Parlament in Bolivien will Putsch-Regierung wegen Massakern anklagen

Kommissionsbericht: Einsatz von tödlichen Schusswaffen zweifelsfrei geklärt, Projektile ausschließlich von Polizei und Militär benutzt

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Gedenkstätte an der Straße nach Sacaba für die Opfer des Massakers
Gedenkstätte an der Straße nach Sacaba für die Opfer des Massakers

La Paz. Die Untersuchungskommission des bolivianischen Parlaments zu den Massakern im November des vergangenen Jahres in Sacaba und Senkata hat am Montag ihren Abschlussbericht vorgelegt. Damals kamen 20 Menschen ums Leben und mehrere hundert wurden verletzt. Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass die tödlichen Projektile aus Waffen des Militärs und der Polizei stammten. Sie empfiehlt, Gerichtsverfahren gegen die De-facto-Präsidentin Jeanine Áñez und ihr Kabinett als Hauptverantwortliche zu eröffnen. Der Untersuchungsbericht wird dem Parlament präsentiert, wo entsprechende Maßnahmen verabschiedet werden.

Am 20. Oktober vergangenen Jahres erhob die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Betrugsvorwürfe bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Bolivien. Daraufhin führten Gegner des Wahlsiegers Evo Morales einen dreiwöchigen Generalstreik durch, bis schließlich Militär und Polizei ihn zum Rücktritt zwangen. Morales floh ins Exil und zahlreiche Regierungsangehörige und Parteimitglieder der Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS) versteckten sich nach Anschlägen oder flohen außer Landes. Die damalige Senatorin Jeanine Áñez übernahm die Präsidentschaft.

Am 15. November versuchten Anhänger:innen von Morales zur viertgrößten Stadt des Landes, Cochabamba, zu marschieren. Sie forderten die Absetzung der in ihren Augen illegitimen "Übergangsregierung". In Sacaba wurden sie von Polizei und Militär aufgehalten. Die Bilanz: zehn Tote auf Seiten der Protestierenden. Vier Tage später ereignete sich in Senkata in der Stadt El Alto ein ähnliches Szenario. Polizei und Militär durchbrachen eine Straßenblockade, damit Transporte mit Treibstoff und Flüssiggas eine Fabrikanlage verlassen konnten. Die Konfrontation spitzte sich zu, bis schließlich die Protestierenden einen Teil der Begrenzungsmauer der Fabrik einrissen. Die Reaktion der staatlichen Sicherheitskräfte forderte erneut zehn Todesopfer. Dazu kamen mehr als 100 Verletzte und mehr als 400 Festnahmen. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission hatte die beiden Vorfälle nach einer Untersuchung vor Ort als Massaker an der Zivilbevölkerung eingestuft und Aufklärung gefordert.

Áñez rechtfertigte damals den Einsatz:  "Der Einsturz der Mauer wurde mit Dynamit herbeigeführt. Die Protestierenden versuchten, einen terroristischen Anschlag auf die Fabrikanlage für Gas und Treibstoff zu verüben, was viele Tote verursacht hätte." Einen Tag nach ihrer Vereidigung als Präsidentin erließ sie das Dekret 4078, das dem Militär bei Einsätzen zur Herstellung der öffentlichen Ordnung Straffreiheit einräumte. 20 Tage später, als die Proteste im Land nachließen, wurde es wieder aufgehoben.

Im März 2020 hatte das Parlament die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung der Geschehnisse beschlossen. Auf der Basis von forensischen Untersuchungen, Zeugenaussagen, Berichten, Dienstanweisungen und Erklärungen von Kommandant:innen der Armee sei der Einsatz von tödlichen Schusswaffen zweifelsfrei geklärt. Laut dem MAS-Abgeordneten und Präsidenten der Kommission, Victor Borda, seien für diesen Zeitraum 37 Opfer im Verlauf mehrerer Proteste festgestellt worden, 27 erlagen ihren Schussverletzungen. Ballistische Untersuchungen wiesen tödliche Projektile von Waffen nach, die exklusiv von Polizei und Militär benutzt werden. Zu den Opfern in Sacaba und Senkata kämen noch weitere Personen, die durch die staatliche Repression mit Waffengewalt starben: eine Person in Betanzos (Potosí), drei in Ovejuyo (La Paz) und drei in Montero (Santa Cruz).

