Welcher Frieden erwartet Kolumbien?

Bedenken gegen angekündigtes Justizmodell. Menschenrechtsaktivisten warnen vor einem militarisierten Frieden

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Friedensdemonstranten mit Transparent: "Die kolumbianische Bevölkerung hat den Schlüssel zum Frieden"
Friedensdemonstranten mit Transparent: "Die kolumbianische Bevölkerung hat den Schlüssel zum Frieden"

Große Begeisterung hat die Ankündigung der kolumbianischen Regierung zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit der Guerillabewegung Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (Farc) im kommenden März hervorgerufen. "Es ist ein sehr gutes Zeichen, dass ein konkreter Termin vereinbart wurde“, sagte die Menschenrechtlerin Ana María Rodríguez von der Kolumbianischen Juristenkommission (CCJ) gegenüber amerika21. "Die Ankündigung ist äußerst wichtig und wir in den Gemeinden haben die Nachricht natürlich mit großer Freude aufgenommen", fügte der Sprecher des Gemeindenetzwerkes für den Frieden (Conpaz), Rodrigo Castillo, im Gespräch mit diesem Portal hinzu. Rodríguez und Castillo haben unlängst eine Informationsreise durch Europa gemacht. Sie sind von dem Internationalen Menschenrechtsbüro - Aktion Kolumbien (Oidhaco) eingeladen worden.

Gegenüber den vom Ex-Präsidenten Álvaro Uribe angeführten ultrarechten politischen Kreisen und ihren Versuchen, den Friedensdialog zu sabotieren, bedeutet die Mitteilung der Friedensdelegationen offensichtlich einen Erfolg.

Positiv ist ebenso, dass die Forderung der sozialen Bewegungen, eine eher "restorative justice" (wiedergutmachende Justiz) statt einer schlichten strafrechtlichen Behandlung der Verbrechen anzuwenden, in dem Entwurf des Justizmodells für den Frieden (JEP) aufgenommen worden ist. So ist in Havanna angekündigt worden, dass sich die Strafmaßnahmen gegen die Verantwortlichen für Verbrechen im Rahmen des Konflikts auf die Wiedergutmachung der entstandenen Schäden bei den Opfern fokussieren sollen. Dabei soll es nicht nur um materielle Entschädigungen gehen, sondern um die Klärung der vollständigen Wahrheit über die Verbrechen des Konflikts und die Garantie der Nichtwiederholung. Theoretisch würde dies die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Strukturen, die von der Gewalt profitiert haben beziehungsweise noch profitieren, enthüllen und somit wertvoller sein, als wenn die Täter nur ins Gefängnis geschickt würden.

Es gibt allerdings viele offene Fragen sowohl in Bezug auf das Justizmodell als auch auf die Beendigung des Konflikts überhaupt. Die Bedenken, Fragen und Forderungen von Organisationen der Kleinbauern, Indigenen, Menschenrechtsaktivisten, Opfer von Staatsverbrechen und Friedensgruppen wie  Kongress der Völker (CdlP),Conpaz, Indigenenrat von Cauca (Cric), Bewegung der Opfer staatlicher Gewalt (Movice) und Koordination Kolumbien-Europa-USA (CCEE)1 bezüglich der JEP lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Es werden neue Organe für die JEP gebildet werden: Ein "Gericht des Friedens" und mehrere "Säle" oder Abteilungen. Diese Justizorgane werden mehrheitlich von kolumbianischen und dazu von einigen ausländischen Richtern besetzt. Wegen der enormen Zahl der Konflikt-Verbrechen wird die JEP nur eine Auswahl schwerer Fälle behandeln. Für Opfer- und Friedensorganisationen wie Movice und Conpaz ist nicht klar, welche Auswahlkriterien dabei angewendet werden und ob die Opfer des Konflikts bei der Auswahl der Richter und der Fälle sowie bei der Absegnung von Strafen eingebunden werden.

Hintergrund der Forderung von Opfern und Menschenrechtlern, an der JEP direkt teilzunehmen, ist das bisherige Verhalten des bestehenden kolumbianischen Justizsystems. Menschenrechtsverteidiger wie Jorge Molano bezeichnen es als "korrupt, pervers und mafiös". Nach Auffassung von Conpaz sei die Justiz sehr darauf bedacht, Anführer der sozialen Bewegung mit verschiedensten Mitteln zu verfolgen. Ein Beispiel dafür ist ein Apparat von falschen Zeugen – in Kolumbien auch als "Zeugen-Kartell" bekannt –, den Staatsanwälte gegen Unschuldige einsetzen.

