OAS: "Situation in Haiti ist offensichtlichster Misserfolg der internationalen Zusammenarbeit"

Nationale Notlage: Dialog zwischen Regierung und Opposition droht zu kippen. Dreiviertel der Hauptstadt von Banden kontrolliert. Kinder leiden besonders

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Die Kämpfe zwischen den Banden fordern immer mehr zivile Todesopfer
Die Kämpfe zwischen den Banden fordern immer mehr zivile Todesopfer

Port-au-Prince. Das Generalsekretariat der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat Haitis Situation als "einen der wichtigsten und offensichtlichsten Misserfolge der im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit durchgeführten Maßnahmen und Aktionen" bezeichnet.

In einem Kommuniqué werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, Haiti zu helfen sich zu stabilisieren und "die Rechnung zu zahlen". Das Sekretariat schlägt vor, infolge der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 einen Prozess des Dialogs, der freien Wahlen, der Sicherheit sowie der Gerechtigkeit zu fördern.

Diese Forderungen werden derzeit durch ein dysfunktionales Parlament, einem mangels Richtern nicht arbeitsfähigen Gerichtshofs sowie das Fehlen eines Präsidenten erschwert und seit einem Jahr stehen geplante Wahlen der gesamten Regierungsinstitutionen aus.

Zudem gab am vergangenen Sonntag ein Flügel der haitianischen Bewegung "Demokratischer und Volkssektor" (SDP) seinen Austritt aus der von Premierminister Ariel Henry angeregten Vereinbarung über Gespräche zwischen Regierung und Opposition bekannt. Diese sollte zur Lösung der politischen und sozialen Krise des Landes dienen. Der SDP möchte die Vereinbarung zum 11. September verlassen – ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten (amerika21 berichtete).

Hinzu kommt die katastrophale humanitäre und sozioökonomische Lage. Ein Quelle aus den Sicherheitskräften schätzt, dass kriminelle Banden Dreiviertel der Hauptstadt Port-au-Prince kontrollieren oder beeinflussen. Auch Menschenrechtsorganisationen bezeichnen 60 Prozent der Stadt als "gesetzlos". Frantz Elbe, Generaldirektor der Haitianischen Nationalpolizei, bestreitet dies.

Erst am letzten Sonntag verbrannte eine bewaffnete Gruppe den Ex-Senator Yvon Buissereth und seinen Neffen auf der Straße bei lebendigem Leibe. Der Senatspräsident Haitis, Joseph Lambert, machte die Bande "Ti makak" (Kleiner Makake) verantwortlich. Premierminister Ariel Henry verurteilte das Geschehen als barbarische Tat und versprach, die Täter "mit der ganzen Härte des Gesetzes" zu verfolgen.

Wichtige Strukturen des Landes mit Sitz in Port-au-Prince befinden sich in der Hand der Banden. Darunter fallen der Hafen, Öl-Terminals sowie die wichtigsten Straßen aus der Stadt hinaus. Dadurch ist auch der Zugang zu Kraftstoffen und Hilfsgütern weiterhin beschränkt. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen müsse aufgrund der Gewalt Güter auf dem Seeweg in den Süden und Norden des Landes bringen, während humanitäre Helfer auf dem Luftweg transportiert würden.

Die Wirtschaft des Landes schafft es auch wegen der Kriminalität nicht, sich zu erholen. Die Inflation wird auf 30 Prozent geschätzt. Damit läge Haiti knapp unter den zehn Ländern mit der weltweit höchsten Inflation.

Laut den Vereinten Nationen hat sich Risiko von Kinderrekrutierung in kriminelle Organisationen drastisch erhöht. Hinzu komme für viele Kinder und Jugendliche der drohende Hunger, da die Eltern keinen Zugang zu Nahrungsmitteln und Arbeit finden. Es wird geschätzt, dass im Juli etwa eine Million Einwohner der Hauptstadt an Lebensmittelmangel gelitten haben. Bereits in einem Bericht vom Juni galt Haiti als eines der Länder in Lateinamerika und der Karibik mit der größten Nahrungsmittelunsicherheit. Dies hatten die Daten der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der UN gezeigt.

Kinder hätten außerdem keinen Zugang zur Bildung, da laut Regierungsangaben seit dem 24. April etwa 1.700 Schulen für eine halbe Million Kinder geschlossen haben.

Unterdessen schreitet die Fluchtmigrationen voran. Allein am vergangenen Montag hielten US-Behörden mehr als 100 haitianische Migranten vor Florida auf, am Samstag zuvor mehr als 300. Dabei sind die Überfahrten gefährlich: Ende Juli erst starben 17 Haitianer, als ihr Boot wegen schlechten Wetters auf See kenterte.

Aufgrund der sich anhaltend verschlechternden Situation hatte der UN-Sicherheitsrat bereits Mitte Juli eine Resolution zum Verbot der Weitergabe von Kleinwaffen an kriminelle Banden in Haiti verabschiedet. Der Vorschlag Chinas, ein vollständiges Waffenembargo gegen Banden durchzusetzen, wurde nicht angenommen. Hingegen wurde die Etablierung einer regionalen Polizeitruppe zur Bekämpfung extremer Gewalt in Erwägung gezogen.

Bis Ende Juni hatten die Vereinten Nationen seit Jahresbeginn mehr als 930 Tötungen und 680 Entführungen registriert. Allein zwischen dem 8. und 12 Juli starben im Armenviertel Cité Soleil in Porte-au-Prince 234 Personen durch Bandenkonflikte. Die meisten der Opfer hätten "keinen direkten Bezug zu den Banden", so der Sprecher des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Jeremy Laurence.