London/Port-au-Prince. Eine internationale Studie erhebt erneute schwere Vorwürfe gegen die 2017 beendete UN-Mission Minustah in Haiti. Die UN-Blauhelme haben in der Karibiknation demnach während der Stationierung zwischen 2004 und 2017 Hunderte sexuelle Übergriffe begangen. Überwiegend Frauen und Mädchen waren betroffen. Die neue Studie wirft den verantwortlichen Militärs und der UNO nun auch vor, sie ihrem Schicksal überlassen zu haben. Sie seien dadurch mehrfach geschädigt und litten bis heute unter den Langzeitfolgen.
An der Minustah waren bis zum Abzug der letzten Mitglieder im Jahr 2017 nach Angaben der Bundesregierung zeitweise auch deutsche Bundespolizisten beteiligt, darunter eine Beamtin, die in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince in einer Eingreiftruppe der UN gegen sexuellen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung eingesetzt war.
Dass dieser Einsatz kaum Erfolg hatte, zeigt die Studie der britischen Historikerin und Friedensforscherin Sabine Lee und der kanadischen Medizinerin Susan Bartels. Ihre Untersuchung fußt auf Interviews mit rund 2.500 haitianischen Frauen, die im Jahr 2017 in der Nähe von UN-Basen lebten. Ihnen wurde eine Reihe von Fragen zu den Auswirkungen einer Blauhelmmission auf die weibliche Bevölkerung vor Ort gestellt.
Freiwillig und unaufgefordert sprachen 265 der Interviewten von Situationen, in denen Mitglieder der Blauhelme einheimische Frauen und Mädchen im Alter ab elf Jahren missbraucht haben. Zahlreiche der Mädchen und Frauen wurden schwanger.
Die Täter dieser Sexualdelikte kamen der Erhebung zufolge aus 13 unterschiedlichen Ländern. Bei den meisten von ihnen handelte es sich dem Dokument zufolge um Brasilianer oder Uruguayer; diese beiden Länder stellten die größten Kontingente der Minustah. In den meisten Fällen habe die UNO, nachdem sie auf die Übergriffe aufmerksam wurde, die Männer, anstatt Disziplinarmaßnahmen zu ergreifen, in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt.
Die Studie zitiert Dutzende Berichte aus nationalen und internationalen Medien über Fälle, in denen die Blauhelme sowohl in Haiti als auch in anderen Ländern, in die sie entsandt worden waren, Lebensmittel und kleine Geldbeträge im Tausch gegen Sex mit Minderjährigen anboten.
Die Konsequenzen waren noch lange nach den Missbräuchen zu spüren. "Viele Frauen wurden verlassen und mussten ihre Kinder in einer Situation des Elends und der Stigmatisierung allein aufziehen", heißt es in der Studie, deren Ergebnisse vom britischen Wissenschaftsportal The Conversation publiziert wurden.
Während die UNO inzwischen die Existenz von Fällen sexueller Ausbeutung durch Blauhelm-Soldaten in Haiti und in anderen Ländern zugegeben hat, veranschaulicht die Studie die Tragweite dieser kriminellen Machenschaften.
In Reaktion auf die neue Studie hieß es aus dem UN-Hauptsitz in New York, man nehme die in dem Bericht aufgeworfenen Fragen ernst. Die Bekämpfung des Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung durch Blauhelm-Soldaten habe für UN-Generalsekretär Antonio Guterres höchste Priorität. "Leider haben wir auch in den vergangenen Jahren entsprechende Fälle registriert, bei denen Blauhelme involviert waren, obwohl die Zahl der Vorwürfe seit 2013 zurückgegangen ist", heißt es in der Erklärung der UNO.
Die Vereinten Nationen haben inzwischen auch bestätigt, dass mehr als 100 srilankische Blauhelme zwischen 2004 und 2007 in Haiti ein Menschenhandelsnetz aufgebaut hatten. Auch sie wurden dafür nicht bestraft, sondern lediglich in ihr Land zurückgeschickt.
Die Zahl der Frauen, die durch den Missbrauch schwanger wurden, ist in der britischen Studie nicht angegeben. Aber verschiedene Experten und Sozialarbeiter in Haiti beklagten erhebliche Folgeprobleme nach Schwangerschaften durch sexuellen Missbrauch durch UN-Blauhelme. Die UNO lasse den Frauen nicht die notwendige Hilfe zukommen.
Bei den in Haiti dokumentierten Fällen handelt es sich nicht um die ersten und einzigen Zwischenfälle dieser Art bei UN-Militärmissionen. Zwischen 1990 und 1998 wurden im nordwestafrikanischen Liberia Tausende Frauen und Mädchen von UN-Soldaten missbraucht, auch dort wurden viele von ihnen schwanger. Ähnliche Ereignisse wurden auch in Mosambik, Bosnien, der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik dokumentiert.
Die Autoren der britischen Studie empfehlen, dass die UNO ihre Mitarbeiter über die Notlage misshandelter Frauen und der von ihnen gezeugten Kinder aufklärt. Sie drängen die UN-Führung auch, die Täter den lokalen Behörden zu übergeben und die Rückführung zu stoppen, wenn entsprechende Fälle aufgedeckt werden.