Brasilien ebnet den Weg für Diktaturprozesse

Bundesstaatsanwaltschaft fordert Bestrafung von Verbrechen des Militärregimes. Vergangenheit beschäftigt brasilianische Gesellschaft seit Jahren

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Carlos Alberto Brilhante Ustra
Carlos Alberto Brilhante Ustra. Wird er verurteilt werden?

São Paulo. Die Justiz im brasilianischen São Paulo hat erstmals Anklage gegen Ex-Militärs wegen systematischer Folter und Mord während der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) erhoben. In einem bislang einzigartigen Vorgang wirft die Bundesstaatsanwaltschaft den ehemaligen Armeeangehörigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Die Ex-Militärs Carlos Alberto Brilhante Ustra und Aparecido Laertes Calandra sowie der noch im Polizeidienst beschäftigte Dirceu Gravina sollen den Journalisten Luiz Eduardo Merlino im Folterzentrum des Heeres in São Paulo 1971 zu Tode gefoltert haben. Dem Militärarzt Abeylard de Queiroz Orsin wirft die Anklage die Fälschung der Sterbeurkunde vor.

Merlino war Mitglied der Kommunistischen Arbeiterpartei (POC). Er wurde am 15. Juli 1971 in Santos verhaftet und ins Folterzentrum des Heeres nach São Paulo verbracht, das unter der Aufsicht von Carlos Alberto Brilhante Ustra stand. Dort sei er durch die drei nun Angeklagten 24 Stunden lang gefoltert worden. Merlino wurde später, bereits bewusstlos, ins Krankenhaus verbracht, wo Ustra laut Ansicht der Staatsanwälte anordnete, Merlino die medizinische Behandlung zu verweigern, "um ihn sterben zu lassen", so die Anklageschrift. Dies geschah laut Staatsanwaltschaft auch, um die Folterspuren zu vertuschen. Der Arzt Abeylard de Queiroz Orsin habe demnach nach dem Tod Merlinos dessen Sterbeakte gefälscht.

Das seit 1979 in Brasilien gültige Amnestiegesetz verhindert bislang jede strafrechtliche Aufarbeitung der Taten der Militärdiktatur. Bei der nun anstehenden Entscheidung in der Strafsache gegen Ustra, Calandra und Gravina geht es um die Frage, ob die Verbrechen der Folterer und Mörder durch das Amnestiegesetz gedeckt sind, oder ob sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich geahndet werden können. Die Zulassung der Klage vor Gericht ist bislang noch nicht erfolgt. Die Bundesstaatsanwaltschaft zeigte sich aber zuversichtlich.

Grund dafür ist auch, dass sich die Klage auf eine Entscheidung des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte aus dem Jahr 2010 bezieht. Darin wurde Brasilien unter Verweis auf das Amnestiegesetz aufgefordert, die Behinderung der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustellen. Zudem erwähnt die Klage gegen Ustra die unlängst publizierte Einschätzung des Generalanwalts der Republik Brasiliens, Rodrigo Janot, der zufolge die bisher gängige Gerichtspraxis, nach der Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Amnestie und Verjährung nicht zu ahnden sind, obsolet sei.

Dieser Einschätzung ungeachtet steht die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (STF) in Brasília aus. Denn das Amnestiegesetz ist nach wie vor gültig und der STF hatte es erst im April 2010 bestätigt. Doch am 31. März 2014 – anlässlich des 50. Jahrestages des brasilianischen Militärputsches – hatte der brasilianische Verband der Anwälte angekündigt, demnächst erneut vor den Obersten Gerichtshof ziehen zu wollen, um die Gültigkeit des Amnestiegesetzes erneut infrage zu stellen.

Carlos Alberto Brilhante Ustra hatte schon einmal wegen eines Prozesses in Brasilien für Schlagzeilen gesorgt: Er ist der erste Militär, der rechtskräftig verurteilt worden ist. 2008 hatte eine Familie aus São Paulo gegen Ustra geklagt. Strafrechtlich konnten sie ihm wegen des bestehenden Amnestiegesetzes nichts anhaben. Dennoch erreichten fünf Mitglieder der Familie Teles vor Gericht eine zivilrechtliche Verurteilung Ustras. Es ging bei dieser Feststellungsklage um das Recht der Mitglieder der Familie Teles, ihren Peiniger öffentlich als Folterer bezeichnen zu dürfen. Im August 2012 bestätigte der Justizgerichtshof von São Paulo in zweiter Instanz dieses Recht. Der Fall ist weiter vor Gerichten anhängig.