Kolumbien / Politik

Es ist Zeit für den Frieden!

Interview mit Luis Ignacio Sandoval über die Herausforderungen an die Zivilgesellschaft und den Staat im kolumbianischen Friedensprozess

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Luis Ignacio Sandoval
Luis Ignacio Sandoval

Im Rahmen der 28. Woche für den Frieden sprach ich mit Luis Ignacio Sandoval, einem der Initiatoren der Friedenswoche, Präsident von Redepaz (Red Nacional de Iniciativas Ciudadanas por la Paz y contra la Guerra), Mitglied im Nationalen Rat für den Frieden und einer der Initiatoren der Friedensplattform ´Clamor Social por la Paz´

Luis, Du hast eine langjährige Erfahrung als Analyst, Autor und Aktivist für den Frieden, was sind Deine Erfahrungen im Laufe der vielen Friedenswochen?

Die Friedenswochen werden seit 28 Jahren ohne Unterbrechung immer in der zweiten Septemberwoche durchgeführt, das hat natürlich auch mein Leben geprägt, wie auch die Gewalt und die Kriege im Land. Ich habe intensiv an der Friedensbewegung teilgenommen, mit all ihren Höhen und Tiefen, und die Bewegung in vier Büchern analysiert – ein weiteres ist auf dem Weg.

Diese Friedenswoche hat längst eine eigene Dynamik in der Gesellschaft gewonnen und die ursprünglichen Initiatoren wie die Katholische Bischofskonferenz und Redepaz sind immmer noch die treibenden Kräfte. Redepaz wurde 1993, also fünf Jahre nach der ersten Friedenswoche, gegründet und hat sie, die zunächst von dem Friedensprogramm der Jesuiten ins Leben gerufen worden war, sozusagen geerbt.

Diese Wochen werden natürlich auch von der jeweiligen politischen Konjunktur und öffentlichen Meinung geprägt. Wir nennen dies eine Pendelbewegung: es gibt Momente in denen die Gesellschaft enthusiastisch für den Frieden und den Dialog ist, um den Krieg zu beenden, und es gibt Momente, in denen die Gesellschaft für eine militärische Lösung ist. Das nennen wir das Pendel: einen Tag für den Frieden im Dialog, einen anderen Tag für einen militärisch errungenen Frieden.

Dieses Jahr 2015 ist die Friedenswoche besonders wichtig, da wir im Friedensdialog mit der Guerillagruppe FARC-EP1 vorangekommen sind und die Dialoge mit der zweitgrößten Guerrilla ELN[fnEjército de Liberación Nacional, Nationale Befreiungsarmee bald beginnen. In diesem Prozess spielt die Unterstützung der Gesellschaft eine große Rolle, um dafür zu sorgen, dass der Dialog nicht abgebrochen und der Übergang von einem negativen Frieden (das heißt der Beendigung des bewaffneten Konflikts) zu einem positiven Frieden vorbereitet wird, der mehr soziale Gleichheit und mehr Demokratie im täglichen Leben der Menschen bedeutet.

Kolumbien lebt den längsten Konflikt auf dem lateinamerikanischen Kontinent mit acht Millionen Opfern und fast sechs Millionen internen Vertriebenen, was in vielen Regionen zu einer humanitären Dauerkrise geführt hat. Seit den 1980er Jahren gab es mehrere Versuche den Frieden inmitten des Krieges zu verhandeln. Diese Versuche sind gescheitert, nicht nur in Kolumbien, sondern auch in vielen anderen Ländern. Was hälst Du von dieser Strategie im aktuellen Friedensprozess mit der FARC-EP, der seit 2012 in Havanna läuft?

