Bogotá/Cali. Am Montag hat sich der Beginn des größten Nationalstreiks (Paro Nacional) in Kolumbien zum vierten Mal gejährt. Während im ganzen Land Gedenkveranstaltungen stattfanden, fordern Betroffene der Repression vorrangig die Schaffung einer unabhängigen Wahrheitskommission.
Seit dem 26. April mobilisieren Überlebende und Angehörige der Opfer des sozialen Aufstands in der Hauptstadt, um an die 169 Toten und Hunderte Verletzten zu erinnern. Sie verlangen die Einsetzung einer Wahrheitskommission, die die Verbrechen durch staatliche Sicherheitskräfte und paramilitärische Gruppen aufklären soll. Bis heute herrscht weitgehend Straffreiheit und viele Ermittlungen verlaufen schleppend.
Präsident Gustavo Petro hatte die Einrichtung einer unabhängigen Stelle vor einem Jahr versprochen, bisher läuft die Vorbereitung aber nur schleppend voran.
Familienangehörige legten zum Jahrestag eine Pressemeldung vor. Laut eigenen Untersuchungen sind 169 Morde im Zusammenhang mit dem sozialen Aufstand registriert worden, dazu 206 versuchte Morde. Dies ist die erste zuverlässige Zahl zu staatlicher Gewalt während der Proteste. Bisher war stets die Rede von rund 100 Toten. Außerdem seien rund 500 Fälle von willkürlichen Festnahmen und grausamer Behandlung dokumentiert.
Abelardo Aranda, Vater von Michael Andrés, einem in Cali getöteten Jugendlichen, sagt auf der Gedenkveranstaltung in Bogotá: "Wir kämpfen weiter für Gerechtigkeit und Aufklärung der Taten. Das darf nie wieder passieren. Wir fordern eine tiefgreifende Reform der Polizei."
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Über Wochen hinweg legten 2021 Streiks und Straßenblockaden das öffentliche Leben lahm, vor allem in Städten wie Bogotá, Medellín und Cali. In manchen Regionen wurde selbst die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln kritisch. Der unmittelbare Auslöser der Proteste war eine vom damaligen Präsidenten Iván Duque vorgeschlagene neoliberale Steuerreform. Besonders Cali wurde zu einem Brennpunkt der Mobilisierung – und der Repression. Allein dort starben mindestens 46 Menschen durch Polizeigewalt.
Hinsichtlich der Gerichtsprozesse gegen Demonstrierende wegen angeblicher Gewalttaten, Vandalismus und Terrorismus gibt es Fortschritte. In den letzten Wochen kamen die letzten Inhaftierten frei. Rund 300 vorrangig junge Menschen wurden von der Regierung Duque festgenommen, in Untersuchungshaft gesteckt und angeklagt. In keinem Fall gab es Verurteilungen.
Anlässlich des Jahrestages organisierten im ganzen Land und besonders in Cali, der Hauptstadt des Departamento Valle del Cauca, viele Organisationen zahlreiche Veranstaltungen. In Puerto Resistencia, einem symbolträchtigen Ort des Widerstands, findet das Festival "28A por la Paz del Cauca" statt. Konzerte, Gedenkveranstaltungen und kulturelle Aktivitäten erinnern an die Ermordeten und feiern den sozialen Widerstand.
Der Paro Nacional wird von vielen als Ausgangspunkt für den politischen Wandel gesehen, der 2022 zur Wahl von Gustavo Petro und Francia Márquez führte. Trotz der Kritik an der Regierung wird auf vielen der Veranstaltungen auch der politische Fortschritt unter der ersten linken Regierung in der Geschichte des Landes hervorgehoben. Vor allem junge Menschen sind seit dem Aufstand politisch aktiver. Großdemonstrationen wie der 1. Mai oder der Pride Day sind gewachsen, die politische Kultur hat sich nachhaltig verändert.