Interne Anweisungen beim Militär in Kolumbien gefährden Zivilistenleben

Soldaten geraten verstärkt unter "Leistungsdruck". Armee müsse vorzeigbare Ergebnisse liefern. Journalist der New York Times verlässt das Land

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Präsident Iván Duque (vorne) Verteidigungsminister Guillermo Botero (links), gemeinsam mit den Generälen Luis Fernando Navarro (hinten links) und Nicacio Martínez (hinten rechts)
Präsident Iván Duque (vorne) Verteidigungsminister Guillermo Botero (links), gemeinsam mit den Generälen Luis Fernando Navarro (hinten links) und Nicacio Martínez (hinten rechts)

Bogotá. Der Oberbefehlshaber der Armee in Kolumbien, General Nicacio Martínez, soll seine Einheiten angewiesen haben, die Anzahl von getöteten oder festgenommen Kriminellen und Rebellen möglichst zu verdoppeln. Dies geht aus einem Artikel der US-amerikanischen Zeitung New York Times (NYT) vom Samstag hervor. Die Armee müsse "alles tun", um "Ergebnisse zu erzielen", zitiert Autor Nicholas Casey Aussagen während eines Militärtreffens. Dazu gehöre demnach die verstärkte Zusammenarbeit mit Paramilitärs, um "Informationen von rivalisierenden Banden" zu erhalten. Soldaten, die eine höhere Zahl von gefallenen Gegnern vorweisen können, erhielten indes mehr Urlaubstage angeboten.

In einem Dokument ordnete Martínez demnach an, eine Quote von 60 bis 70 Prozent hinsichtlich der Glaubwürdigkeit und Genauigkeit von Militäroperationen anzustreben. Dies lasse genügend Spielraum für "Fehler", die bereits zu "fragwürdigen Morden" geführt haben können, zitiert Casey zwei Offiziere. Allgemein senke die Anordnung die Schutzstandards gegenüber Zivilisten ab, so die militärischen Quellen der NYT. Es solle nun geprüft werden, wie viele Militäroperationen die Brigaden durchführen, um bei einer als zu gering eingeschätzten Anzahl die entsprechenden Kommandanten abzumahnen. Die interviewten Befehlshaber versicherten, dass Soldaten zuletzt wieder verstärkt unter Druck geraten. Im laufenden Jahr sei eine steigende Tendenz zur Vertuschung von Morden zu erkennen.

Die Enthüllungen der NYT deuten auf eine Rückkehr der internen Militärpolitik zu Praktiken der Jahre 2002 bis 2010 unter Präsident Álvaro Uribe hin, die den Tod unzähliger Zivilsten bedeutet hatten. Diese wurden damals als erfolgreich bekämpfte, gefallene Guerillakämpfer präsentiert, die als "falsos positivos" bezeichnet werden. "Wir machen wieder das, was wir früher gemacht haben", sagte einer der interviewten Offiziere.

In der Vergangenheit hatte Martínez noch als Oberst die Zahlung von einer Million Pesos (etwa 270 Euro) für Informationen genehmigt, die zur Tötung von zwei vermeintlichen Farc-Kämpfern führte. Es stellte sich jedoch heraus, dass die zwei indigenen Toten Zivilisten waren: ein Erwachsener und ein 13-jähriges Mädchen. Martínez war damals stellvertretender Kommandant einer Brigade, gegen die die Staatsanwaltschaft wegen 23 illegaler Hinrichtungen noch immer ermittelt.

Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch (HRW) hatte über den Fall informiert. Sie kritisierte im vergangenen Februar Präsident Iván Duque für seine Ernennungen der neuen Militärführung, die aus mindestens neun hohen Offizieren bestehe, gegen die es Hinweise auf Verwicklungen in Morde aus jener Zeit gibt. Auch demokratische US-Senatoren haben Duque vergangene Woche aufgefordert, die Ernennungen zu überdenken, insbesondere die des Generals Martínez.

Den prominentesten Fall, seitdem Martínez Oberbefehlshaber der Armee ist, stellt die Ermordung des Ex-Farc-Kämpfers Dimar Torres im vergangenen April dar. Kleinbauern bemerkten damals den Versuch von Militäreinheiten, Torres' Leiche verschwinden zu lassen. Kolumbiens Verteidigungsminister, Guillermo Botero, verharmloste zunächst die Tötung als Unfall und provozierte einen politischen Skandal. Bislang deutet alles auf einen Mord hin. Laut den militärischen Quellen der NYT sei dieser Fall zwar sehr bekannt, jedoch sei wahrscheinlich, dass andere Fälle unbemerkt bleiben.

Die Veröffentlichung des NYT-Artikels findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem ein rapider Anstieg von anonymen Morden an Aktivisten festzustellen ist. Der linke Senator Iván Cepeda wies kürzlich auf die Gefahr hin, dass auch Aktivisten den aktuellen Richtlinien des Militärs zum Opfer fallen könnten. Der Leistungsdruck gelte nicht nur für die Bekämpfung der Kriminalität, sondern kann auch "andere Formen der Gewalt" fördern, wie die Tötung von Anführern sozialer Bewegungen, erklärte Cepeda.

Die erste Reaktion von Martínez auf den Beitrag war ein Tweet mit den Worten: "Eine Unze Loyalität ist wertvoller als ein Pfund Intelligenz". In den sozialen Netzwerken wurde der Satz als Aufforderung an seine Männern gewertet, loyal zu bleiben. Dies sei ein Aufruf, damit nicht öffentlich werde, was momentan in der Armee passiert, schreibt die Zeitschrift Semana. Inzwischen verkündete Martínez die Rücknahme eines der in der NYT zitierten Dokumente. Es geht um ein Formular, in dem die Befehlshaber die Zahl von Getöteten für das Jahr 2019 festlegen sollten.

Mittlerweile hat der Autor und Leiter des NYT-Büros für die Andenregion Kolumbien vorzeitig verlassen. Dies gab Casey bekannt, nachdem die ultrarechte Senatorin María Fernanda Cabal der Regierungspartei Centro Democrático per Twitter fragte, wie viel Geld der Journalist von der Farc für den Beitrag bekommen habe. Diese Anschuldigung sei "falsch und gravierend angesichts der fragilen Sicherheitssituation für Journalisten" in Kolumbien, so Casey.