Kollektiv “Las Tesis” aus Chile überrascht vom weltweiten Erfolg ihrer Performance

Künstlerinnen wollen Massen erreichen und hoffen auf tiefgreifende Veränderungen durch die anhaltenten sozialen Proteste in Chile

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Schlagartig weltweit bekannt: Das Kollektiv Las Tesis, hier bei einer TV-Podiumsdiskussion am vergangenen Wochenende
Schlagartig weltweit bekannt: Das Kollektiv Las Tesis, hier bei einer TV-Podiumsdiskussion am vergangenen Wochenende

Santiago. Am 20. November ist die Performance "Ein Vergewaltiger auf deinem Weg" erstmals in der chilenischen Hafenstadt Valparaíso, Heimat des Kunstkollektivs Las Tesis, aufgeführt worden. Am 25. November wurden sie eingeladen, ihre Choreografie am internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen in der Hauptstadt Santiago zu zeigen und von dort aus wurden die Videos viral. Seitdem ist "Egal, wo ich war oder wie ich gekleidet war, es ist nicht meine Schuld. Der Vergewaltiger bist du!" unter anderem in Mexiko-Stadt, New York, Istanbul, Nairobi, Beirut und auch in Berlin erklungen. Die Performance wird weltweit von tausenden Frauen aufgeführt.

Die Urheberinnen, Daffne Valdés, Sibila Sotomayor, Lea Cáceres und Paula Cometa, haben sich Anfang 2018 zu einem Kollektiv zusammengetan. “Unser Ziel ist, Menschen zu erreichen, die keine Bücher von Feministinnen lesen. Das, was ihr als 'Ein Vergewaltiger auf deinem Weg' kennt, ist die Zusammenfassung der Zusammenfassung der Zusammenfassung unserer Arbeit", sagte Sotomayor der Zeitung La Estrella de Valparaíso.

Auch die Kleidung der vier Künstlerinnen deutet auf ihre Auseinandersetzung mit der Frauenbewegung hin: Die roten Latzhosen erinnern an die Uniformen der Frauen, die zwischen den beiden Weltkriegen in Fabriken gearbeitet haben. Ihre Interventionen richten sich an die Massen, sollen “pop-mäßig” sein: “Wir wollen Ohrwürmer schaffen”, so Las Tesis, die alle Entscheidungen gemeinsam treffen.

Dass die von ihnen geschriebenen Zeilen nun in aller Welt widerhallen, davon waren die vier Frauen selbst überrascht. "Wir glauben, es hängt damit zusammen, dass das Lied einen gemeinsamen Kampf anspricht, in Lateinamerika, Europa, Asien, Ozeanian, Afrika. Einen Kampf, den wir leider immer noch führen müssen, und deswegen hat das Lied so eingeschlagen”, meinten Sotomayor und Valdés gegenüber Deutsche Welle.

Dass nicht nur die Straßenperformance adaptiert wurde, sondern viele Nutzerinnen im Internet die Zeilen "Es war nicht meine Schuld..." auch nutzten, um von ihrer Erfahrung mit sexueller Gewalt zu erzählen, hat die Macherinnen berührt. "Es war eine große Katharis. Hoffentlich hat sie heilsame Kraft", so Sotomayor.

Der Text wurde in vielen Ländern den lokalen Gegebenheiten angepasst, was die Entwicklerinnen begrüßen: Sie erklärten das Lied zum “Erbe der Menschheit”. Das Kollektiv musste mit Bekanntwerden des Songs noch schnell Social Media Accounts schaffen, um falschen Konten zuvorzukommen. Neben viel Zuspruch wurden sie dort auch mit Hass überschüttet. Jemand bot ihnen Geld für das Copyright, andere vermuteten, sie würden von Nicolás Maduro, dem Präsidenten von Venezuela, oder vom US-Geheimdienst CIA bezahlt.

"Ein Vergewaltiger auf deinem Weg" prangert nicht nur Gewalt gegen Frauen an, sondern auch die Mittäterschaft des Staates. Die Polizei, die Richter und der Staat seien mitschuld an Feminiziden, Vergewaltigung und gewaltsamem Verschwindenlassen. Der Titel spielt auf das Motto der chilenischen Polizei in den 1980er Jahren, "Ein Freund auf deinem Weg", an. Die Strophe "Schlaf ruhig, unschuldiges Mädchen, der Carabinero beschützt dich" ist der Polizeihymne entnommen. Diese Ironie wird von der Protestbewegung, die Chile seit September auf den Kopf stellt, verstanden. Außerhalb wird die Zeile wohl eher Kopfschütteln verursacht haben.

Wogegen sich "Las Tesis" allerdings wehren, ist die Verniedlichung ihres Liedes. "In den Medien wurde gesagt: 'Was für eine süße Choreografie, und so friedlich!'. Wir finden nicht, dass wir friedlich sind, im Gegenteil: Die Botschaft ist so ansteckend wie das Feuer einer Straßenbarrikade", so Valdés. Das empfänden offensichtlich auch die Machthaber so, schließlich stünden in der Türkei die ersten Frauen wegen der Aufführung vor Gericht und auch in Chile seien die Künstlerinnen mit Tränengas und Pfefferspray angegriffen worden.

Befragt zu der Protestwelle seit dem 18. Oktober, an der sie beteiligt sind, erklärte Sotomayor: "Heute erlebt unser Land eine starke soziale Explosion. Die Möglichkeit der Schaffung einer neuen Verfassung wird diskutiert. Und eine der Forderungen ist die Gleichstellung, eine verfassungsgebende Versammlung, die gleichberechtigt und auch plurinational ist, damit wir auf der Grundlage der Verfassung auch alle notwendigen Veränderungen in der staatlichen Politik herbeiführen können, sodass es in diesen Fällen von Gewalt gegen Frauen und Gewalt im Allgemeinen, wie wir sie in den letzten Monaten in unserem Land erlebt haben, keine Straffreiheit gibt."

Es bestehe die Hoffnung, dass diese soziale Explosion zu den geforderten tiefgreifenden Veränderungen führt, fügte Valdés hinzu. Es gebe kein Zurück mehr: “Wie auch immer, es wird nicht mehr dasselbe sein wie vorher. Wir wissen nicht, wie effektiv oder radikal diese Veränderungen sein können, aber es kann nicht so weitergehen wie bisher, denn im Grunde ist dies ein System, das zusammengebrochen ist. Es hat auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene nichts mehr zu bieten.”