In Kolumbien hat diese Stratgie nicht funktioniert, da der bewaffnete Konflikt schlimme Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, Angriffe, Konfrontationen, Vertreibungen, Verstümmelungen,Verluste auf Seiten der Militärs und der Guerrilla, natürlich auch auf Seiten der Zivilbevölkerung, einschließlich der Massaker und Entführungen. Wenn dies alles während der Friedensverhandlungen passiert, wird der Dialogprozess diskreditiert, denn die Kriegsereignisse wecken bei den Menschen einen gegenteiligen Eindruck. Deshalb sind auch die vorherigen Dialoge in den 1980ern gescheitert, zunächst unter der Regierung Belisario Betancourt und auch unter der Regierung Cesar Gaviria in den 1990er Jahren, als die beiden Guerrillagruppen FARC-EP und ELN zusammen verhandelt haben. Wir wissen was während des Dialogprozesses in El Caguan (1998 – 2002) passierte, als sich die Konfrontationen verschärft hatten und den Dialogprozess überschattet haben. Schließlich wurde er nach 46 Verhandlungsmonaten in einer sogenannten Entspannungszone so groß wie Holland abgebrochen.

Hier in Kolumbien haben wir diese enorme Schwierigkeit wie sich auch wieder im April bis Anfang Juli dieses Jahres gezeigt hat, als der einseitige Waffenstillstand der FARC-EP abgebrochen wurde und das Militär wieder bombardiert hat. Glücklicherweise haben sich FARC-EP und Regierung am 12. Juli in Havanna auf ein Abkommen mit dem Titel "Beschleunigung in Havanna – Entspannung in Kolumbien" geeinigt, das heißt einen Plan vereinbart, um in den vier darauffolgenden Monaten die Verhandlungen voranzubringen und die Kampfhandlungen einzustellen. Dabei hat der Protest der Gesellschaft gegen die erneute Verschärfung des Konfliktes eine große Rolle gespielt.

Im derzeitigen Dialogprozess mit einer klar definierten Agenda 2wurden Repräsentanten der Opferverbände angehört, aber es gibt keine direkte Partizipation der verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren am Verhandlungstisch. Der Frieden ist jedoch für alle Kolumbianer. Wie kann man dies erklären?

Der Frieden ist für alle, aber wir müssen nicht alle an den Verhandlungstisch. Denn bei genauerer Betrachtung muss man den Dialogprozess von den Dynamiken des Friedensaufbaus unterscheiden. In Havanna wird die Beendigung des gewaltvollen Konfliktes zwischen Regierung und der Guerrilla verhandelt und die Gesellschaft begleitet den Prozess aktiv, aber die Verantwortung liegt definitiv bei den beiden Parteien und es ist besser, sich nicht direkt in die Verhandlungen einzuschalten, denn es geht - sagen wir - um das Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Guerrilla. Letztere versucht seit 50 Jahren erfolglos eine Revolution durchzuführen, denn es gab nie eine breite Unterstützung in Bevölkerung. Man muss es offen sagen, dass die Guerilla in der ganzen Zeit am Rande des kolumbianischen Lebens gestanden hat, denn es haben sich nicht viele Kolumbianer dem bewaffneten Kampf angeschlossen. Auch wenn die Guerrilla zwar nicht zerschlagen ist, ist sie aber auch weit davon entfernt siegreich zu sein.

Die Zivilgesellschaft und die Friedensbewegungen begleiten den Verhandlungsprozess, weil sie die politische Bedeutung des bewaffneten Konfliktes anerkennen und fordern einen politischen Ausweg. Vor allem aber fordern sie, dass der Dialog den Konflikt überwindet, das er endlich aufhört und es bald einen defintiven Waffenstillstand gibt.

Das andere Thema, das Du ansprichst, bezieht sich auf die eigene Agenda der Gesellschaft. Denn die Gesellschaft hat ihre eigene Agenda, aber nicht um sie auf den Verhandlungstisch zu bringen, denn diese Agenda ist dauerhafter und hat einen langen Atem. Wir hoffen, dass die Aufständischen den Friedensvertrag unterzeichnen und sich der pluralen Bewegung anschließen, die den Frieden für einen gesellschaftlichen Wandel mit sozialer Gerechtigkeit, Würde und Demokratie aufbaut.

