Ein Jahr nach Protestbeginn: Heute Verfassungsreferendum in Chile

Abstimmung über eine Verfassungsreform ohne Aussicht auf Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen

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Demonstration in Renca
Transparent im Demonstrationszug in Renca: "Mit Erinnerung, Kampf und Organisation werden wir für Gerechtigkeit sorgen"

Santiago de Chile. Rund ein Jahr nach Beginn der Protestwelle stimmt die Bevölkerung in Chile heute darüber ab, ob sie eine neue Verfassung will. Zur Entscheidug steht außerdem, wer diese ausarbeiten soll ‒ eine gewählte verfassunggebende Versammlung oder ein Kongress, der zur Hälfte aus amtierenden Parlamentariern besteht. In Umfragen gewinnt die Idee, eine neue Verfassung auszuarbeiten, mit mehr als 70 Prozent. Ihre Mitglieder würden am 11. April 2021 gewählt werden, um dann eine neue Verfassung auszuarbeiten.

Der Vorschlag zur Abstimmung war im vergangenen Jahr zustande gekommen, nachdem über Wochen die Bevölkerung gegen die Regierung von Sebastían Piñera protestiert hatte. Am 15. November 2019 verkündeten Parlamentsangehörige fast aller Parteien das "Abkommen für den Frieden", dessen Hauptinhalt die Ausarbeitung einer neuen Verfassung sein soll. Soziale Organisationen kritisierten dieses Abkommen als "Rettungsring" für die Regierung Piñera: Menschenrechtsverletzungen würden unbestraft bleiben und der Präsident könnte einfach weiter regieren.

Genau dies beklagen Protestierende wie Eduardo Fernández gegenüber amerika21: "Nach einem Jahr der Proteste wurden die Schuldigen an der Ermordung mehrerer dutzend Menschen immer noch nicht vor Gericht gebracht." Fernández nahm wenige Tage zuvor, am 20. Oktober, an einer Demonstration in Renca, einem Stadtteil Santiagos, teil. Rund 1000 Menschen gedachten der Verstorbenen, die in einer Lagerhalle des Unterwäscheherstellers Kayser zu Tode kamen. Genau ein Jahr zuvor war es im Rahmen des sozialen Aufstands zu Plünderungen gekommen. Die Halle brannte ab und in den Ruinen wurden fünf Leichen gefunden. Manche von ihnen hatten Einschusslöcher. Angehörige der Opfer vermuten, dass die Menschen vorher ermordet und später dort platziert wurden.

In den ersten Wochen des sozialen Aufstands, der am 18. Oktober 2019 nach einer Fahrpreiserhöhung begann, starben mindestens 34 Menschen. Die meisten wurden innerhalb von verbrannten Supermärkten gefunden, andere wurden von der Polizei oder dem Militär getötet. Der Hintergrund der Toten von Kayser ist bis heute ungeklärt. "Leider gibt es seit Jahrzehnten Gewaltverbrechen der Polizei. Bis heute werden diese kaum aufgeklärt. Zum Glück gibt es heute mehr öffentliches Interesse", erklärt Fernández.

Derzeit ermitteln die Kriminalpolizei und die Staatsanwaltschaft gegen Beamte wegen Menschenrechtsverletzungen. Der chilenische Rechnungshof seinerseits rügte einzelne Generäle wegen ihrer Verantwortung bei der Polizeigewalt vom 18. Oktober 2019. Nach Angaben des Menschenrechtsanwalts Oscar Castro vom Komitee zur Verteidigung des Volkes Brüder Vergara (CDP) gegenüber amerika21 gehen die Ermittlungen nicht weit genug. "Derzeit wird einzig bei öffentlichem Druck ermittelt, die meisten Fälle verschwinden in den Schubladen."

Das CDP hat im November 2019 eine Klage gegen den Präsidenten Sebastián Piñera eingereicht. Castro bedauert allerdings, dass sie derzeit fast unbeachtet bei einem Staatsanwalt in Valparaíso liegt. "Es heißt, es würden Beweise fehlen, doch selbst im Internet sind genügend Videos zu sehen." Zuletzt hat das Kollektiv eine Zeugenaussage eines ehemaligen Polizisten bekommen. Laut ihm wurde im Kontrollraum der Polizei in Santiago per Kamera die Repression bei Demonstrationen überwacht und gesteuert. "Mit dem Finger zeigten die Generäle auf einzelne Personen, die angeschossen oder verhaftet werden sollten."

"Das Regime setzt bis heute die Gewalt gezielt ein, um die Menschen einzuschüchtern; logisch, dass deswegen die Verbrechen nicht aufgeklärt werden", so der Menschenrechtler im Gespräch mit amerika21. Dies zeigte sich auch am 18. Oktober 2020. Am Jahrestag des sozialen Aufstandes kam es am vergangenen Sonntag in verschiedenen Städten zu Demonstrationen. Während im Zentrum der Hauptstadt kaum Polizei zu sehen war, schoss sie in anderen Städten mit Bleischrot auf Demonstrierende. In einem südlichen Armenviertel Santiagos wurde ein 26-jähriger Demonstrant erschossen, nachdem er einen Panzerwagen mit einem Stein beworfen hatte.

Fernández, der Demonstrant aus Renca, blickt positiv in die Zukunft: "Es scheint, als ob die neuen Generationen aufgewacht sind. Wir wollen uns nicht mehr alles gefallen lassen." Auch er geht heute abstimmen. Der Anwalt Castro hingegen ist skeptisch, auch wenn die Abstimmung ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung sei. "Solange Piñera an der Macht sein wird, werden weiterhin Menschenrechtsverletzungen geschehen und es werden schon lange keine aufgeklärt".