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Offensive gegen Kokaanbau während Corona-Pandemie und Ausgangssperre in Kolumbien

Regierung fliegt Einsätze in mehreren Regionen. Kokabauern zwischen Gewalteinsatz durch den Staat und Verlust der Existenzgrundlage

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Kokabauern protestieren gegen die gewaltsame Zerstörung ihrer Felder
Kokabauern protestieren gegen die gewaltsame Zerstörung ihrer Felder

Bogotá. Auch in Zeiten der Pandemie macht Präsident Iván Duque keine Ausnahmen im Kampf gegen den Kokaanbau durch Kleinproduzenten. Trotz der landesweiten Ausgangssperre, die Duque am 24. März als Schutz- und Präventionsmaßnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus verhängte, werden seit rund einem Monat massive militärische Operationen zur Ausrottung von Kokapflanzen durchgeführt. So zum Beispiel in den Departamentos Antioquia und Chocó, Norte de Santander, Nariño, Putumayo und Caquetá. Dort sind Soldaten und Arbeiter teils eigens mit Hubschraubern zum Ausreißen und Zerstören (unter Anwendung von Glyphosat) der Pflanzen in die abgelegenen und daher schwer erreichbaren Gebiete eingeflogen worden. In Gegenden, wo momentan laut Anwohnern, lokalen Bauernorganisationen und Kokabauern nicht mal die Corona-Hilfspakete ankämen.

Das Nachrichtenportal Prensarural bezeichnet das harte Vorgehen des Präsidenten gegenüber den Kleinbauern als "tickende Zeitbombe". So komme es derzeit zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Bauern und Militärs, bei denen die Soldaten nicht nur mit Gas- und Gummigeschossen gegen die Protestierenden vorgehen, sondern auch scharfe Waffen einsetzten. Mindestens zwei Tote und Dutzende Verletzte sind bisher zu beklagen.

Anlass für das Vorgehen der Regierung könnten der Anfang des Jahres vorgestellte Bericht des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung  und Aussagen der US-Drogenbehörde DEA sein, wonach rund 90 Prozent des in den USA verkauften Kokains im Jahr 2019 (rund 951 Tonnen) in Kolumbien produziert wurden.

Der Parlamentsabgeordnete im Departamento Putumayo, Yule Anzueta, erklärt, dass die Regierung selbst schuld sei an der Ausweitung des Kokaanbaus. Durch die Nicht-Einhaltung und Aussetzung des "Nationalen Programms zur Substitution illegal genutzter Nutzpflanzen", das im Rahmen des Friedensvertrags unter Punkt 4 vereinbart wurde, hätte sich in der Region der Anbau wieder ausgeweitet.

Mit Abschluss des Friedensvertrages zwischen der Guerilla Farc-EP und der Regierung hatten sich landesweit 99.097 Kokabauern freiwillig verpflichtet, auf den Kokaanbau zu verzichten, sagt Hermenides Moncada, Bürgermeister von Sardinata (Norte de Santander). Die staatliche Gegenleistung sieht eigentlich einen Sofortmaßnahmenplan vor, bei dem eine Bauernfamilie eine einjährige finanzielle Unterstützung in Höhe von monatlich 300 Euro als Ausgleichszahlung erhält. Außerdem sollen kurz- und langfristige Projekte zur Ernährungssicherheit und Einkommensgenerierung gefördert werden. Zusätzlich sollte es durch die "Integrativen Pläne zur Substitution und alternativen Entwicklung" zu sozialen Investitionen für eine nachholende und nachhaltige Entwicklung in den Koka-Anbaugebieten kommen.

Kritisiert wird, dass Zehntausende Bauernfamilien, die sich beworben hatten oder nachträglich in das Programm einsteigen wollten, ausgeschlossen wurden. Zudem blieben die zugesagten Investitionen zur Reduzierung der strukturellen Benachteiligung aus. Auch die durch den Sofortmaßnahmeplan unterstützten Familien sowie vor allem die Projektförderungszahlungen sollen in vielen Fällen nicht erfolgt sein. Hinzu kommt, dass diese Zahlungen an die Familien nun ausgelaufen sind.

Betroffene zeigen sich besorgt, dass ohne eine Einigung und ohne Alternativangebote die Ausreißoperationen am Ende nichts bringen werden, da die Kokapflanzen innerhalb kürzester Zeit wieder neu angebaut seien. Den Bauern bliebe dann gar keine andere Wahl, als sich über die Einnahmen aus dem Verkauf von Kokablättern die Existenz zu sichern, betont auch Víctor Darío Luna, Mitglied des Hohen Gemeinderates in Nóvita (Chocó), einer Gemeinschaft, die seit dem 20. April von der Regierungsoffensive betroffen ist.

Präsident Duque hat indes klar gemacht, dass er der Bitte der betroffenen Kokabauern nach einer Aussetzung der Operation während der Pandemie nicht nachkommen wird.

Ob bei diesen Einsätzen die Corona-Ansteckungsgefahr durch die Sicherheitskräfte wirklich nicht gegeben ist, wie es das Verteidigungsministerium verlauten lässt, ist angesichts der Tatsache, dass vor etwa vier Wochen Hunderte Personen (Farc-Dissidenten, Polizisten und Militärs) in die fünftgrößte Koka-Anbauregion des Landes bei Sardinata einmarschiert sein sollen, jedoch nicht auszuschließen. In den peripheren Gebieten mit schlechter bis nicht bestehender Gesundheitsversorgung wären die Auswirkungen einer Verbreitung des Coronavirus katastrophal.

Die Kokabauern wiederum äußern, dass sie weder ohne Koka noch ohne finanzielle Unterstützung des Staates wissen, wovon sie Nahrungsmittel, Hygiene- und Gesundheitsartikel kaufen sollen und wie sie überhaupt überleben können. Aus existenziellen Ängsten heraus und um ihre Einnahmequelle nicht zu verlieren, werden sie daher mit allen Mitteln gegen die Vernichtung ihrer Kokapflanzungen protestieren und streiken. Die dreitägige Blockade der wichtigen Kohletrasse bei Sardinata Ende März durch rund 800 Bauern und die aktuellen Blockaden bei Tumaco könnten daher erst der Anfang einer bevorstehenden Massenmobilisierung sein.