Santiago de Chile. Alicia Bárcena, die Leiterin der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik der Vereinten Nationen (Cepal), hat sich besorgt über die möglichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf diese Weltregion gezeigt. Laut Cepal sind Lateinamerika und die Karibik die Region mit der ausgeprägtesten Ungleichheit, sogar vor dem subsaharischen Afrika. Für 2019 zählte die Wirtschaftskommission in absoluten Zahlen einen Zuwachs von sechs Millionen Armen im Vergleich zum Vorjahr. Zu Jahresbeginn 2020 galten somit 190 Millionen Menschen als in Armut lebend, darunter 70 Millionen in extremer Armut.
Laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) zählt Lateinamerika zu den Weltregionen mit dem höchsten Anteil an informell Beschäftigten. 53 Prozent der Lateinamerikaner arbeiten demnach im informellen Sektor. Diese Menschen werden von Maßnahmen wie Ausgangssperren besonders hart getroffen, da sie dadurch de facto ihrer Einkommensquellen beraubt werden. Zwischen 2014 und 2020 hatte Lateinamerika Cepal zufolge außerdem das niedrigste Wirtschaftswachstum seit Jahrzehnten.
Bárcena stellt fest, dass die Gesundheitssysteme ungenügend und kaum in der Lage sind, den momentanen Anforderungen zu genügen. Ein sehr großes Problem stelle auch die Ungleichheit im Zugang zu Gesundheitsversorgung dar. Unter den Armsten der Armen verfügt überhaupt nur ein Drittel über irgendeine Form der Krankenversicherung.
"Angesichts dieser Situation benötigt die Region keine Regulierungsmaßnahmen, sondern solche, die das Wirtschaftswachstum erhöhen und die Ungleichheit reduzieren“, stellt Bárcena fest. Um den Herausforderungen durch das Coronavirus gerecht zu werden, müsse über eine verstärkte regionale Integration und eine Abkehr vom bisherigen Wirtschaftsmodell nachgedacht werden.
Die Folgen für die Schwächsten zeigen sich unter anderem auch in den staatlichen "Migrantenunterkünften" in Mexiko, in denen vor allem Menschen aus Mittelamerika festgehalten werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich um die Geflüchteten kümmern, berichten von Überfüllung, katastrophaler medizinischer und hygienischer Grundversorgung sowie dem Fehlen von Sicherheitsprotokollen zur Verhinderung eines Ausbruchs des Coronavirus.
Alejandra Marcías Delgadillo, Geschäftsführerin der Nichtregierungsorganisation Asylum Access México, gab bekannt, dass ihre Organisation zum Schutz der Migranten und ihrer Mitarbeiter keine Unterkünfte mehr besucht. Eine Anfrage bei der mexikanischen Einwanderungsbehörde INM, welche Maßnahmen zum Schutz der Migranten laufen und geplant seien, bleibt bis dato unbeantwortet.
Unterdessen ist ein Brief von Papst Franziskus publik gemacht worden, in dem er sich zur Lage in Lateinamerika und der Karibik äußert. Die Reaktion so vieler Menschen, die ihr Leben riskieren, um Menschen zu heilen und zu beschützen, erfreue ihn. Er lobt die Regierungen, die nach der Maxime "Die Menschen zuerst" handelten. "Und dies ist wichtig, weil wir alle wissen, dass die Menschen zu verteidigen ein Rückschlag für die Wirtschaft ist." Das Gegenteil wäre traurig, weil es "den Tod sehr vieler Menschen bedeuten würde, so etwas wie einen viralen Genozid". Mit Blick auf die Zukunft nennt er Folgen der Corona-Krise, die bald bekämpft werden müssten: "Hunger, vor allem bei den Menschen ohne feste Arbeit (Gelegenheitsarbeiter etc.), Gewalt, das Auftauchen von Wucherern (die die wahre Pest der Zukunft der Gesellschaft sind)."