Bevor wir auf diesen Punkt zurückkommen, möchte ich noch bei dem Kontext der derzeitigen Friedensverhandlungen bleiben, denn die Guerrillas sind nicht die einzigen bewaffneten Gruppen in Kolumbien, sondern es gibt hier die Bacrim 3 – den Paramilitarismus, der eine permanente Bedrohung vor allem für lokale Gemeindevertreter, Vertriebene, die ihr Land reklamieren und Verteidiger der Menschenrechte in vielen Regionen darstellen. Wie kann deiner Meinung nach eine geeignete Strategie aussehen, um dieses Problem in den Griff zu bekommen?

Diesbezüglich gibt es auch langjährige Erfahrungen. Der zukünftige Frieden wird nur möglich sein, wenn es dem Staat gelingt, die bewaffneten Gruppen der Rechten zu kontrollieren, die zudem in den Drogenhandel verstrickt sind. Die meisten Gruppen sind entstanden, um die Aufständischen zu bekämpfen und diejenigen die sie dafür halten, das heißt, eigentlich alle, die ihre Rechte reklamieren und protestieren. Daher muss der Staat auch das Problem mit den Bacrim beenden, um das legitime Machtmonopol zurückzugewinnen und ein Rechtsstaat zu sein. Es ist möglich, dass diesbezüglich Gespräche juristischen Charakters laufen, keinesfalls Dialoge, um sie wie politische Kräfte zu behandeln, sondern um ihnen den juristischen Weg zu bahnen. Der Staat, die Regierung muss gewährleisten, dass diese Gruppen aufhören. In der kolumbianischen Realität reicht es nicht, dass die Aufständischen die Waffen niederlegen und der bewaffnete Kampf aufhört, sondern die Waffen müssen aus der Politik verschwinden und dies sowohl seitens der linken als auch seitens der rechten Gruppierungen.

Seitens der Gesellschaft schlagen wir eine Kommission vor, die diverse Schlüsselsektoren integriert, um Bedingungen und Strategien für die Nicht-Wiederholung des bewaffneten Konflikts zu schaffen. Und dazu sind strukturelle Veränderungen und eine klare und komplexere Politik notwendig.

Dieses System, das Du beschreibst, ist geprägt von unterschiedlichen Interessen, die sich im Laufe langer Jahre in einer militärischen Logik und durch die Kriminalisierung sozialer Organisationen gebildet hat. Dennoch gibt eine eine große Vielfalt von Friedensinitiativen in den verschiedenen Landesteilen, was die große Gestaltungskraft der Bevölkerung für die Konstruktion des Friedens und den Widerstand gegen den Krieg zeigt. Wie haben die sozialen Bewegungen über die langen Jahre hinweg all den Bedrohungen und Herausforderungen in den Regionen standgehalten?

Ohne Zweifel zeigt dies einen großen Heroismus und eine große Widerstandskraft. Wir müssen auf dem Weg des Friedens weitergehen, trotz der vielen und wiederholten Hindernisse, die uns jeden Tag begegnen. Es gibt eine enorme Anzahl von Ausdrücken des Widerstands der Zivilgesellschaft, der ethnischen Gemeinden, Afrokolumbianer, Bauern und auch von vielen Menschen in den Städten gegen die Handlungen der bewaffneten Gruppen. Gleichwohl fehlt es noch an der Stärke für eine umfassendere Vernetzung der Bewegung, die die Kraft hat, den Staat zu einer proaktiveren und präventiven Politik zu zwingen, um den sozialen Protest und andere gesellschaftlichen Dynamiken rechtlich zu grantieren. Der Staat muss seine Fähigkeit unter Beweis stellen, dass er die Rechte aller Bürger garantieren kann, unabhängig der unterschiedlichen Weltanschauung und politischen Position.

Zur Zeit finden täglich Proteste und kulturelle Veranstaltungen von ganz unterschiedlichen Akteuren in vielen Teilen des Landes statt und laut Zahlen von Menschenrechtsorganisationen erlebt Kolumbien die größte Mobilisierung seit 40 Jahren. Wie gestalten sich derzeit die Prozesse, um diese vielen Initiativen zu einer großen sozialen Bewegung für den Frieden auf nationaler Ebene zu konsolidieren?

