Santiago. Die chilenische Regierung hat beschlossen, repräsentative Orte der ehemaligen deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad zu enteignen. Der Schritt erfolgt im Rahmen des 2023 ins Leben gerufenen Nationalen Plans zur Suche von Opfern des erzwungenen Verschwindens während der Diktatur.
In der Colonia Dignidad wurden über Jahrzehnte hinweg systematisch schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen. Dort verschwanden auch Gegner der Diktatur unter Augusto Pinochet (1973-1990), wurden gefoltert und ermordet. Deutsche und chilenische Kinder wurden sexuell missbraucht.
Das Ziel des Vorhabens ist laut Regierung, die Umstände des Verschwindens von Gegnern der Diktatur und/oder deren Tod aufzuklären, öffentlichen Zugang zu den entsprechenden Informationen zu garantieren, Reparationsmaßnahmen umzusetzen und die Wiederholung solcher Taten zu verhindern.
Das touristische Villa Baviera wurde infolge der Verbrechensvorwürfe gegen die Colonia Dignidad unter dem verurteilten Pädophilen Paul Schäfer nach dem Ende der Pinochet-Diktatur auf dem Sektengelände gegründet.
Die jetzt zu enteignenden knapp 117 der 7.000 Hektar des Geländes betreffen Orte, die direkt oder indirekt in Verbindung mit Menschenrechtsverletzungen stehen. Hier sollen Erinnerungsorte und Dokumentationszentren entstehen.
Präsident Gabriel Boric verkündete auf X: “Wir enteignen die Colonia Dignidad. Einer der dunkelsten Orte unseres Vaterlandes wird ein Ort des Gedenkens und der Reflexion."
Sinn der Enteignung sei, den öffentlichen Zugang zu dem historischen Ort zu sichern, so Justizminister Jaime Gajardo. Für die enteigneten Immobilien werde es eine entsprechende Entschädigung geben. Sobald das Gelände in öffentlicher Hand sei, könne der Aufbau und die Gestaltung der Gedenkstätte "mit Sorgfalt und ohne Hindernisse in Angriff genommen werden."
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Während sich die aktuellen Bewohner dagegen wehren, das Gelände verlassen zu müssen, empfinden es die Angehörigen von Verschwundenen als Schande, dass dieser Ort weiterhin als touristisches Zentrum genutzt wird.
Mitglieder der "Organisation für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Würde der ehemaligen Kolonisten" protestierten nach der Bekanntgabe der Enteignung mit einer Straßensperre vor Villa Baviera. Sie fordern eine komplette Auflösung der ehemaligen Colonia Dignidad und Auszahlung der Entschädigung an die ehemaligen Sektenmitglieder, die teilweise jahrzehntelang unter sklavereiähnlichen Bedingungen leben und arbeiten mussten. Die Entschädigungszahlung für die Nachkommen der Sektenführer und jetzigen Betreiber des Touristendorfes kritisieren sie ebenso wie die Nicht-Einladung zum Treffen mit dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im Museum der Erinnerung in Santiago.
Minister Gajardo sieht die Verantwortung für die Verteilung der Entschädigungszahlungen hingegen nicht beim chilenischen Staat, sondern als interne Angelegenheit der ehemaligen Colonia Dignidad.
Zwar hat Steinmeier bei seinem Staatsbesuch in Chile die Verantwortung Deutschlands in Sachen Wiedergutmachung und Verständigung über den Aufbau eines Gedenkortes am Ort der Verbrechen bekräftigt, die Forderungen von Opferorganisationen wie dem "Verband für das Gedenken und die Menschenrechte Colonia Dignidad" bleiben bisher aber ungehört.
"Der deutsche Staat hat die moralische Pflicht mit der chilenischen Justiz zusammenzuarbeiten, damit gegen die Täter der Menschenrechtsverbrechen gerichtlich vorgegangen wird und sie verurteilt werden können", so die Verbandspräsidentin.
Einige der Täter konnten nach Deutschland fliehen und werden bis heute nicht nach Chile ausgeliefert. Der prominenteste Fall ist dabei der Sektenarzt und rechte Hand Schäfers, Hartmut Hopp, der in Chile 2011 rechtskräftig wegen Vergewaltigung und anderer Verbrechen verurteilt ist, jedoch von der deutschen Justiz unbehelligt in Krefeld lebt. Im Mai 2019 gab die dortige Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie die Ermittlungen gegen Hopp eingestellt hat (amerika21 berichtete).