"Schrecken und Sorge" bei Regierung in Brasilien wegen Urteil für Lula da Silva

Anhänger:innen feiern die Rehabilitation Lulas und protestierten gegen Präsident Bolsonaro. Militärs schweigen zum Urteil. Börse sackt ab

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Luis Inácio Lula da Silva gibt sich siegessicher
Luis Inácio Lula da Silva gibt sich siegessicher

Brasília. Die Annullierung der Gerichtsurteile gegen den Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2011) hat in Brasilien einen politischen Tsunami ausgelöst. Die plötzliche Aussicht auf seine Wiederwahl im Jahr 2022 schockt die konservativen Zentrumsparteien und das rechte Regierungslager. Landesweit feierten Anhänger:innen die Entscheidung und protestierten gegen Präsident Jair Bolsonaro. Viele Politiker:innen im In- und Ausland bewerteten die Rehabilitation Lulas als Sieg über eine politisierte Justiz, die die Wahl Bolsonaros ermöglicht hatte.

Am Montag hatte der Oberste Bundesrichter Edson Fachin (STF) vier Korruptionsurteile gegen den brasilianischen Ex-Präsidenten aufgehoben. Damit ist da Silva seit Montag nicht mehr vorbestraft und könnte wieder politische Ämter bekleiden. Er begrüßte auf seinem Twitter-Kanal das Urteil: "Die richterliche Entscheidung erkennt an, dass wir die ganze Zeit Recht hatten."

Lulas Chancen auf eine Wiederwahl stehen nicht schlecht. Angesichts der Wirtschafts- und Corona-Krise sehen Umfragen ihn bereits vor Bolsonaro. Laut dem Meinungsforschungsinstituts Ipec vom vergangenen Wochenende hat Lula das weitaus größte Potenzial, sich bei der Präsidentschaftswahl gegen den amtierenden Präsidenten Bolsonaro durchzusetzen und zum dritten Mal gewählt zu werden.

Aus der Hauptstadt Brasília wurde berichtet, dass Bolsonaro und seine Berater:innen von der richterlichen Entscheidung, von der sie über die Presse erfuhren, "total überrascht wurden". Die Regierungsmitglieder hätten mit "Schrecken und Sorge" reagiert.

Vizepräsident General Hamilton Mourão sprach von einer "juristischen Schikane". Man könne nichts dagegen tun, wenn ein Gericht Beweise annulliere, attackierte er die Justiz.

Gleichzeitig sprechen Analysten von Lula als "idealem Gegner Bolsonaros", um konservative und neoliberale Wähler:innen hinter sich zu vereinen. Der bisher aussichtsreichste Gegenkandidat, der neoliberale Gouverneur von São Paulo, João Doria, muss nun fürchten, die Stichwahl zum Präsidentenamt zu verpassen.

Zustimmung erhielt das Urteil aus vielen lateinamerikanischen Nachbarstaaten. Argentiniens Präsident Alberto Fernández schrieb auf Twitter "Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan!".

Auch die deutsche Bundesregierung sandte über ihren Staatsminister im Auswärtigen Amt, Niels Annen (SPD), ihre Glückwünsche. Die Entscheidung des Gerichts sei eine gute Nachricht für die brasilianische Demokratie, so Annen per Twitter.

Die Finanzwirtschaft Brasiliens hingegen reagierte verdrossen auf die Aussicht, dass ein Sozialdemokrat ab 2023 wieder das bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas regieren könnte. Der Börsenindex Ibovespa sackte um vier Prozent ab und die Währung Real verlor gegenüber dem US-Dollar um 1,5 Prozent an Wert.

Zuletzt war aber auch das Vertrauen des Marktes in Bolsonaro stark gesunken. Jüngst zeigten sich Wirtschaftsvertreter:innen irritiert darüber, dass er zur Abwehr der steigenden Benzinpreise kurzerhand den Chef der staatlichen Erdölfirma Petrobras durch einen loyalen Militär ersetzte. Dass der Präsident aktiv in das Marktgeschehen eingriff, um innenpolitisch zu punkten, führte zu einen massiven Börseneinbruch.

Die Enttäuschung über Bolsonaros Wirtschaftspolitik könnte Lula selbst unter Investoren zu Zuspruch verhelfen. "Zwischen Bolsonaro und dem Teufel, würde ich heute für den Teufel stimmen", zitiert das Nachrichtenportal UOL den Generaldirektor eines großen Unternehmens über eine mögliche Stichwahl.

Die Furcht vor einer erneuten Polarisierung im Wahlkampf, bei dem die politisch moderaten, neoliberalen Kandidaten abermals ihre Stimmen an Bolsonaro verlieren, scheint nun groß. "Mit einem Lula als Kandidat steigt die Möglichkeit, dass die aktuelle Regierung total den Pfad des Populismus einschlägt", sagte Alfredo Menezes, Vorstandsmitglied des Finanzinvestors Armor Capital.

Auch unter den Militärs sorgte die Annullierung der Urteile für reichlich Missfallen, berichtet die Zeitung Estadão. Demnach fürchteten ranghohe Offiziere, die Entscheidung könne "Extremisten von links und rechts" befeuern. Anders als im April 2018 enthielt sich die Armeespitze diesmal weiterer Kommentare. Damals hatte der Chef der Streitkräfte, General Eduardo Villas Bôas, dem Obersten Bundesgericht die Verurteilung Lulas nahegelegt und indirekt mit einem militärischen Einschreiten gedroht, sollte die Justiz dem nicht folgen.

Nun, knapp drei Jahre später ist das Urteil des Lava Jato-Gerichts neben drei weiteren Urteilen wieder aufgehoben. Dem Richter Fachin zufolge hatte das Bundesgericht in Curitiba, wo Lula 2018 in erster Instanz verurteilt wurde, nicht die Zuständigkeit, um die Prozesse gegen den Ex-Präsidenten zu verhandeln. Schließlich fielen die Anklagen gegen Lula nicht in den Bereich der Sonderermittlungsbehörde Lava Jato, die einzig die Korruption rund um den Erdölkonzern Petrobras aufarbeite. Eine direkte Verbindung zwischen da Silva und der Korruption um die Petrobras hatte aber selbst die Anklage nicht herstellen können.

Nun folgte der Bundesrichter Fachin dem Antrag der Verteidigung. Lulas Anwälte Cristiano Zanin Martins und Valeska Teixeira Martins begrüßten die richterliche Entscheidung. "Das Urteil bestätigt die Nicht-Zuständigkeit der Bundesjustiz in Curitiba und erkennt an, dass wir juristisch immer richtig lagen", äußerten sie. Man habe bereits 2016 darauf hingewiesen, dass die Anschuldigungen gegen den Ex-Präsidenten selbst gar keine Verbindung zu den Vergehen in der Petrobras herstellten. Das Urteil wird darum auch als Abrechnung mit dem Vorgehen der Ermittlungsbehörde Lava Jato und den Urteilen des damals zuständigen Richters Sérgio Moro gewertet. Dieser war, nachdem er Lula verurteilt hatte, von Bolsonaro zum Justizminister ernannt worden.

Brasiliens Generalstaatsanwaltschaft kündigte an, gegen die Entscheidung des Bundesrichters Berufung einzulegen.

Lula, der von 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens war, hatte die gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe stets zurückgewiesen. In einem Fall musste er im April 2018 eine mehrjährige Haftstrafe antreten. Im November 2019 kam er frei, da noch nicht alle gerichtlichen Instanzen zu seiner Verteidigung aufgerufen waren.