Kolumbien ist eines der Länder mit den meisten Friedensinitiativen und Menschenrechtsorganisationen wie CINEP (Centro de Investigación y Educación Popular) oder International Alert in England registrieren tausende von Bürgeraktionen für den Frieden, die jedes Jahr stattfinden, vor allem natürlich im September in der Friedenswoche. Kolumbien ist ein immenses Laboratorium von Innovationen und Erfahrungen einer aktiven Bürgerschaft, aber wir haben die enorme Schwierigkeit Bewegungen zu bilden, die Synergien schaffen und all diese Erfahrungen integrieren. Es gibt einen enormen Reichtum an Pluralität, aber das führt uns oft zur Tragödie der Fragmentierung.

Rückblickend haben die Bewegungen eine lange Tradition, 1997 zum Beispiel wurde das "Mandat für den Frieden" gegründet und bekam zehn Millionen Stimmen, und dies gelang durch die Konzertierung von 400 Organisationen unter Führung von Redepaz, der Stiftung "País Libre" (Freies Land) und Unicef.

Auch heute gibt es viele Initiativen, Du hast selbst den 9. April 2014 und 2015 miterlebt, die vielen Kongresse und Treffen. Immerhin haben sich mittlerweile einige wichtige soziale Plattformen mit großer sozialer und politischer Stärke gegründet, wie die "Frente Amplio por la Paz" (Breite Front für den Frieden), die 2014 entstanden ist, um die Wiederwahl von Präsident Juan Manuel Santos mit unabhängigen, alternativen, linken und progessiven Kräften der Gesellschaft zu unterstützen und damit den Friedensprozess zu retten.Die Frente Amplio ist eine Verschmelzung von sehr wichtigen politischen Sektoren und beobachtet den unilateralen Waffenstillstand der FARC-EP, das ist derzeit ihre Hauptaufgabe.

Eine andere große Plattform ist "Clamor Social por la Paz" (Sozialer Appell für den Frieden), die andere wichtige soziale, regionale, akademische und ökumenische Kräfte vereint. Diese Plattform setzt sich für einen bilateralen Waffenstillstand ein und arbeitet für den Protagonismus der Gesellschaft in dem Friedensprozess. Eine weitere wichtige soziale Plattform ist "Cumbre Agraria, Étnica, Campesina y Popular" (Agrargipfel), die eine große Mobilisierungskraft hat und sich für die sozialen Rechte ihrer Mitglieder und den Frieden einsetzt sowie einen politischen Ausgang des Konfliktes und die Wiedergutmachung der Opfer und die Landrückgabe einfordern. Desweiteren fordert sie Garantien und die Einhaltung der Menschenrechte für alle, die für den Frieden arbeiten – sie ist die führende Bewegung der sozialen Proteste.

Da ist auch die Gruppe, die die Friedenswoche initiiert, mit einem harten Kern, der permanent an den Vorbereitungen und der Durchführung der Veranstaltungen zusammen mit vielen anderen regionalen und lokalen Organisationen arbeitet, dort sind Redepaz und sehr wichtige kirchliche Sektoren anzusiedeln.

Politisch gesehen kann man sagen, dass es in Kolumbien auf der einen Seite Gruppen gibt, die für eine radikale Demokratie mit Waffen kämpfen und andererseits Sektoren, die sich für eine radikale Vertiefung der Demokratie im zivilen Kampf einsetzen. Vielleicht führt das Ende des bewaffneten Konfliktes und der Frieden dazu, uns neu in der zweiten Form – im zivilen Kampf – zu positionieren und eine große Bewegung für die Transformation Kolumbiens zu bilden.

