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Erdbebenopfer in Mexiko kritisieren mangelhafte staatliche Nothilfe

Bislang wenig Hilfe für Überlebende. Lebensmittel werden knapp, Trinkwasser verteuert sich. Gemeindepräsidentin verteilt Hilfsgüter nur an Parteigänger

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Zerstörungen in San Dionisio del Mar, Oaxaca
Zerstörungen in San Dionisio del Mar, Oaxaca

Oaxaca/Chiapas/Tabasco. Die vom Erdbeben von der Stärke 8,2 (von zehn auf der Richterskala) betroffene Bevölkerung in Südmexiko reklamiert die unzureichende Nothilfe durch staatliche Stellen. Auch mehrere Tage nach der Katastrophe von der Nacht auf Freitag ist wenig Hilfe bei den Überlebenden angekommen, die Lebensmittel werden knapp und das Trinkwasser verteuert sich.

Das wahre Ausmaß wird nun nach und nach sichtbar: Der Zivilschutz von Oaxaca hat 41 Gemeindebezirke zum Katastrophengebiet erklärt, 800.000 Personen sind allein dort vom Beben direkt betroffen, weitere hunderttausende in Chiapas und in Tabasco. Bis am 11. September wurden insgesamt 96 Todesopfer geborgen, 76 davon in Oaxaca, 16 in Chiapas und vier in Tabasco.

Dass ein Beben von solcher Gewalt nicht viel mehr Todesopfer forderte, ist gemäß Beobachtern zwei Umständen zu verdanken: Dem Zeitpunkt, denn um Mitternacht befand sich die Bevölkerung in ihren meist einstöckigen Häusern und nicht in großen Gebäuden und auf Märkten, die zusammenstürzten. Zudem war das Epizentrum tief im Erdinnern, in 58 Kilomteren Tiefe, 120 Kilometer entfernt von der Küste. Innerhalb der ersten 72 Stunden nach dem Hauptbeben erlebte die Region über 1.000 teilweise heftige Nachbeben, welche die Bevölkerung immer wieder um ihre Häuser und ihr Leben bangen ließen. Die Betroffenen wagen sich nicht in ihre Häuser, das Leben findet auf der Straße vor den Trümmern statt.

Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto war mit Kabinettsmitgliedern und Gouverneuren in Oaxaca und Chiapas vor Ort und versprach schnelle Nothilfe, umfassende Schadenserfassung und Wiederaufbau. Doch viele Mexikaner sind skeptisch, was diese staatliche Hilfe angeht, und wittern die Gefahr, dass Politiker sich die Katastrophe zunutze machen werden, indem sie beispielsweise Hilfslieferungen nur ihren Parteigängern abgeben oder gar horten, um sie dann in den Wahlkampagnen im nächsten Jahr zum Stimmenkauf einzusetzen. Aus mehreren Gemeinden werden solche Irregularitäten gemeldet. So in San Dionisio del Mar, wo seit Jahren ein Konflikt zwischen der Versammlung der Windkraftprojekt-Befürworter und Gegnern besteht. In der Gemeinde versprach Gouverneur Alejandro Murat unparteiische Nothilfe für alle, doch die der regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) nahestehende Gemeindepräsidentin "verteilte die per Helikopter eingeflogenen Güter nur an Getreue", wie die Vollversammlung der Windkraftprojektgegner bekanntgaben. Eine von den Oppositionellen organisierte Hilfelieferung hingegen ging gleichentags an alle, ungesehen ihrer Ideologie.

Die mexikanische Gesellschaft, durch zahlreiche ähnliche Erfahrung in Katastrophensituationen vorgewarnt, vertraut nicht auf die staatlichen Hilfsprogramme. An allen Ecken und Enden des Landes werden für die Bevölkerung im Isthmus Lebensmittel gesammelt. Diese Hilfe, ebenfalls unzureichend, kommt zumindest direkt bei den Betroffenen an. So lieferte die oppositionelle Lehrergewerkschaft Sektion 22 der CNTE mehrere Lastwagen voll Hilfsgüter nach Juchitán. Die Pädagogikschule von Ayotzinapa organisierte eine Karawane nach San Francisco Ixhuatán, wo eine autonome Sekundarschule zusammengestürzt ist. Antropologiestudenten aus Mexiko Stadt konzentrieren sich auf die indigenen Ikoots-Dörfer. Mehrere lokale Nichtregierungsorganisationen haben sich unter der Ägide von Oxfam zu einer Mission zusammengeschlossen, die alle größeren Gemeinden besucht und insbesondere die staatliche Nothilfe kritisch beobachten wird. Auch in Deutschland und der Schweiz wurden Spendenaufrufe gestartet.

Die Katastrophe in Südmexiko geschieht in einem politisch brisanten Moment. Am Morgen nach dem Beben erklärte das Wahlinstitut INE den Wahlprozess 2018 offiziell als eröffnet. Die Parteien werden bis im Januar ihre Kandidaten bestimmen, im Juli ist die Präsidentschaftswahl. Die regiernde PRI kommt nicht aus den Negativschlagzeilen heraus. Der letzte große Skandal platzte Anfang September: Die Bundesregierung soll laut Recherchen einer NGO in Zusammenarbeit mit kritischen Journalisten von Animal Político über 128 Scheinfirmen hunderte von Millionen Pesos aus der Staatskasse abgezweigt haben. Das meiste Geld fehlt nun bei der Armutsbekämpfung. Und am Wochenende nach dem Erdbeben und den Beteuerungen der Regierung, den Opfern unter die Arme zu helfen, berichtete die konservative Tageszeitung Reforma auf ihrer Titelseite, dass die Familie des Sozialministers Luis Miranda an einer Tankstelle ihn ihrem Besitz gestohlenes und von der Mafia weiterverkauftes Benzin vertrieb.