Als Drahtzieher werden soziale Bewegungen, ja gar die Guerrilla genannt. Einmal mehr wird die soziale Unrast in Mexiko kriminalisiert.