Der Ansatzpunkt für die soziale und nationale Friedensbewegung ist, dabei eine breite abgestimmte Basis zu erreichen, die in der Lage ist, auf die Politik entscheidend einzuwirken und damit den Übergang vom Krieg zum Frieden auf lokaler und nationaler Ebene mitzugestalten.

Um noch einen Augenblick in den Regionen zu bleiben, Sergio Jaramillo, der Hochkommissar für den Frieden, spricht in seinen Reden von einem territorialen Frieden. Was heißt das für die Regionen und die sozialen Organisationen, und auch die Kommunen und Bürgermeister?

Ja, das ist ein großer Fortschritt, dass die Regierung bei der Konstruktion des Friedens territorial denkt, das ist ganz entscheidend. Denn der Konflikt selbst trägt markante territoriale Züge, das heißt zum Beispiel die Amzonía, die gesamten Zone der südöstlichen angrenzenden Berghänge, ist von Bauern besiedelt, die ihre landwirtschaftlichen Gebiete verlassen mussten und am Ende Drogen angebaut haben. Das ist geschehen, weil sie sich nicht auf fruchtbaren Boden niederlassen durften, sie sind immer wieder geflohen und haben Land im Urwald oder im tropischen Regenwald gerodet, was schwere Folgeschäden für das ökologische Gleichgewicht mit sich bringt - nicht nur für Kolumbien, sondern für den ganzen Planeten.

In den Andengebieten, wo es mehr ökonomische Entwicklung gibt, in den Departaments von Santander, Antioquia und der atlantische Küste, wo es große produktive Ländereien gibt, zeigt sich der Konflikt von einer anderen Seite; in wieder anderen Regionen bestimmen Bergbau und Ölproduktion die Konditionen des Konflikts. Das bedeutet, dass der Konflikt durch die territorialen Konditionen bestimmt wird – die physischen, aber auch die sozialen und kulturellen Bedingungen der Gemeinden, die in den Regionen leben. Daher bedeutet der territoriale Frieden in erster Linie, die regionalen Besonderheiten zu berücksichtigen und dass Maßnahmen gemäß dieser Besonderheiten entwickelt werden und nicht eine Sache, die in Bogotá entworfen wird – dies würde nicht funktionieren, so macht man keinen Frieden.

Vor allem muss man bei der Basis beginnen. Ich persönlich gehöre zu denjenigen, die die Rhetorik der Regierung zum territorialen Frieden positiv aufgenommen haben, aber ich habe ebenfalls auf die Grenzen dieses Ansatzes hingewiesen, weil es auch eine Fokussierung bedeuten könnte, die von den multilateralen Organismen mit einem neoliberalen Ansatz vorgeschlagen werden. Dabei werden einige Wenige favorisiert und die Mehrheit lässt man mit ihren Problemen alleine. Dies wäre eine diskriminiernde Fokussierung und der Frieden würde sich auf einige wenige territoriale Abkommen reduzieren, aber der Frieden ist ein Prozess des Wandels, den das ganze Land braucht.

Die Friedensbewegung hat sich dem Konzept des territorialen Friedens ausdrücklich angeschlossen. Dabei wird von den Bevölkerungsgruppen und den lokalen Gemeinden die Präsenz des nationalen Staates mit all seiner Infrastruktur eingefordert, aber man verzichtet nicht auf die Autonomie und das Recht der lokalen Gemeinden auf ihre eigene Entwicklung.

In einem möglichen Szenarium nach Unterzeichnung des Friedensvertrages stellen sich einige Schlüsselaufgaben an den Staat, wie vor allem, eine kohärente Politik zu entwerfen und Institutionen und demokratische Mechanismen aufzubauen, die es erlauben die verschiedenene Vorstellungen eines friedlichen Zusammenlebens konstruktiv zu integrieren, und – wie Du schon erwähnt hast – demokratische Räume zu schaffen, um den Übergangsprozess der bewaffneten Gruppen in politisch legale Bewegungen zu ermöglichen. Wie können die Institutionen transformiert werden und wirklich demokratische Mechanismen auf nationaler Ebene geschaffen werden?