Obwohl die Organe der JEP dem regulären Justizsystem nicht untergeordnet sein werden und ihre Entscheidungen von diesem nicht angefochten werden können, hängen ihre Urteile weiterhin von den Untersuchungen der Staatsanwaltschaft ab. Die JEP ist also vom umstrittenen traditionellen Justizsystem nicht komplett abgetrennt.

2. Ein weiteres Problem sei die Weigerung der Regierung, das Militärgeheimnis abzuschaffen und geheime Dokumente der Sicherheitskräfte für die Wahrheitskommission freizugeben. Diese soll die Wahrheit über die Geschehnisse des bewaffneten Konflikts herausfinden beziehungsweise rekonstruieren, ohne dass die gewonnenen Erkenntnisse vor Gericht verwendet werden. Zentral ist dabei die Feststellung kollektiver Verantwortungen von Seite der Farc, des Staates sowie jeder anderen nationalen oder internationalen Gruppe oder Institution bei schweren Menschenrechts- und Kriegsverbrechen. Die Regierung hätte sich zwar verpflichtet, alle nötigen Informationen "gemäß dem Gesetz einzureichen", doch das bestehende Gesetz schützt das Militärgeheimnis, erklärt Molano. Die Wahrheitskommission könne ihre Aufgabe unter Geheimhaltung von Dokumenten der Sicherheitskräfte nicht erfüllen.

3. Die vereinbarte Symmetrie zwischen den Strafen für Rebellen und für Vertreter des Staates fand nicht uneingeschränkt Zustimmung. Laut der Opferorganisation Movice und der Menschenrechtsorganisation Cajar sollten Verbrechen gegen die Menschheit, die Vertreter des Staates begangen haben, stärker sanktioniert werden, denn im Unterschied zu Guerilla-Kämpfern hätten diese die Funktion, die Rechte, das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Bürger zu garantieren. Problematisch sei außerdem, dass die Angehörigen der Sicherheitskräfte dank der im Juni verabschiedeten Erweiterung der militärischen Gerichtsbarkeit die Möglichkeit haben, vor der JEP auszuweichen. Davor warnen Movice und die CCEE.

4. Eine weitere Sorge ist, dass die JEP sich auf die Verbrechen der Farc konzentriert und die Taten der Vertreter des Staates vernachlässigt. Ein Zeichen dafür sei laut Movice, dass der Generalstaatsanwalt 800 seiner Mitarbeiter aufgetragen hat, sich auf Ermittlungen gegen die Farc zu konzentrieren während er bisher überhaupt keinen Plan angekündigt hat, um die Staatsverbrechen zu ermitteln.

Auch der Skandal um die umstrittenen Honorarzahlungen der Staatsanwaltschaft in Milliardenhöhe an externe Berater wie den spanischen Ex-Richter Baltasar Garzón oder die kolumbianiche Politologin Natalia Springer weisen auf intensive Vorbereitungen von Anschuldigungen gegen die Farc hin. Springers Auftrag bestehe nach eigenen Angaben darin, durch quantitative Datenanalysen zu beweisen, dass die Taten der Farc Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind. Dies ist relevant bei der JEP, da der "Gerichtshof des Friedens" Verantwortliche für solche Verbrechen nicht amnestieren darf.

Ähnliche Bemühungen der Staatsanwaltschaft gegen private Förderer und Geldgeber des Paramilitarismus – die die größte Straflosigkeit in Kolumbien genießen – sind bisher allerdings nicht bekannt, obwohl die Behörde 13.000 Hinweise auf Verbindungen zwischen Paramilitärs und Unternehmern hat. Organisationen wie Conpaz fragen nun: "Wie kann man sicher gehen, dass es dieses Mal nicht Straflosigkeit gegenüber der realen ökonomischen, politischen und militärischen Macht geben wird, welche die Wahrheit nicht sagen will?"

