Proteste in Kolumbien unaufhaltsam: Verhängung des Ausnahmezustands möglich

37 Tote. Große Demonstrationen am Mittwoch. Brutale Angriffe in Medellín. Internet-Blockaden. Sicherheitskräfte von Neo-Nazi unterrichtet

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Trotz der massiven Polizeigewalt strömen die Protestierenden weiterhin auf die Straßen
Trotz der massiven Polizeigewalt strömen die Protestierenden weiterhin auf die Straßen

Bogotá/Medellín. Oppositionelle haben am Mittwochabend über eine bevorstehende Erklärung des Ausnahmezustands durch Präsident Iván Duque berichtet. Die Informationsquelle sei vertrauenswürdig, teilte der Abgeordnete David Ravelo mit. Menschenrechtler:innen befürchten, dass die extreme Gewalt der letzten Tage gegen die Protestbewegung dadurch aufrechterhalten wird. Seit dem ersten Tag des Generalstreiks hat die Polizei Berichten zufolge landesweit 37 Personen getötet und 87 sind verschwunden.

Zwar hat Duque am Mittwoch einen "nationalen Dialog" angefangen, jedoch nicht mit Sprecher:innen des Generalstreiks. Mit ihnen will er sich am Montag treffen. Aufgrund dessen erhob der Senator Iván Cepeda die Frage, ob die Regierung "einen echten Dialog mit der sozialen Bewegung will oder ein nutzloses Gespräch, um den Streik zu schwächen, während er das Dekret zum Ausnahmezustand vorbereitet".

Trotz der starken Polizeigewalt der Vortage strömten am Mittwoch wieder Gewerkschaften, Studierende, Indigene, Kleinbäuer:innen und viele Jugendliche friedlich auf die Straßen und Plätze des Landes. Sie lehnten die "schlechte Regierung Duques" ab, forderten das Ende der staatlichen Gewalt, die Abschaffung der Sonderpolizeieinheit Esmad sowie die Rücknahme der Gesundheitsreform, die sie genauso problematisch sehen wie die Steuerreform, die den Generalstreik in Gang setzte.

Am Abend griff die Polizei die Proteste in Medellín massiv an: "Bevor uns die Polizei im Bereich des Parks der Wünsche angriff, wurde der Strom in der Umgebung abgeschaltet. Die Polizei griff uns dann im Schutze der Dunkelheit brutal an", sagt eine Demonstrantin gegenüber amerika21. "Es gab so viele Verletzte“, erzählt ein Rettungssanitäter diesem Portal. Die Polizei hat "mit Tränengasgranaten auf die Verletzten und Sanitäter geschossen. Selbst die Personen, die sich schon innerhalb des Krankenhausbereiches befanden, wurden von der Polizei mit Tränengas attackiert."

Auch ein Notarzt aus Medellín berichtet gegenüber amerika21, dass an dem Abend "eine schwangere Frau von Sicherheitskräften der Polizei geschlagen" wurde, weil sie versucht hat, ihre minderjährige Schwester vor der Polizei zu schützen.

Des weiteren haben Demonstrierende erzählt, dass sie zivile bewaffnete Personen auf den Straßen beobachtet haben, die nicht von der Polizei kontrolliert wurden. In der Stadt Pereira haben Bewaffnete am Mittwoch die Protestteilnehmer Lucas Villa und Miguel Ciro erschossen.

Die Benutzung von Feuerwaffen gegen Menschenversammlungen ist in den letzten Tagen zur Gewohnheit geworden. Auch aus Helikoptern hat die Polizei auf die Bevölkerung geschossen, wie die Bewohner:innen der Stadt Buga am Mittwoch dokumentierten. Am Dienstag hatte der Senator Alexander López in Siloé, einem Viertel von Cali, ebenfalls Angriffe mit Feuerwaffen "aus der Luft und am Boden" angeprangert.

Seit dem 28. April hat die Menschenrechtsorganisation "Erdbeben" (Temblores) landesweit über 1.700 Fälle von Polizeigewalt registriert. Dazu zählen unter anderem zehn Fälle sexueller Gewalt, 22 Fälle von Augenverletzungen, über 830 willkürliche Festnahmen und über 220 Verletzte.

Darüber hinaus gibt es seit Dienstag immer wieder unerklärliche Internetausfälle. Es geht dabei um Zensur, schrieb das Nachrichtenportal Colombia Informa: "Sie unterbrechen das Internet-Signal, um zu verhindern, dass die Leute die polizeiliche Brutalität durch Liveübertragungen weiter anprangern." Die britische Organisation NetBlocks, die die Internetfreiheit weltweit nachverfolgt, bestätigte diese Information. Echtzeit-Netzwerkdaten zeigten, dass das Internet in Cali gestört wurde, "während die Protestierenden Opfer tödlicher Gewalt durch die Behörden wurden".

Auch Reporter ohne Grenzen und die Stiftung für Pressefreiheit (Fundación para la Libertad de Prensa, FLIP) berichteten über "ein noch nie dagewesenes Ausmaß an Gewalt gegen die Presse" seit Beginn des Generalstreiks. Die Organisationen registrierten 40 Fälle von Polizeigewalt gegen Journalist:innen. Diese seien keine Zufälle, sondern "Angriffe, um die Presse einzuschüchtern, Angst zu erzeugen und sie zu zensieren".

Oppositionelle werfen Álvaro Uribe, dem ultrarechten Politiker, Ex-Präsidenten und Mentor des amtierenden Präsidenten Duque vor, mit seinen Tweets zur Eskalation der Gewalt aufgerufen zu haben. Zuletzt hat er eine Liste von Empfehlungen gepostet. Dazu gehören "die Stärkung der Streitkräfte", "die Anerkennung, dass der Terrorismus größer ist als gedacht" und Widerstand gegen "die zerstreute molekulare Revolution" zu leisten.

Letzteres ist ein Begriff der Militärdoktrin des chilenischen Neo-Nazis Alexis López. Der Chilene hat in letzter Zeit die kolumbianischen Streitkräfte unterrichtet. Auch die Polizei benutzt den Begriff. Soziale Ausbrüche wie in Chile und Kolumbien, die sich molekular – also wie verstreute Störungen – verhalten, seien Teil eines Zerstörungsplans. Dahinter steckten bewaffnete Kräfte wie die Guerillas. Eine entsprechende Aussage kam vom Verteidigungsminister Diego Molano, dass es in den Mobilisierungen "einen städtischen, vorsätzlichen und systematischen Terrorismus" gebe.