Das ist ein sehr wichtiger Aspekt: die Schaffung einer Institutionalität für den Frieden. Diesbezüglich ist das Land im Rückstand und es geht sehr langsam voran, wie auch ein Dokument der Vereinten Nationen bestätigt. Es sollte eine große institutionelle Entwicklung stattfinden, um die Einhaltung des Friedensabkommens zu gewährleisten, da sind eine Reihe von Reformen notwendig, ökonomische und soziale vor allem im Agrarbereich. Wir brauchen einen politischen Wandel, eine Veränderung des Wahlsystems und der Organisation der Parteien und müssen damit eine Basis für die Anerkennung neuer politischer Organisationen schaffen. Denn es ist gut möglich, dass die Aufständischen, die die Waffen niederlegen, andere politische Bewegungen gründen oder sich den vorhandenen anschließen. Ich möchte es so formulieren, wenn der Krieg geht muss die Politik aufblühen.

Eine alternative Übergangsjustiz muss den Weg ebnen, dass die Aufständischen sich politisch betätigen können. In der Friedensbewegung verstehen und unterstützen wir ihre diesbezüglichen Forderungen und hoffen, dass diese mit der gleichermaßen berechtigten und legalen Forderung der Opfer nach Wahrheit und Gerechtigkeit kompatibel wird. Man kann auch nicht davon ausgehen, dass Frieden möglich ist, wenn die Entwaffneten anschließend ins Gefängnis gehen. Dieser Punkt wird seit dem 12. Juli intensiv in Havanna verhandelt und ich habe den Eindruck, dass wir bald dazu gute Nachrichten bekommen4

Der Nationale Rat für den Frieden und die territorialen Räte werden sich in Kürze mit diesem Thema beschäftigen und eine Kommission zum territorialen Frieden und der Umsetzung der Vereinbarungen gründen. Andere Punkte werden im Rahmen der territorialen Entwicklungspläne in den jeweiligen Kommunalverwaltungen ab 1. Januar 2016 bearbeitet. Sowohl der Staat als auch die Bürger stehen vor gewaltigen Aufgaben.

Ein weiteres großes Thema ist das Entwicklungsmodell, das nicht in Havanna diskutiert wird, aber Teil der Agenda der Zivilgesellschaft und der Friedensplattformen ist. Welches sind die Vorschläge der sozialen Bewegungen für eine Friedensagenda mit einem alternativen sozioökonomischen Modell und sozialer Gerechtigkeit?

Die sozialen Bewegungen haben heute recht solide Vorschläge, was in früheren Jahren nicht der Fall war. Du bist in einer sehr interessanten Epoche hier, denn Du siehst die Studenten, die protestieren, aber auch konkrete Vorschläge für eine Reform des Bildungssystems haben; die Bauern, die konkrete Vorschläge für eine Landreform haben; die Bewegung im Gesundheitssektor hat Vorschläge wie das Recht auf Gesundheit der Bevölkerung garantiert werden kann, und die Arbeiter haben Vorschläge für eine Reform des Rentensystems; auch die Frauen, die Jugendlichen, die LGTBI, die Umweltschützer, sie alle bringen ihre Veränderungsvorschläge vor. Die Gewerkschaft der Arbeiter in der Erdölindustrie (USO) führt landesweite Versammlungen zum Thema Politik der Natur- und Energieressourcen sowie zum Umweltschutz durch, um anschließend dazu eine Gesetzesvorlage im Kongress einzureichen. Damit sind die sozialen Bewegungen in Kolumbien nicht mehr nur reaktiv, sondern proaktiv und können mit den staatlichen Autoritäten auf Augenhöhe die öffentliche Politik diskutieren.

Du bist auch Mitglied im Nationalen Rat für den Frieden, den Du schon erwähnt hast. Was ist die Funktion dieses Rates und inwiefern kann er zum Aufbau einer Friedensarchitektur für die Bürger und Bürgerinnen beitragen?