Damit seien die Aussagen der De-facto-Regierung widerlegt, die den Einsatz von tödlichen Waffen durch die Sicherheitskräfte geleugnet hatten. Innenminister, Arturo Murillo und Verteidigungsminister Luis Fernando López bestanden in der Öffentlichkeit darauf, dass diese während der Auseinandersetzungen keine Waffengewalt angewendet hätten.

López versicherte, dass "im November die Streitkräfte nicht eine einzige Kugel abgaben. Polizei und Militär sind für keines der Todesopfer verantwortlich". Anfragen der Untersuchungskommission hatte er stets abgelehnt, weil er ihre Autorität nicht anerkannte. Murillo stellte damals sogar die These in den Raum, die tödlichen Kugeln stammten von den Protestierenden. Er begründete seine Mutmaßungen damit, dass die Schussverletzungen der Opfer allesamt in Rücken und Genick zu finden seien. Bei Konfrontationen seien jedoch Schüsse von vorn üblich, also in die Brust und das Gesicht. Bis heute ließ er Fragen der Kommission unbeantwortet.

Borda weist die These Murillos nach Untersuchung der Ereignisse zurück: "Wir haben kein einziges medizinisch-forensisches Gutachten eines verletzten Polizisten oder Militärs erhalten." Auch die Augenzeugenberichte belegten die Unhaltbarkeit der These.

Auf Basis der Untersuchungsergebnisse empfiehlt die Kommission nun, zwei Gerichtsverfahren gegen die Putsch-Regierung zu eröffnen. Alle Minister:innen sollen angeklagt werden, die das Dekret über die Straffreiheit des Militärs unterschrieben haben. Áñez, die Minister Murillo und López sowie die zuständigen Kommandanten von Polizei und Militär sollen wegen der Ereignisse in Senkata und Sacaba zur Verantwortung gezogen werden. Die Anklagepunkte lauten "Völkermord, Mord, versuchter Mord, schwere Verletzungen, tödliche Verletzungen und damit zusammenhängende Straftaten", so Borda.

Áñez reagierte noch am Montagabend über ihren Twitter-Account auf den Untersuchungsbericht: "Die MAS kehrt wieder zu ihrer Praxis zurück, politisch Andersdenkenden den Prozess zu machen. Ich möchte die MAS daran erinnern, dass die Demokratie nicht einfach nur die Regierung der Mehrheit ist."

Am Dienstag dementierte Murillo öffentlich Spekulationen, dass Mitglieder der De-facto-Regierung Visa in den USA beantragen würden. Er stellte klar, dass Regierungsminister:innen oder die Präsidentin das Recht hätten, außer Landes zu reisen. Hintergrund der Debatte war ein Gesetzesvorschlag des MAS-dominierten Senats, scheidende Regierungsmitglieder auf drei Monate zu verpflichten, im Land zu bleiben und gegebenenfalls Rechenschaft abzulegen.

Familienangehörige der Opfer von Senkata und Sacaba hatten letzte Woche in Sucre vom Oberstaatsanwalt Juan Lanchipa eine Anhörung verlangt und gefordert, dass die Judikative einen Bericht an das Parlament schicke, damit der Prozess gegen Áñez wegen Verbrechen gegen die Menschheit eröffnet werden könne. Hierfür ist der Abschlussbericht der Parlamentskommission Voraussetzung.

Unterdessen sorgt die Aufhebung der Anklage und des Haftbefehls gegen Morales für Diskussionsstoff. Der Präsident des regionalen Gerichtshofes in La Paz, Jorge Quino, begründete die Entscheidung damit, dass das "Recht auf Verteidigung" des Beschuldigten verletzt wurde. Morales wird "Terrorismus" vorgeworfen, weil er die Ausschreitungen nach seiner Flucht vom November 2019 zu verantworten habe. Die Anzeige und die Untersuchung des Falles bleiben bestehen. Jedoch müsse eine "ordnungsgemäße Vorladung" stattfinden, damit Morales sich entsprechend verteidigen könne, so Quino. Eine solche Vorladung hat bis dato nicht stattgefunden.