In diesem Zusammenhang begrüßt Conpaz die Bereitschaft der Guerillabewegungen Farc und Nationale Befreiungsarmee (ELN), die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Ein Beispiel dafür sei das Verhalten der Farc im Fall des Mordes an dem afrokolumbianischen Aktivisten Gilmer Genaro García Ramírez. Die Rebellen haben die Täterschaft zugegeben und bei den Familienangehörigen um Vergebung gebeten. Solche Gesten helfen dem Friedensprozess, sagte der Sprecher des Netzwerkes, Castillo, gegenüber amerika21. "Diese Bereitschaft haben wir beim Staat nicht die auf selbe Weise gesehen", heißt es in einem Kommuniqué von Conpaz.

Was für einen Frieden?

Doch die Bedenken der sozialen Organisationen und der Friedensbewegung beziehen sich nicht nur auf die Übergangsjustiz sondern auf die Friedensperspektiven überhaupt. Selbst optimistische Menschenrechtler wie Ana María Rodríguez von der CCJ klagten gegenüber amerika21 darüber, dass es einen Widerspruch zwischen den Vereinbarungen in Havanna und dem, was in Kolumbien gerade passiert, gibt.

Tatsächlich werden Menschenrechtsaktivisten weiter gezielt ermordet. Die Angriffe gegen sie haben in diesem Jahr um 105 Prozentzugenommen. Es scheint außerdem eine Verhaftungswelle gegen Anführer von Basisorganisationen zu geben. Ein prominenter Fall ist die Verurteilung  des indigenen Aktivisten und Ex-Präsidentschaftskandidaten Feliciano Valencia zu 18 Jahren Freiheitsentzug.

Auch die Gesetzgebungsprojekte der Regierung stehen den Vereinbarungen der Friedensdelegationen entgegen: Die Erweiterung der militärischen Sonderjustiz; das gerade debattierte neue Polizeigesetz, mit dem das Demonstrationsrecht eingschränkt und Befugnisse der Polizei erweitert werden; die Schaffung von "ländlichen Wirtschaftsentwicklungszonen" (Zidres), die Großunternehmern das Ansammeln von Brachland ermöglicht und ein Hindernis gegen die Umverteilung von Ländereien ist. Dass die Regierung nicht im Sinne der bisherigen Friedensvereinbarungen handelt, zeigt sich ebenso durch die Missachtung aller Abkommen, die sie mit der Kleinbauernbewegung unterzeichnet hat.

Es scheint also, dass das Establishment in der Praxis keine wesentlichen Konzessionen machen will. Auch nicht bei der "Doktrin zur Inneren Sicherheit", die in den 1960er Jahren in Kolumbien – so wie in anderen lateinamerikanischen Ländern auch – mit Unterstützung der USA eingeführt worden ist und bewaffnete oder unbewaffnete Regimekritiker als Staatsfeinde betrachtet. Die Regierung hat klargestellt, dass der Militärapparat und seine Aktionsrichtlinien gar nicht zur Diskussion stehen. Menschenrechtler wie Jorge Molano warnen in diesem Zusammenhang vor einem militarisierten Frieden. Die Abschaffung der Sicherheitsdoktrin gehöre zu den strukturellen Änderungen, die gemacht werden müssten, um die Rückkehr der Gewalt zu vermeiden, so Rodríguez gegenüber amerika21. Für Conpazsei dies eine Garantie der Nichtwiederholung.

Eine weitere Garantie der Nichtwiederholung ist die ernsthafte Bekämpfung des Paramilitarismus, der ohne die Unterstützung oder Duldung der Sicherheitskräfte nicht existieren könnte. Alle Organisationen der sozialen Bewegung stimmen darin überein. "Der Staat hat den Paramilitarismus aber nicht so bekämpft, wie er sollte", versichert Rodríguez. In den vergangenen Wochen sind paramilitärische Gruppen von jeweils 200 Männern in der westlichen Region von Bajo Atrato und im östlichen Departamento Norte de Santander einmarschiert. "Wir werden nicht gegen die Guerilla kämpfen, wir wollen im Bajo Atrato diejenigen wegräumen, die den Fortschritt nicht wollen", sagten die Paramilitärs. Sie kündigten außerdem an, sie kämen, um Entwicklungsprojekte durchzuführen.

