Brasilien: Massenproteste gegen Regierung Bolsonaro wegen Angriff auf Renten

Bolsonaro plant Ende des Solidarprinzips und verteilt Posten für Zustimmung zur Rentenreform. Finanzierung durch private Anlagen

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Am Freitag demonstrierten in Brasilien an die 130.000 Menschen gegen die geplante neoliberale Rentenreform der Regierung, wie hier in Salvador, Bahia.
Am Freitag demonstrierten in Brasilien an die 130.000 Menschen gegen die geplante neoliberale Rentenreform der Regierung, wie hier in Salvador, Bahia.

Brasília/São Paulo. Rund 130.000 Menschen haben am vergangenen Freitag landesweit gegen die geplante Rentenreform der Regierung von Jair Bolsonaro demonstriert. In über 126 Städten waren Personen dem Aufruf eines breiten Bündnisses aus Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Kirchen und linken Parteien gefolgt. Allein in São Paulo kamen 70.000 Menschen auf der Avenida Paulista zusammen. Zeitweilig beteiligten sich am Streik auch die Busfahrer und legten dabei 350 Linien lahm. In den Fabriken der Automobilhersteller Ford und Mercedes-Benz führten Arbeiter Kundgebungen durch und beschlossen, sich an einem möglichen Generalstreik zu beteiligen.

Mit den Protesten reagierte das Bündnis auf eine Gesetzesvorlage der Regierung zur Reform des Rentensystems. Über diese soll demnächst im Parlament abgestimmt werden. Die Reform sieht gravierende Einschnitte in der Altersvorsorge vor. Um den Staatshaushalt zu entlasten, will die Regierung die Rente nicht mehr an den Inflationsausgleich koppeln, was eine Senkung der Rentenzahlungen bedeutet. Der Anspruch auf eine volle Rente soll nur noch nach 40 Jahren Beitragszahlung gewährt werden. Bei weniger Jahren sind drastische Abzüge geplant. Ferner soll das Renteneintrittsalter für Männer auf 65 und für Frauen 62 Jahre angehoben werden. Bei privater Vorsorge sollen weniger Jahre gelten.

Die Bildungsgewerkschafterin Sarah Ragaglia warnte vor der Erhöhung der Mindestbeitragsjahre. Diese "verschärft die Tendenz, dass die Jugendlichen noch früher in den Arbeitsmarkt drängen und dabei auf Ausbildung oder Spezialisierungen verzichten oder ihre Schulausbildung nicht zu Ende bringen".

Vor allem aber sieht der Reformtext von Wirtschaftsminister Paulo Guedes die Kapitalisierung der Rentenvorsorge vor. Mit der Begründung der “ökonomischen Nachhaltigkeit” plant Guedes, die Renten nicht mehr wie bisher über das staatlich verwaltete Solidarsystem zu finanzieren, sondern aus privaten Kapitalanlagen, in die die Beiträge eingezahlt werden sollen. Kritiker sprechen vom "ersten Schritt einer neoliberalen Altersvorsorge". Diese würde zukünftig allein in den Händen des Marktes liegen. Die Gewerkschaften befürchten wegen der Änderungen eine massive Zunahme der Altersarmut.

Die Proteste vom Freitag seien eine Feuerprobe gewesen, kündigte der Präsident des Gewerkschaftsverbandes (Central Única dos Trabalhadores, CUT), Vagner Freitas, an. "Wenn sie die Rentenreform zur Abstimmung stellen, werden wir den größten Generalstreik in der Geschichte des Landes durchführen", so Freitas vor Zehntausenden in São Paulo.

Ziel sei es nun, möglichst viele Abgeordnete dazu zu bringen, gegen das Gesetz zu stimmen. Das fordert das Bündnis "Frente Brasil Popular", dem neben der Arbeiterpartei PT auch soziale Bewegungen wie die Wohnungslosenbewegung MTST angehören. Aufgrund der geringen Popularität des Gesetzesvorhabens in der Bevölkerung trauten sich nur wenige Abgeordnete, sich öffentlich dafür einzusetzen, berichtet die Zeitung Estadão. Auch unter konservativen Parlamentariern seien die angekündigten Eingriffe in die Altersvorsorge sehr umstritten. Einer der wenigen Abgeordneten, der sich öffentlich für die Reform ausspricht, Vinicius Poit von der liberalen Partei Novo, sieht Brasilien "ohne die Reform auf die Insolvenz zusteuern".

Dieses Argument wird jedoch durch die Regierung selbst entkräftet. Im Februar hatte Bolsonaro angekündigt, ausstehende Rentenbeiträge der Agrarwirtschaft in Höhe von 15,3 Milliarden Reais (3,5 Milliarden Euro) erlassen zu wollen, um Produzenten zu unterstützen. Mit dem Schuldenerlass beuge sich der Präsident der Lobby der Großgrundbesitzer und der exportorientierten Agrarwirtschaft, schreibt der Nachrichtendienst Terra. Nur ein Prozent der Beitragsschulden entfallen auf Kleinbauern, geht aus den Zahlen der zuständigen Behörde PRR hervor.

Derzeit steht die Regierung mächtig unter Druck, um für die anstehenden Abstimmungen in Ausschüssen und Kammern die notwendigen Mehrheiten zu beschaffen. Mitte März wurde bekannt, dass Bolsonaro Stimmen kauft und Posten an Parlamentarier für deren Zustimmung zur Rentenreform verteilt. Dies bestätigen Audio-Aufnahmen, die der Zeitung O Globo zugespielt wurden. Mitglieder der Regierungspartei PSL sind darauf zu hören, wie sie über den Tausch "Posten für Stimme" sprechen. Bolsonaro hatte im Wahlkampf versprochen, den Stimmenkauf im Parlament als gängiges Mittel der Mehrheitsbeschaffung zu beenden.