Der Rat ist ein wichtiger Bereich, in dem Staat und Bürger präsent sind, es ist ein institutioneller Rahmen für die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft und um die öffentliche Politik für den Frieden zu gestalten. Seine Relevanz liegt vor allem darin, dass es wenige solcher Räume gibt, wo Interessen in Einklang gebracht und Konflikte verhandelt werden können. Daher könnte der Rat eine Rolle bei der Erarbeitung einer staatlichen Friedenspolitik spielen. Denn bisher gibt es noch keine staatliche Politik für den Frieden in Kolumbien, bisher gibt es die Politik von Präsident Juan Manuel Santos. Aber wir müssen dafür sorgen, dass es in der nächsten Dekade, für die folgenden Regierungen, eine konsolidierte Friedenspolitik gibt und das Friedensabkommen sowie die entsprechenden Reformen umgesetzt werden. Der Rat kann dabei mithelfen, eine staatliche Politik für den Frieden zu erarbeiten.

Die Arbeit des Rates gestaltet sich auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene, aber er muss mit anderen Gremien wie dem Rat zur Versöhnung, den Instanzen der Übergangsjustiz und der Umsetzung des Opfergesetzes sowie den kommunalen Planungsräten zusammen arbeiten, um die Planungen der nächsten Kommunalregierungen, die am 25. Oktober gewählt werden, mitzugestalten. In diesen Bereichen arbeitet der Rat und mit Hilfe von Friedenspädagogik, womit wir dem territorialen Frieden einen Sinn geben und die Voraussetzungen schaffen wollen, die eine Nicht-Wiederholung des Konfliktes garantieren und den Weg zur Versöhnung ebnen. Dabei geht es für die Räte auch darum mitzuhelfen, den Bürgern und Bürgerinnen eine Vorreiterrolle im Friedensprozess zu geben.

Du hast die anstehenden Regional- und Gemeindewahlen vom 25. Oktober erwähnt. Sind diese Wahlen entscheidend für den Frieden?

Diese Wahlen sind sehr wichtig, ich glaube wir erleben die wichtigsten Tage der letzten 25 Jahre in diesem Land. Wir sind dabei einen 50-jährigen Krieg zu beenden, was wir seit 25 Jahren versuchen und genau jetzt stehen wir kurz davor, ein Ende zu erreichen. Es ist die Zeit für den Frieden, die sobald nicht wieder kommt, denn wenn wir es jetzt nicht schaffen, können Jahrzehnte folgen, bis sich eine neue Möglichkeit eröffnet. Es ist notwendig, dass die Reformen, die das Land braucht und die in den Zwischenabkommen vereinbart wurden, umgesetzt werden. Dabei ist die Unterstützung der Bürger und Bürgerinnen entscheidend, die sich zum Großteil in den Wahlen niederschlägt. Die Wahlen sind Teil der Mobilisierung, einer großen kollektiven Aktion, die notwendig ist um den Friedensprozess wirklich voranzubringen. Deshalb sind diese Wahlen so wichtig, sie bieten aber auch die Gelegenheit für eine poltische Bildung, denn es geht ja nicht nur um die Stimmabgabe, das zwar auch, aber vor allem auch um die politische Debatte zur öffentlichen Politik, zu den Regierungsprojekten, zu den gemeinsamen Vorschlägen und der Einhaltung der Abkommen.

Kolumbien muss überwinden, ein Land ohne generelle gemeinsame nationale Ziele zu sein. Andere Länder wie Mexiko, Brasilien, Argentinien, Ecuador und Venezuela haben diese, aber in Kolumbien zeichnet sich das noch nicht ab, aber wir müssen damit weiterkommen. Die Wahlen sind eine Chance darüber zu diskutieren und auch der Nationale Rat und die territorialen Räte werden ihren Beitrag zur Förderung des Friedenswillens und gemeinsamen Programmen für das Land leisten.

Meine letzte Frage zu dieser entscheidenden Phase des Friedensprozesses. Welches sind Deiner Meinung nach Erwartungen der sozialen Bewegungen an die internationale Gemeinschaft und an die internationalen Friedensbewegungen?