Der aktuelle paramilitärische Aufmarsch habe zwei Funktionen, erklärt der Conpaz-Vertreter Castillo gegenüber amerika21. Zum einen wollten die Paramilitärs unter der Bevölkerung Terror verbreiten und den Friedensprozess erschweren. Zum anderen wollten sie sichergehen, dass ihre Kandidaten bei den Regionalwahlen Ende Oktober gewählt werden. Ihnen und ihren Verbündeten sei wichtig, die regionalen staatlichen Posten zu kontrollieren, falls der Friedensprozess erfolgreich abgeschlossen wird, denn auch von dort aus würden die Friedensvereinbarungen auf lokaler Ebene umgesetzt werden. Ohne Garantien für die Zivilgesellschaft bei der Umsetzung der Übereinkünfte von Havanna könne man nun nicht von einem nachhaltigen und dauerhaften Frieden sprechen, so Castillo.

Die Freude über die Fortschritte des Friedensprozesses sollte also nicht ausblenden, dass die Unterzeichnung eines Friedensvertrags noch lange keine Garantie für die Beendigung der Gewalt gegen die Bevölkerung  oder der Verfolgung der sozialen Bewegung ist. Bleibt abzuwarten, ob Veränderungen der politischen und wirtschaftlichen Strukturen, die für den bewaffneten Konflikt ursächlich sind, durch den Friedensprozess ernsthaft in Gang gesetzt werden.

Es ist zu beachten, dass die wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes auch vom Frieden profitieren, da er zur Konsolidierung des neoliberalen Modells beiträgt. So prognostiziert Präsident Juan Manuel Santos, dass es in Kolumbien "einen wichtigen Fluss von nationalen und ausländischen Investitionen" dank "der Friedensvereinbarung mit den Farc geben wird". Für die konservative Journalistin Salud Hernández gibt es keine Zweifel daran, dass Befriedung und Geschäfte Hand in Hand gehen. Sie schreibt, dass Kolumbien von einem "failing state" zu einem "Trendland für Geschäfte" geworden ist, indem Ex-Präsident Uribe Paramilitärs demobilisiert und Guerillas zurückgedrängt habe.

Der Frieden von Santos ist also die logische Fortsetzung der Konsolidierung Kolumbiens als sicheres Investitionsziel, nicht zuletzt für das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, das "viele Unternehmen des alten Kontinentes den Blick auf die südamerikanische Nation richten ließ", wie Hernández berichtet. Bei einem Treffen zwischen Santos und Vertretern spanischer Konzerne sollen diese ihr "lebhaftes Interesse" verkündet haben, in Kolumbien Geschäfte zu machen. "Zu wissen, dass die Farc nach dem Abschluss des Übereinkommens, durch den die Terrorbande die Waffen niederlegen wird, keine Gefahr für ihre Interessen darstellen, ist zweifelsohne ein Anreiz", führt  Hernández aus.

Die Situation erinnert an die Beschreibung der Ex-Guerillera der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) Deysi Cheyene über die Entwicklung nach der Beilegung des bewaffneten Konflikts in El Salvador: "Im Rückblick gesehen, was wahrhaftig verhandelt wurde, war die Möglichkeit, das neoliberale Modell zu vollenden, das sie einführen wollten, das aber wegen des Krieges nicht vollständig entwickelt worden war". Nach Cheyenes Auffassung kam, "die Guerilla zu entwaffnen und sie in jene Partei zu verwandeln, die Stimmen für den Aufbau des ökonomischen Modells gibt, der rechten Oligarchie zu Gute" und war "die beste Lösung, um die Machtstrukturen intakt zu halten".

Wie der Autor José Antonio Gutiérrez schreibt, können die Friedensverhandlungen die soziale Bewegung stärken oder schwächen, je nachdem wie sie ihre Kämpfe für den Frieden mit ihren Kämpfen für strukturelle Veränderungen verbindet. Es bleibt also offen, wie sich die Kraftverhältnisse zwischen Befürwortern und Gegnern des neoliberalen Modells beziehungsweise des politischen und wirtschaftlichen Status quo nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens entwickeln werden. Sicher ist, dass der Aufmarsch des großen Kapitals nicht unterbrochen wird. Leider gibt es bisher keine ernstzunehmenden Indizien dafür, dass der schmutzige Krieg gegen ihre Gegner – Friedensgemeinden, Indigene, Kleinbauern, Landlose, Gewerkschafter, Studenten, Kritiker von Megaprojekten und Menschenrechtler – aufhören wird. Unverminderte Wachsamkeit ist daher geboten.

  • 1. Die Koordination Kolumbien-Europa-USA ist ein Netzwerk von 210 kolumbianischen Menschenrechrechtsgruppen, das mit Unterstützung internationaler Solidaritätsorganisationen arbeitet.