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UN-Bericht belegt soziale Ungleichheit in Chile

Ein Prozent der Bevölkerung verfügt über 33 Prozent der Einkünfte. Weit in die Vergangenheit reichende strukturelle Ungleichheiten existieren noch immer

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Proteste für bessere Bildung in Chile, hier im Oktober 2014
Proteste für bessere Bildung in Chile, hier im Oktober 2014

Santiago. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) hat eine mehr als 400 Seiten umfassende Untersuchung zur sozialen Ungleichheit in Chile vorgelegt und damit einen hohen Reformstau in der Sozial- und Umverteilungspolitik in dem südamerikanischen Land belegt. Dem Bericht  liegen eigene Befragungen sowie eine Auswertung von Daten aus drei Jahrzehnten zugrunde.

Seit Jahren führt Chile die Liste der ungleichen Einkommensverteilung in den OECD-Länder an. Gemessen wird diese mit dem Gini-Koeffizienten, der einen Wert zwischen null und eins einnimmt – je höher, desto ungleicher die Verteilung. In Chile beträgt er 0,47.

Der Bericht zeigt, dass ein Prozent der Bevölkerung (rund 180.000 Personen) 33 Prozent der gesamten Einkünfte erzielen. 0,1 Prozent der Superreichen vereinen 19,5 Prozent des Gesamteinkommens auf sich. Das entspricht einem Durchschnittseinkommen von fast 150.000 Euro monatlich. Die Autoren vermerken aber auch einen Rückgang der Einkommensungleichheit in den vergangenen 30 Jahren. Dies gehe vor allem auf den Lohnzuwachs im untersten Lohnsegment zurück.

Zwischen 1990 und 2015 sind die Reallöhne insgesamt um 120 Prozent gestiegen. 50 Prozent der Chilenen arbeiten im Niedriglohnsektor und verdienen so wenig, dass sie eine durchschnittliche Familie nicht allein versorgen könnten ohne unter die Armutsgrenze zu rutschen, die in Chile derzeit bei umgerechnet 462 Euro monatlich liegt. Hauptbetroffene sind junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren und Frauen ohne abgeschlossene Ausbildung. Die Armutsquote liegt dem Bericht zufolge nur deshalb bei vergleichsweise mäßigen 11,7 Prozent, weil in den meisten Haushalten mehr als eine Person zum Einkommen beiträgt. 70 Prozent der einfachen Arbeiter und 58 Prozent der Mittelklasse finden der Befragung zufolge deshalb auch, dass sie zu wenig verdienen und wünschen sich einen deutlichen Lohnanstieg.

Laut der Studie sind die Einkommensunterschiede vor allem auf die Spaltung des Arbeitsmarktes zurückzuführen: Auf den einen Seite findet sich ein hochproduktiver Sektor mit den qualifizierten Fachkräften, auf der anderen Seite der Niedriglohnsektor, in dem die Beschäftigungsdauer zwischen acht und elf Monaten liegt, was die prekäre Lebenssituation der dort Arbeitenden noch verschärft.

Einer der Schlüssel für die soziale Ungleichheit ist die Bildung. Der Zugang zu höherer Bildung hängt entscheidend von der sozioökonomischen Situation und dem Bildungshintergrund der Eltern ab. Um dies nachzuweisen, verfolgten die Autoren Bildungsbiographien anhand der Nachnamen von acht Millionen Chilenen zwischen 1960 und 1990. Unter den prestigeträchtigsten und am besten bezahlten Berufsgruppen (etwa Ärzte, Anwälte, Ingenieure) fanden sich vorwiegend Namen aus der alten spanischen Aristokratie und anderen Einwanderergruppen der traditionellen Elite. In den Berufen mit dem niedrigsten Prestige dominierten Namen, die einen indigenen Mapuche-Ursprung haben. Weit in die Vergangenheit reichende strukturelle Ungleichheiten existierten in Chile noch immer, schlussfolgern die Autoren.

Die Studie zeigt zwar, dass sich zwischen 1990 und 2015 der Anteil der Studierenden verfünffacht hat, vor allem auch durch die höhere Beteiligung in den unteren und mittleren Schichten. Doch die Segmentierung des Schul- und Hochschulsystems reproduziere die sozialen Ungleichheiten weiterhin. Studierende aus den unteren Klassen lernten an Einrichtungen mit schlechter Qualität und hoher Abbruchquote. Zudem sei der Arbeitsmarkt für die steigende Zahl der Absolventen begrenzt und viele könnten nicht entsprechend der Qualifikation beschäftigt werden.

Um offen zu legen, wie soziale Ungleichheit und ungleiche Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen zusammenhängen, wurde ausgewertet, an welchen Bildungsinstitutionen die Abgeordneten und Senatoren zwischen 1990 und 2016 ausgebildet wurden. Das Ergebnis: 50-60 Prozent der Politiker besuchten Privatschulen – der derzeitige Anteil unter allen Schülern beträgt dagegen nur acht Prozent. Die Elitebildung in der Politik zeigt sich besonders bei den Ministern, von denen nur 28 Prozent keine teure, private Einrichtung besucht haben.

Dass die Ergebnisse der Studie angesichts der bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im November durchaus brisant sein können, zeigt sich an der Reaktion von Präsidentin Michelle Bachelet, die genau diesen Aspekt aufgriff, um in einer TV-Sendung verbal gegen das neue Linksbündnis "Frente Amplio" zu schießen: "Was wir hier erleben ist nicht das plötzliche Auftauchen von Leuten aus der Arbeiter- oder der Mittelklasse. Gleichwohl sind da plötzlich diese neuen Parteien. Wenn Sie fragen, wer diese jungen Leute sind: Das sind Kinder von aktiven Mitgliedern etablierter Parteien."

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