Kritische Stimmen zur Politisierung der Menschenrechtslage in Venezuela

"Voller Trugschlüsse und mangelnder Präzision": Über Regierung hinaus äußern Parteien und Fachkreise Unmut über Bericht der UN-Mission

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Generalstaatsanwalt Saab (links) und Außenminister Arreaza bei ihrer gemeinsamen Pressekonferenz
Generalstaatsanwalt Saab (links) und Außenminister Arreaza bei ihrer gemeinsamen Pressekonferenz

Caracas. Der venezolanische Außenminister Jorge Arreaza und der Generalstaatsanwalt des Landes, Tarek William Saab, haben eine gemeinsame Pressekonferenz abgehalten, um einen Bericht zu behandeln, der am 16. September von einer "unabhängigen internationalen Erkundungsmission" des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen (UN) vorgelegt wurde.

Arreaza betonte, dass eine gültige UN-Resolution die Zusammenarbeit Venezuelas mit dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte regele. Die Resolution 42/4 wurde 2018 verabschiedet, 2019 bestätigt und solle auch in diesem Jahr erneuert werden. Die Regierung Venezuelas habe die "Erkundungsmission" des Menschenrechtsrats, die von mehreren Mitgliedsländern eingesetzt wurde, abgelehnt und als voreingenommen gegen die legitimen Institutionen des Landes eingeschätzt.

Insbesondere wies der Außenminister die Anschuldigung zurück, die Menschenrechtsverletzungen im Land gingen auf eine systematische Politik der Regierung und Staatsführung zurück.

Generalstaatsanwalt Saab legte eine Bilanz der Strafverfolgungsmaßnahmen vor, die seit seinem Amtsantritt im August 2017 zur Ahndung von Menschenrechtsverletzungen unternommen worden seien.

Allein im September dieses Jahres habe seine Behörde bei den zuständigen Gerichten beantragt, 70 Beamte der Polizeispezialeinheit (FAES) in verschiedenen Bundesstaaten des Landes anzuklagen. Diese Einheit ist immer wieder beschuldigt worden, beim Vorgehen gegen Bandenkriminalität außergerichtliche Hinrichtungen zu begehen.

Insgesamt seien im genannten Zeitraum 804 Beamte und 123 Zivilpersonen angeklagt worden. Dazu gehörten 234 Beamte der Polizeien der Bundesstaaten, 158 Beamte der Kriminalpolizei Cicpc, 153 Beamte der Bolivarischen Nationalpolizei und 92 Mitglieder der Bolivarischen Nationalgarde. Die erhobenen Vorwürfe lauteten auf Mord, Folter, unmenschliche und erniedrigende Behandlung, Freiheitsberaubung, Verletzung des Wohnsitzes und andere Verbrechen.

All diese Maßnahmen seien von der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, anerkannt worden, betonte Saab.

Indes kritisierte auch die Vereinigung der venezolanischen Juristen den Bericht der "Erkundungsmission". In einer öffentlichen Erklärung wiesen die Fachleute auf die Unterschiede und Widersprüche zwischen den Untersuchungen des UN-Hochkommissariats, das erst vor kurzem eine Notiz veröffentlichte, in der es die Zusammenarbeit und technische Hilfe der venezolanischen Regierung hervorhob, und der "Unabhängigen internationalen Erkundungsmission" hin. Man müsse dabei auch die "internen Machtkämpfe innerhalb des UN-Rahmens" beachten.

Nach Meinung der Juristen habe die spätere Resolution 42/25 (die die "Erkundungsmission" installiert hat) "keine Rechtfertigung und impliziert eine klare Verdoppelung der Anstrengungen und Ressourcen" in Bezug auf die Mandate der früheren Resolution 42/4 des Menschenrechtsrates, die den venezolanischen Staat verpflichte und durch die eine Agenda zwischen dem Staat und dem UN-Kommissariat für Menschenrechte entwickelt worden sei.

Die Resolution 42/25 habe "das klare Ziel, die Beziehungen des Dialogs, der Zusammenarbeit und der technischen Hilfe zwischen Venezuela und dem Amt der Hohen Kommissarin für Menschenrechte zu behindern", so die Stellungnahme.

Diese Einschätzung äußerte ähnlich auch der venezolanische Kriminologe Andrés Antillano in einem Interview mit der Tageszeitung Neues Deutschland. Multilaterale Menschenrechtspolitik sei eine wichtige Errungenschaft. "Um effektiv zu sein, müssen aber universelle Maßstäbe angesetzt werden, die für alle Länder gelten und dürfen sich nicht an der Agenda mächtiger Akteure orientieren." Es gebe den Bericht der "Erkundungsmission" betreffend "zumindest begründete Zweifel" an dessen Rückschlüssen.

Antillano äußerte sich besorgt, dass der Bericht die "gerade begonnene Öffnung" in dem polarisierten Land und die Gespräche zwischen Regierung und Opposition über die Parlamentswahlen am 6. Dezember torpedieren könne.

In einer Stellungnahme des Politbüros der kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) heißt es, sie habe immer bewiesen, dass sie keine Zugeständnisse mache oder schweige, "wenn es um die Menschenrechte und demokratischen Freiheiten der arbeitenden Menschen in Stadt und Land" gehe. Die politische Absicht des Berichts der "Erkundungsmission" sei jedoch offensichtlich und diene dem Ziel, "unter dem üblichen Vorwand des Kampfes zur Verteidigung der Menschenrechte" eine ausländische Intervention zu erleichtern.

Die PCV ist eine langjährige Alliierte der Partei von Präsident Nicolás Maduro gewesen, tritt aber zu den kommenden Wahlen in einer eigenen Liste linker Parteien an.

Der venezolanische Schriftsteller, Historiker, Essayist und Dramatiker Luis Britto García hat angemerkt, es sei sehr merkwürdig, dass der Bericht "voller Trugschlüsse und mangelnder Präzision" vor den Parlamentswahlen komme. "Die Menschenrechte sind eines der edelsten Anliegen, die es gibt, aber sie können für die unwürdigste Sache eingesetzt werden“, so der in Lateinamerika hoch angesehene Intellektuelle.

Cristóbal Cornieles, ein Anwalt und Aktivist der angesehenen venezolanischen "Bürgervereinigung für die Verteidigung und Förderung der Menschenrechte", Sures, sagte, der Bericht der "unabhängigen Mission" versuche, die Arbeit des Büros der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte und Lösungen für die politischen Differenzen des Landes im Dialog in Frage zu stellen.

Der Vorsitzende der Oppositionspartei "Lösungen für Venezuela" (Soluciones para Venezuela), Claudio Fermín , warnte vor einer Politisierung der Frage der Menschenrechte in einem Moment, da die wichtigsten politischen Akteure des Landes bei der Beilegung von Differenzen auf demokratischem Wege Fortschritte gemacht hätten. Leider habe das "eine gewisse politische Vergiftung zur Folge", beklagte der Soziologe und altgediente Politiker, der bei der Präsidentschaftswahl 1993 24 Prozent der Stimmen erzielte und lange in der Oppositionspartei Demokratische Aktion wirkte.