Das sind wichtige Allierte, denn ohne sie kommen wir nicht weit. Der Frieden in Kolumbien muss an erster Stelle im lateinamerikanisichen Kontext, aber auch im globalen gestaltet werden.

Als am am 20. Februar 2002 der Friedensprozess von El Caguan gescheitert ist, sind die Bewegungen der Zivilgesellschaft und die alternativen politischen Kräften zu mehreren Schlussfolgerungen gelangt. An erster Stelle, weiterhin auf einer politischen Lösung des Konfliktes zu bestehen, zweitens, nicht aufzugeben, eine starke politisch alternative Bewegung zu bilden, drittens, nicht auf die internationale Gemeinschaft als wichtigen Alliierten zu verzichten. Es ist uns vollkommen klar, dass die Präsenz der internationalen Gemeinschaft derzeit sehr wichtig ist, aber sie sollte ihre Teilnahme verstärken. Meiner Meinung nach fehlt noch eine große Unterstützungsbewegung für den gesellschaftlichen Wandel, sie sollten sich nicht nur für die Beendigung des bewaffneten Konfliktes einsetzen, sondern auch für einen sozialen Wandel.

Die Nachbarländer in Lateinamerika wie Uruguay unter Pepe Mujica, in Brasilien unter Lula und Ecuador mit Correa und die letzten Regierungschefs in Venezuela haben dies getan. Wir brauchen eine Unterstützung für die Entwicklung neuer sozialer Akteure. Wenn die Waffen aus dem politischen Leben verschwinden, steht Kolumbien vor einem Übergangsprozess zu mehr Demokratie. Diese Art der Veränderung schaffen wir nicht alleine, denn es ist auch Teil eines globalen und kontinentalen Prozesses, für den wir politische und finanzielle Hilfe benötigen, und auch im kulturellen Bereich, in der Regierungsführung und der Diplomatie brauchen wir Unterstützung. Ich sage Dir ohne Umschweife, die internationale Gemeinschaft ist ein stratgischer Alliierter für den Frieden in Kolumbien.

Vielen Dank, Luis, für dieses interessante Gespräch und für Deine Zeit.

Leicht gekürzte Fassung des Interviews: ¡Es la hora de la paz! Retos para la sociedad civil en el proceso de paz en Colombia, nachzulesen unter: www.foronacional.org. Das Gespräch wurde am 14. September.2015 geführt


Gabriela Weber ist Soziologin, Beraterin des Evangelischen Entwicklungsdienstes Brot für die Welt bei der Stiftung Foro Nacional por Colombia, Mitglied bei Clamor Social por la Paz.

  • 1. Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee
  • 2. Während des fast dreijährigen Verhandlungsprozesses wurden bisher Teilabkommen zu Kernpunkten der Agenda beschlossen wie der Agrarpolitik, der politischen Partizipation und einer demokratischen Öffnung, den illegalen Drogen. Repräsentanten der Opferverbände wurden in Havanna angehört und es wurde eine Kommission für Genderfragen gegründet. Derzeit wird ein integrales System zur Wahrheit, Gerechtigkeit, Reparation und Garantien zur Nicht- Wiederholung aufgebaut, um die Rechte der Opfer zu garantieren
  • 3. Bacrim - Bandas Criminales (kriminelle Banden)
  • 4. Am 23. September 2015 wurde die historische Vereinbarung zur Schaffung einer speziellen Justiz für den Frieden veröffentlicht. Dort ist eine Übergangsjustiz (Justicia Transicional) und die Bildung eines Sondertribunals vorgesehen. Gleichzeitig gab Präsident Juan Manuel Santos in seiner Rede bekannt, dass der Friedensvertrag am 23. März 2016 unterzeichnet werden soll, was auch von den Friedensbewegungen sehr begrüßt wurde. Das Kommuniqué # 60 zu diesem Abkommen ist nachzulesen unter: www.mesadeconversaciones.com.co