Massive Proteste in Chile für ein faires Bildungssystem und bessere Schulen

Seit Tagen protestieren tausende Jugendliche gegen desolate Zustände in den Bildungseinrichtungen. Polizeikräfte setzten Wasserwerfer und Tränengas ein

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Die Proteste richten sich vor allem gegen die desolaten Zustände der Bildungseinrichtungen
Die Proteste richten sich vor allem gegen die desolaten Zustände der Bildungseinrichtungen

Santiago. Kaum eine Woche nach der Ablehnung der neuen Verfassung überziehen seit Montag zahlreiche Demonstrationen von Schüler:innen die Hauptstadt des südamerikanischen Landes. Sie fordern eine neue verfassungsgebende Versammlung sowie eine bessere Bildungsversorgung.

Am Donnerstag und am Freitag kamen erneut Tausende Jugendliche im Zentrum von Santiago zusammen und marschierten über die Prachtstraße Alameda zum Plaza Baquedano ‒ seit dem Aufstand 2019 von den Protestierenden in Plaza Dignidad (Platz der Würde) umbenannt ‒ mit Parolen und Plakaten. Ähnlich wie am Montag und Dienstag stellten sich ihnen Polizei und Sicherheitskräfte mit Wasserwerfern und Tränengas entgegen. Im Internet kursierten sogleich unzählige Videos von den Vorfällen. Es gab mindestens eine verletzte Person.

Auslöser der Proteste sind nicht nur der Unmut über das Abstimmungsergebnis, sondern vor allem auch die desolaten Zustände der Bildungseinrichtungen. Nach über zwei Jahren der Pandemie begann Ende August das neue Schuljahr wieder im Präsenzunterricht und brachte erneut die marode Ausstattung und Infrastruktur der Schulen zutage.

Bereits am Montag und damit nur einen Tag nach dem gescheiterten Referendum versammelten sich hunderte Secundarios (Schüler:innen zwischen 14 und 18 Jahren) vor dem Regierungspalast La Moneda.

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Schüler:innen fordern auch die Freilassung der politischen Gefangenen
Schüler:innen fordern auch die Freilassung der politischen Gefangenen

Während drinnen Präsident Gabriel Boric als Konsequenz der Abstimmung sechs führende Kabinettsmitglieder austauschte, demonstrierten vor dem Gebäude Schüler:innen für einen neuen Verfassungstext, ein besseres Bildungssystems sowie die Freilassung aller "Gefangenen des Aufstände von 2019/2020" (amerika21 berichtete).

Nach einem weiteren Marsch am Dienstag rief das "Revolutionäre Koordinationskomitee der Sekundarstufe" (Coordinadora Secundaria Revolucionaria) alle Secundarios am Donnerstag erneut zu einer großen Demonstration in Santiago auf. Bei Regen und kalten Temperaturen kamen tausende Protestierende in die Hauptstadt, wo sie von der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas auseinandergetrieben wurden. Einige Jugendliche warfen Gegenstände auf die Einsatzkräfte.

Die Hauptforderung der gemeinsamen Petition gilt der Schaffung von "Mindestvoraussetzungen" für den Schulalltag. Neben der psychischen Gesundheit und einer staatlich bezuschussten Mahlzeit müssten auch ein Internetzugang sowie kostenlose öffentliche Verkehrsmittel garantiert werden. Ein Schüler des renommierten Internado Nacional Barros Arana (INBA) berichtete in diesem Zusammenhang von verdorbenem Schulessen und Schüler:innen, die überhaupt kein Essen erhalten.

Neben den schlechten Bedingungen in den Schulen prangern die Jugendlichen aber auch die strukturellen Probleme im Schulsystem an. So fordern sie eine umfassende Sexualerziehung als integralen Bestandteil des Lehrplans sowie wirksamere Regelungen gegen machistische Übergriffe. Außerdem sollen für berufsbildende technische Gymnasien bezahlte und versicherte Praktika eingeführt sowie das noch unter dem konservativen Ex-Präsidenten Sebastian Piñera verabschiedete Gesetz "Sicheres Klassenzimmer" (Ley Aula Segura) abgeschafft werden. Dieses erlaubt es Direktor:innen, Schüler:innen schneller der Schule zu verweisen, wenn sie angeblich "gewalttätig" geworden seien.

Die linke Regierung von Präsident Boric hat sich noch zu keiner der Demonstrationen öffentlich geäußert. Das verwundert besonders, da Boric selbst und hochrangige Kabinettsmitglieder wie Giorgio Jackson, Minister für soziale Entwicklung und Familie, und Regierungssprecherin Camila Vallejo, in der Vergangenheit selbst in der Studierendenbewegung aktiv gewesen sind.

Vielmehr kritisierte Manuel Monsalve, Staatssekretär des Innenministeriums, die Protestmärsche und rechtfertigte den Polizeieinsatz damit, dass "die Chilen:innen müde von der Gewalt sind" und betonte, dass es dort "nicht um die Forderungen des chilenischen Volkes" ginge.