Wieder landesweite Streiks in Chile. Regierung zieht Militär heran

Proteste im Andenland reißen nicht ab. Menschenrechtsorganisationen prangern Polizeigewalt an

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Das Recht auf hochwertige und würdige Gesundheitsversorgung ist eine zentrale Forderung der Streikenden
Das Recht auf hochwertige und würdige Gesundheitsversorgung ist eine zentrale Forderung der Streikenden

Santiago. In Chile gehen die Proteste auch nach dem Abschluss der "Vereinbarung für den Frieden" (Acuerdo por la paz) zwischen Regierung und Opposition unvermindert weiter. Am 25. und 26. November fanden erneut große politische Streiks statt. Dazu aufgerufen hatten Vertreter der Gewerkschaften innerhalb des Bündnisses "Mesa de Unidad Social" (Tisch der sozialen Einheit) aus verschiedenen Branchen des privaten Sektors und des öffentlichen Dienstes. Als Streikgrund nannten sie die fehlende Teilhabe der Bevölkerung an den politischen Entscheidungsprozessen der letzten Wochen. Dabei hatten sich die Regierung und Teile der Opposition auf einen Abstimmungsprozess für eine neue Verfassung geeinigt. Außerdem blieben die zentralen Forderungen nach einer angemessenen Erhöhung des Mindestlohns, der Schaffung eines neuen Rentensystems sowie nach grundlegenden Veränderungen im Bildungs- und Gesundheitssystem in der "Vereinbarung für den Frieden" unerwähnt.

Die Präsidentin des Gewerkschaftsbundes CUT (Central Unitaria de Trabajadores), Bárbara Figueroa, sprach von einer Übereinkunft über einen Prozess, der "nicht die Tiefe der derzeitigen Krise berücksichtigt". Mario Aguilar, Präsident der Lehrergewerkschaft, forderte eine verfassungsgebende Versammlung "ohne Kleingedrucktes". Die vorliegenden Vorschläge der Regierung würden, so Aguilar, nichts gegen die Ungleichheit im Land bewirken. Vielmehr würde damit das neoliberale Modell ausgebaut und eine Steuererhöhung für die reichen Schichten verhindert. Außerdem fordert der Tisch der sozialen Einheit das sofortige Ende der Unterdrückung und Kriminalisierung der Protestbewegung sowie eine Kommission für Gerechtigkeit und Wahrheit. Nach Angaben des Vertreters der Hafenarbeiter ruhte am Montag und Dienstag in 24 Häfen landesweit die Arbeit. Dem Streik schlossen sich demnach auch Beschäftigte des Transportbereichs und der Flughäfen an. Ziel der Aufrufer war es, dass an beiden Streiktagen eine Million Menschen die Arbeit ruhen lassen und sich an den Protesten beteiligen.

Ein zentrales Thema war auch die Verurteilung geschlechtsspezifischer Gewalt. Am Montag wurde der jährlich am 25. November stattfindende "Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen“ in die Proteste einbezogen. Unterschiedliche feministische Organisationen führten in diesem Kontext künstlerische Interventionen durch und prägten die Demonstrationen.

Nach den schon mehr als fünf Wochen andauernden Protesten sucht Präsident Sebastián Piñera nach Wegen, um die Ordnungskräfte weiter zu verstärken. So soll ermöglicht werden, auch Polizisten im Ruhestand für Einsätze heranzuziehen. Darüber hinaus kündigte Innenminister Gonzalo Blumel vergangene Woche an, 2.500 Polizeischüler vorzeitig in Dienst zu stellen. In dieser Woche brachte Piñera zudem ein Gesetz in den Kongress ein, das es erlauben soll, das Militär auch ohne Ausrufung des Ausnahmezustands im Inland einzusetzen. Die Soldaten sollen "kritische Infrastruktur" wie die Wasser-, Strom- und Gasversorgung, aber auch den öffentlichen Personenverkehr schützen. Das betrifft auch die U-Bahnen. Auf deren Bahnhöfen kam es während der Proteste immer wieder zu Auseinandersetzungen und Bränden.

Vertreter der Opposition kritisieren, dass die Regierung nicht auf die Forderungen der Bevölkerung eingehe. Stattdessen würden Gesetze erlassen, die die Unterdrückung der Demonstrationen ermöglichten. Claudia Mix von der Partei Comunes wirft dem Präsidenten vor, zum wiederholten Male Öl ins Feuer zu gießen. Piñera höre nicht auf die Menschenrechtsorganisationen. Das Militär sei nicht dafür ausgebildet, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.

Zuletzt hatten Berichte über Menschenrechtsverletzungen die Debatte weiter angeheizt. So wurde bekannt, dass die angeblichen Gummigeschosse, die die Polizei trotz Verbots weiter gegen Demonstrierende einsetzt, nur zu 20 Prozent aus Gummi bestehen und unter anderem Blei enthalten. Auch Amnesty International (AI) wirft  den Sicherheitskräften "unverhältnismäßige Gewaltanwendung" vor. Deren Ziel sei es, "die Demonstranten zu schädigen und zu bestrafen".

Regierung und Sicherheitsbehörden weisen solche Vorwürfe entschieden zurück. AI beschuldigen sie, parteiisch zu sein und zu Protesten aufzurufen. Die Organisation Human Rights Watch händigte in diesen Tagen Präsident Piñera ihren Bericht aus. Darin ist die Rede von Folter, sexueller Gewalt und Misshandlungen durch Polizisten. Geschildert wird, wie sich Inhaftierte nackt ausziehen und Kniebeugen machen mussten. Für Senator Guido Girardi von der Partei für die Demokratie (Partido por la Democracia) erinnern diese Szenen "an den Albtraum, den Menschen während der Militärdiktatur durchmachten".

Nach den Zahlen des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) forderten die Proteste seit Beginn bisher 2.808 Verletzte, die in Krankenhäusern behandelt werden mussten. 1.737 Personen erlitten Schussverletzungen, darunter 49 durch scharfe Munition. 473 wurden von nichtidentifizierten Geschossen und 1.180 von sogenannten Gummigeschossen getroffen. Wegen unverhältnismäßigen Gewalteinsatzes und Folter wurden 478 Angehörige der Sicherheitsapparate angezeigt, 79 davon aufgrund sexueller Gewalt und vier wegen Vergewaltigung.