Brasilien / Politik

Rousseff in Berlin: Prozess gegen Lula in Brasilien verurteilt

Ex-Justizministerin Däubler-Gmelin nennt Prozess gegen Ex-Präsident Lula da Silva einen Skandal. Früherer DGB-Chef spricht von Putsch

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Dilma Rousseff, die gewählte Präsidentin von Brasilien, am Dienstag bei einer Veranstaltung in Berlin
Dilma Rousseff, die gewählte Präsidentin von Brasilien, am Dienstag bei einer Veranstaltung in Berlin

Berlin. Politiker mehrerer Parteien haben sich im Rahmen eines Besuchs der gestürzten brasilianischen Präsidentin (2011-2016) Dilma Rousseff in Berlin mit der Politikerin solidarisiert und harsche Kritik an der derzeitigen Führung von De-facto-Präsident Michel Temer geübt. Ein Höhepunkt des Deutschland-Besuchs von Rousseff war am Dienstag eine Großkonferenz, an der auch die SPD-Politikerin und ehemalige deutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin teilnahm. Im Austausch beider Politikerinnen ging es vor allem um die gegenwärtigen Herausforderungen für die brasilianische Demokratie und die Politisierung der Judikative.

Der vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) ausgerichteten Kooperationsveranstaltung waren weit mehr als 400 Gäste gefolgt. Die Teilnehmer des Panels wiesen mehrfach auf den Rechtsmissbrauch bei der Absetzung Rousseffs 2016 und bei dem laufenden Verfahren gegen Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva hin.

Michael Sommer, stellvertretender Vorsitzender der FES und ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), erinnerte die Anwesenden des überfüllten Hörsaals an die Hoffnungen, die die Regierungen der Arbeiterpartei (PT) weltweit bei Gewerkschaftern geweckt hatten. "Wir wussten, dass eine oder zwei Präsidentschaften allein den Wandel nicht herbeiführen können. Aber der Wandel, den Sie in Brasilien herbeigeführt haben und die Ausstrahlung auf Lateinamerika und die Sozialdemokratie waren gewaltig", so Sommer an Rousseff gerichtet. Das mit dem im April 2016 initiierten Verfahren zur Amtsenthebung Rousseffs beginnende Ende der PT-Regierung führte Sommer auf die grundsätzlichen Interessenwidersprüche zwischen PT und den ökonomischen Eliten im Land zurück. "Die Reaktion hat zurückgeschlagen! Und zwar in Form eines politischen Protestes gegen Frau Rousseff und in Form einer Amtsenthebung. Es war letztendlich ein politischer Putsch."

Mit ebenso deutlichen Worten verurteilte auch die Juristin und frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin sowohl "das ungerechtfertigte Impeachment" Rousseffs, als auch das laufende Verfahren gegen den möglichen PT-Präsidentschaftskandidaten und früheren Präsidenten Lula. Dabei "seien insbesondere unter Rousseff viele Beiträge und Initiativen zur Korruptionsbekämpfung eingebracht worden", so Däubler-Gmelin. Nun erlebe das Land einen "schrecklichen Roll-back im politischen und sozialen Bereich". Die von Lula und Rousseff vorangebrachten Förderungen von Familien, der Kampf gegen Armut, die Förderung von Kindern und der Bildung seien betroffen.

Die beiden hätten eine nicht ganz unparteiische Medienlandschaft gegen sich, obwohl die fortschrittliche Verfassung und die Mediengesetze die Unabhängigkeit der Medien in vollem Umfang garantieren. "Doch Medienpluralismus existiert gerade in den Massenmedien in hoch korrupten Ländern mit gierigen Eliten nicht oder nur sehr schwach", so Däubler-Gmelin.

Eine Parteinahme der Judikative sah die Juristin auch bei der Aufarbeitung der Korruptionsskandale, insbesondere beim Prozess gegen Lula. Sie kritisierte "fehlende Unabhängigkeit, einseitiges Vorgehen und Entscheidungen der Vorverurteilung" sowie die Manipulation von Zeugen und Sachverhalten, ebenso wie den Umgang mit den Rechten der Beschuldigten. Es gebe erhebliche Zweifel, ob im Fall Lula ein fairer Prozess garantiert ist.

Stattdessen setze die Justiz auf Politisierung und nicht auf juristische und rechtsstaatliche Methoden und versuche "politische Gegner auszuschalten und die Interessen von Machteliten zu schützen". Das Verfahren gegen Lula habe etwas Groteskes an sich, so die frühere Bundesjustizministerin. Der gewählte Präsident werde dafür verantwortlich gemacht, wenn in einem staatlichen Unternehmen jemand die Hand aufgehalten oder ein anderer Korruptionsgelder gezahlt habe.

Dilma Rousseff, die von den Zuschauern mit anhaltendem Applaus begrüßt wurde, bemühte sich, den zuvor erwähnten "Roll-back" differenziert zu betrachten. "Der Staatsstreich besteht aus mindestens drei Akten, bei denen meine Amtsenthebung allenfalls der Anfang war", so die brasilianische De-jure-Präsidentin.

Der zweite Akt richte sich nun gegen die Bevölkerung. Unter der Regierung des früheren Vizepräsidenten Temer, die sich aus rechtskonservativen und neoliberalen Kräften rekrutiert, würden Maßnahmen durchgesetzt, die das Land sozial und wirtschaftlich um Jahre zurückwerfen. Gegen die PT-Politik des sozialen Ausgleichs hatte sich auf Seiten der Eliten und der oberen Mittelschicht ein massives Unbehagen entwickelt. "Der Elite Brasiliens schwebt ein Land vor, in dem es Wohlstand nur für die oberen 35 Millionen gibt, statt für die insgesamt 208 Millionen Menschen." Nun reagiere diese Elite mit massiven Kürzungen, einer Obergrenze für Sozialausgaben, mit einem Abbau sozialer und politischer Rechte, der Öffnung des Marktes für den Verkauf von Landflächen an ausländische Investoren, der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, der Zulassung von Formen moderner Sklaverei und der Privatisierung der Erdölreserven.

Der dritte Akt bestehe darin, die Präsidentschaftswahlen 2018 zu gewinnen, um sodann in der Folgezeit unbeliebte Maßnahmen wie die Rentenreform durchzuführen, die aktuell noch politischer Suizid wären, so Rousseff. Dafür versucht die politische Rechte, mit allen Mitteln die Kandidatur Lulas zu verhindern. "Es geht ihnen nicht darum, Lula endgültig zu verurteilen, solange er wegen einer Verurteilung in erster Instanz nicht zur Wahl antreten kann. Wenn sie ihn nach der Wahl freisprechen, ist es ihnen auch egal."

Darum sei es wichtig, rief Rousseff die Anwesenden auf, Lulas Kandidatur oder gegebenenfalls einen PT-Alternativkandidaten zu unterstützen.