Chile / Politik

Zeitenwende in Chile: Amtseinführung von Gabriel Boric als Präsident

Der ehemalige Studentenführer übernimmt die Regierungsgeschäfte in dem lateinamerikanischen Land. Weitreichende Reformprojekte

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Gabriel Boric – als Kandidat der Koalition Apruebo Dignidad zum Präsidenten von Chile gewählt
Gabriel Boric – als Kandidat der Koalition Apruebo Dignidad zum Präsidenten von Chile gewählt

Santiago. Am Freitag ist mit der Vereidigung des jüngsten Präsidenten der Geschichte Chiles eine progressive Regierung ins Amt gekommen, deren Mitglieder großenteils aus der Studentenbewegung der sogenannten Pinguinrevolution 2006 und den Studentenprotesten von 2011 stammen. Der 36-jährige Kandidat des linken Parteienbündnisses Apruebo Dignidad hatte sich in der Stichwahl am 20. Dezember letzten Jahres mit der höchsten je erreichten Zustímmung für einen Präsidenten überraschend deutlich gegen den ultrarechten deutschstämmigen Kandidaten José Antonio Kast durchgesetzt.

Mit der neuen Regierung sind Erwartungen an umfassende wirtschaftliche und soziale Reformen verknüpft, die aus der als "Estallido social" weltweit bekannt gewordenen sozialen Protestbewegung gegen den chilenischen Neoliberalismus hervorgegangen sind.

Nach der von "Mörder"-Rufen und Forderungen nach Gerechtigkeit begleiteten Verabschiedung von Ex-Präsident Sebastian Piñera wurden im Nationalkongress in der Hafenstadt Valparaíso Präsident Boric und die 14 Ministerinnen und zehn Minister seines Regierungskabinetts vereidigt. Während Mario Marcel, ehemaliger Chef der Zentralbank, den Posten des Finanzministers besetzt, übernehmen drei Frauen andere einflussreiche Ämter in der Regierung. Die Biologin und Nichte des ehemaligen Präsidenten Salvador Allende, Maya Fernandez, die Leitung des Verteidigungsministerium und die Ärztin und ehemalige Präsidentin des Gremiums Colegio Medico de Chile, Itzka Siches, das Innenministerium. Als Sprecherin des neuen Präsidenten wurde die 33-jährige frühere Studentenführerin und Abgeordnete der Kommunistischen Partei, Camila Vallejo, vereidigt.

Die feierliche Amtseinführung fand statt in Anwesenheit vieler nationaler und internationaler Gäste aus Politik und Kultur, wie unter anderem der ehemaligen brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff, dem argentinischen Präsidenten Alberto Fernández, dem kolumbianischen Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro oder dem Ex-Labour-Partei Chef Jeremy Corbyn aus Großbritannien. Aus Kuba nahm Außenminister Bruno Rodríguez teil. Politische Vertreter aus Nicaragua und Venezuela waren nicht eingeladen.

Beim Verlassen des Kongresses nahmen sich Boric und die neue "Primera Dama", die Feministin und Akademikerin Irina Karamanos, demonstrativ Zeit für die auf sie wartende Menschenmenge, bevor sie im Hubschrauber in die Hauptstadt Santiago zurückkehrten. Im offenen Wagen wurde das Präsidentenpaar dann vom Flughafen zum Regierungspalast La Moneda chauffiert, wo sich seit dem Mittag bereits Tausende Anhänger in Volksfeststimmung versammelt hatten, um den neuen Staatschef in Empfang zu nehmen und seine Antrittsrede zu hören.

Bevor Boric die Moneda betrat, machte er außerhalb des Protokolls einen kleinen Umweg, um der Statue Salvador Allendes seine Referenz zu erweisen. Unter dem Jubel des großenteils jungen Publikums, trat Boric dann um kurz nach 19 Uhr auf einen Balkon des Regierungspalastes und hielt eine 25-minütige Rede, in der er die Ziele und die Herausforderungen einer "progressiven, inklusiven und feministisch orientierten Regierung" hervorhob und die Chilenen zur Einheit und aktiven Teilnahme aufrief.

Die Erwartungen an die neue Regierung sind hoch. In Chile herrscht eine der größten sozialen Ungerechtigkeiten weltweit. Mit Blick auf die Notwendigkeit weitreichender Reformen, um die streng neoliberale Wirtschaft aufzubrechen, rief der Präsident zur Geduld und zur Partizipation auf. "Wir gehen langsam, weil wir weit gehen", betonte Boric. So will seine Regierung das Projekt Allendes vollenden, den Reichtum des Landes umverteilen, die großen Vorräte an Bodenschätzen wie Kupfer, Gold und anderen Rohstoffe wieder nationalisieren, die privaten Gesundheits- und Rentensysteme reformieren, ein gerechtes Steuersystem einführen und die Arbeiterrechte stärken.

Des Weiteren muss die neue Regierung den Konflikt des Staates mit der indigenen Nation der Mapuche im Süden und die Immigrationskrise im Norden lösen. In beiden Regionen hatte die Regierung Piñera den Ausnahmezustand ausgerufen und insbesondere den Süden zur Befriedung des Konfliktes militarisieren lassen.

Zudem verlangen die Forderungen nach Gerechtigkeit für die Opfer der Polizeigewalt während des "Estallido social" und der Freilassung der politischen Gefangenen eine zeitnahe Antwort.

Immer wieder wurde seine Rede von spontanem Applaus und Sprechchören wie "Boric, amigo, el pueblo está contigo!" (Boric, Freund, das Volk ist mit dir) begleitet.

Zwar bedeutet der Antritt der neuen Regierung das Ende der beiden politischen Blöcke Zentrum-Rechts und Zentrum-Links, die seit dem Ende der Diktatur im Jahr 1990 die Regierungen stellten, jedoch hat die neue Regierung keine Mehrheit in den beiden Parlamentskammern.

Wesentliche Voraussetzung für die großen sozialen und wirtschaftlichen Reformprojekte und die Lösung der gesellschaftlichen Konflikte des Landes ist daher der Verfassungskonvent, der das konstitutionelle Erbe der Pinochet-Diktatur beseitigen und bis zum Juni 2022 einen Verfassungsvorschlag vorlegen muss: "Eine Verfassung, die im Unterschied zu der, die mit Blut, Feuer und Betrug durch die Diktatur aufgezwungen wurde, in Demokratie auf paritätische Weise unter Teilhabe der indigenen Völker geboren wird. Eine Verfassung die sowohl für heute, als auch die Zukunft gelten soll", betonte der neue Staatschef in seiner Rede.

Neben den mittel- und langfristigen Zielen gibt es akute Herausforderungen, die nicht auf den Verfassungskonvent warten können: Das Land hat zur Zeit wieder mit erhöhten Coronafallzahlen zu kämpfen. Die Pandemie hat die Wirtschaftskrise, in der Chile schon vor 2019 steckte, weiter verschärft und die Armut ist noch sichtbarer geworden.