Carabinero in Chile wegen Mordversuchs festgenommen

16-jähriger Demonstrant nach Sturz von Brücke schwer verletzt. Video zeigt, wie Polizist ihn über Brüstung stößt. Auch UNO verlangt Aufklärung. Massive Proteste gegen Polizeigewalt

chile_protest_nach_polizeieinsatz_3-10-2020.jpg

Protest auf der Plaza Dignidad: "Er ist nicht gestürzt, sie haben ihn runtergeworfen"
Protest auf der Plaza Dignidad: "Er ist nicht gestürzt, sie haben ihn runtergeworfen"

Santiago. Richter Jaime Fuica hat Untersuchungshaft gegen den Polizisten Sebastián Zamora angeordnet. Er wird wegen versuchten Mordes und unterlassener Hilfeleistung angeklagt. Ihm wird vorgeworfen, einen 16-jährigen Demonstranten von einer Brücke gestoßen und den Schwerverletzten liegengelassen zu haben.

Zamora war am vergangenen Freitag bei Protesten in der chilenischen Hauptstadt Santiago eingesetzt, bei denen sich hunderte Menschen auf der symbolträchtigen Plaza Italia versammelt hatten, um gegen die Regierung von Sebastián Piñera und für die Verfassungsreform zu demonstrieren, die am 25. Oktober mit einem Referendum ihren Anfang nehmen soll.

Einer der Polizisten, die den nicht angemeldeten Protest unterbinden sollten, war der 22-Jährige Carabinero (militarisierte Polizei) Sebastián Zamora. Die Sicherheitskräfte erhielten den Befehl, begleitet von Wasserwerfern vorzurücken, um die Demonstrierenden zu verjagen.

In dieser Situation rannte ein 16-jähriger Teilnehmer über die Brücke Pío Nono, die über den Mapocho führt. Ein Video zeigt, wie er parallel zur 1,1 Meter hohen Brüstung läuft, als Zamora sich auf ihn wirft und ihn über die Brüstung stößt. Der Jugendliche versuchte, sich festzuhalten, stürzte aber kopfüber etwa sieben Meter tief in das Flussbett und erlitt mehrere Knochenbrüche und ein Schädelhirntrauma.

"Nachdem er das Opfer reglos und mit dem Gesicht nach unten im Fluss sah, hat sich der Beamte gemeinsam mit seinen Kollegen von dem Ort entfernt", heißt es in dem Bericht der Staatsanwaltschaft. Der Jugendliche erhielt eine Erstversorgung von Demonstranten und zivilen Rettungskräften und wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo sich sein Zustand stabilisiert hat.

Dieser Vorfall hat an den folgenden Tagen neue Demonstrationen gegen die Polizeigewalt ausgelöst. Die Kritik an den Carabineros hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen, vor allem seit dem Beginn der massiven Proteste am 18. Oktober 2019.

Neben der Staatsanwaltschaft hat auch der Anwalt des Nationalen Menschenrechtsinstituts Anzeige erstattet. Er erklärte, die Bergung des Jugendlichen sei noch zusätzlich erschwert worden, weil die Carabineros weiterhin mit Gasgranaten schossen.

Die Kinderschutzbeauftragte Patricia Muñoz kritisierte, dass die Carabineros in ihrer ursprünglichen Aussage versucht hätten, den Tathergang zu verschleiern. So hatte Zamora zunächst angegeben, der Jugendliche sei "ausgerutscht" und deshalb über die Brüstung gefallen.

Der Carabinero wird nun wegen versuchten Mordes und unterlassener Hilfeleistung angeklagt. Richter Fuica hat eine Untersuchungshaft von 120 Tagen für Zamora angeordnet. "Es ist nachweislich eine Gefahr für die Gesellschaft, wenn der Beschuldigte in Freiheit bleibt", stellte er fest und folgte damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Damit verwarf er auch die Argumentation der Verteidigerin des Beamten, die behauptete, dieser habe lediglich "ein Mindestmaß an Gewalt angewendet", um des Jugendlichen "bei einer Verfolgung habhaft zu werden".

Für Richter Fuica hingegen ist Zamora für den Sturz des Jugendlichen verantwortlich, da dieser ein "Übermaß an Gewalt" angewendet habe. Er verurteilte zudem das Verhalten der Carabineros nach der Tat: Sie sollen sich auf eine einheitliche Version des Tathergangs geeinigt haben, um sich von der Verantwortung freizusprechen.

Die Regierung von Präsident Sebastián Piñera betonte indes erneut ihre Unterstützung für die Carabineros. Innenminister Victor Pérez erklärte, das Wochenende sei "bitter und schmerzhaft" gewesen, bezog sich dabei aber nicht nur auf diese Tat, sondern vor allem auf den Mord an einem Arbeiter in der südchilenischen Provinz La Araucanía – eine Tat, die angeblich mit dem Mapuche-Konflikt zusammenhängen soll.

"Die Regierung betont erneut ihre Unterstützung für die chilenischen Carabineros bei der Erfüllung ihrer Pflicht", wiederholte Pérez den üblichen Regierungsdiskurs. Und in Anspielung auf das Datum des Referendums fügte der Innenminister hinzu: "Die Unterstützung für die Carabineros ist grundlegend, weil wir mit einem ruhigen Land zum 25. Oktober gelangen wollen."

Am Montag erstattete die chilenische Menschenrechtskommission Anzeige gegen Sebastián Piñera, Innenminister Víctor Pérez sowie gegen den Generaldirektor der Carabineros, Mario Rozas. Der Angriff auf den Jugendlichen sei in einem Kontext einer "systematischen und permanenten Repressionspolitik seitens des Staates und seiner Beamten" erfolgt, vor allem seit Oktober 2019 bis heute, so die Kommission. Weitere Menschenrechtsorganisationen erstatteten ebenfalls Anzeige.

Die mit dem Fall betraute Staatsanwältin Ximena Chong weitete die Ermittlungen auf weitere Beamte der Carabineros aus. Sie stehen im Verdacht, sie hätten den Fall vertuschen wollen.

Auch das Büro des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte für Südamerika hat die zuständigen Behörden aufgefordert, den Polizeieinsatz auf der Brücke Pío Nono zu untersuchen. Der Repräsentant des Büros, Jan Jarab, betonte, nicht nur "die individuelle Verantwortung des direkt beteiligten Carabineros" müsse beurteilt und sanktioniert werden, "sondern auch die mögliche Verantwortung der mit der Operation betrauten Kommandanten".

Die "feindseligen Aktionen der Polizeibehörden" im Land, sowie "die fortgesetzte und bedingungslose Unterstützung der Ordnungs- und Sicherheitskräfte ist beunruhigend, denn es handelt sich um wiederholte Verhaltensweisen. Ich fordere die Identifizierung von Strukturen und die Analyse der Ursachen, die diese Verhaltensweisen begünstigen", fügte er hinzu. Es bedürfe einer tiefgreifenden Reform der Ordnungs- und Sicherheitskräfte, so Jarab. Zudem sei eine Auseinandersetzung mit den strukturellen Konfliktursachen in der Gesellschaft, wie sozioökonomische Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit, nötig. Der Staat müsse "die Menschenrechte aller unter Bedingungen der Gleichheit und Nichtdiskriminierung schützen", heißt es abschließend in dem Kommuniqué.