Ignacio Ramonet: Der Kampf um Venezuela

Vorwort von Ignacio Ramonet für die spanisch sprachige Ausgabe der Le Monde Diplomatique

Im Kampf um die ideologische Vorherrschaft in Lateinamerika laufen in den kommenden Wochen zwei entscheidende Auseinandersetzungen ab: die Parlamentswahlen in Venezuela, am 26. September, und die Präsidentschaftswahl in Brasilien am 3. Oktober. Sollte in diesem Riesenland nicht die demokratische Linke gewinnen, würde das politische Pendel im kontinentalen Maßstab in Richtung der Rechten ausschlagen, die bereits in Chile, Kolumbien, Costa Rica, Honduras, Mexiko, Panama und Peru regieren. Diese Möglichkeit erscheint jedoch wenig wahrscheinlich; es ist einfach unwahrscheinlich, dass es José Serra von der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PMDB, Mitte-Rechts) gelingen sollte, sich gegen Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) durchzusetzen, die von dem äußerst populären scheidenden Präsidenten Luiz Inacio Lula da Siva unterstützt wird, der – wenn die Verfassung dies nicht verhindert hätte – leicht für eine dritte Amtszeit hätte gewählt werden könnte.

Infolge dessen konzentrieren die internationalen konservativen Kräfte all ihre Angriffe auf die andere Frontlinie, also auf Venezuela, um zu versuchen, den dortigen Präsidenten Hugo Chávez und die bolivarische Revolution zu schwächen. Bei dem, was hier auf dem Spiel steht, handelt es sich um die Wahl der 165 Abgeordneten der Nationalversammlung (es gibt keinen Senat). Dabei gibt es eine Besonderheit: Die scheidenden Parlamentarier sind fast in ihrer Gesamtheit Chavisten, da die Opposition bei den vorangegangenen Wahlen von 2005 die Abstimmung boykottiert hatte. Das wird dieses Mal nicht mehr der Fall sein: Eine unendliche Zahl von ungleichen Parteien und Organisationen, die nur durch ihren antichavistischen Groll miteinander verbunden sind, präsentieren sich unter der gemeinsamen Fahne des Mesa de la Unidad Democrática (MUD) [Tisch der Demokratischen Einheit] gegen die Vereinigte Sozialistische Partei Venzuelas (PSUV1) von Präsident Chávez.

So wird es also nicht zu vermeiden sein, dass die bolivarische Regierung im neuen Nationalparlament über weniger Delegierte verfügen wird. Die Frage wird sein: In welchem Verhältnis? Wird sie mit der Durchführung ihres großen Reformprogramms fortfahren können? Wird die Opposition dazu in der Lage sein, die Revolution auszubremsen?

Hier liegen die Herausforderungen: 60 Prozent der Sitze werden auf nominale Weise vergeben und die übrigen 40 Prozent je nach Verhältnis. Die Liste, die mehr als 50 Prozent der Stimmen erzielt, erhält 75 Prozent von den Sitzen, die für die Verhältniswahl reserviert sind. Letzteres ist von Bedeutung, weil die Verfassung vorsieht, dass Gesetze, welche die Verfassung betreffen, von zwei Dritteln der Abgeordneten und Gesetze, die den Präsidenten dazu ermächtigen per Dekret zu regieren, von drei Fünfteln der Parlamentarier befürwortet werden müssen. Mit anderen Worten: Es würde der Opposition genügen 56 Stimmen (von 165) zu erlangen, um die Annahme von Verfassungsgesetzen zu verhindern und 67 Stimmen, um die Annahme von Bevollmächtigungsgesetzen unmöglich zu machen, wobei bis jetzt die wichtigsten Reformen eben auf Grund von Bevollmächtigungsgesetzen realisiert werden konnten.

Das ist der Grund dafür, dass der Kampf um Venezuela so viele Energien mobilisiert und die internationalen Diffamierungskampagnen gegen Präsident Hugo Chávez ihre Bösartigkeit verdoppeln. In den letzten Monaten kamen die wütenden Angriffe abwechselnd. Zunächst stellte man die Probleme mit der Wasserversorgung und mit Stromabschaltungen heraus (die heute gelöst sind) und gab der Regierung dafür die Schuld, wobei die klimatische Ursache dafür kaum erwähnt wurde: die Jahrhundertdürre, von der das Land betroffen ist. Dann wiederholte man beharrlich und bis zum Überdruss die unbewiesenen Behauptungen des kolumbianischen Ex–Präsidenten Álvaro Uribe, Venezuela sei angeblich eine "Zufluchtsstätte von Terroristen". Vorwürfe, die vom heutigen Präsidenten Kolumbiens, Juan Manuel Santos, nach seinem Zusammentreffen mit Hugo Chávez am vergangenen 10. August in Santa Marta aufgegeben wurden, wobei Chávez einmal mehr wiederholte, dass die Guerillakräfte den bewaffneten Kampf aufgeben müssten: "Die Welt von heute ist nicht mehr die der 1960er Jahre. Es gibt in Kolumbien nicht die Voraussetzungen dafür, dass sie die Macht übernehmen könnten. Dagegen sind sie zur Hauptausrede des Imperiums geworden, um nach Kolumbien vorzudringen und von dort aus Venezuela, Ecuador, Nicaragua und Cuba anzugreifen2."

Entgegen der augenscheinlichen Fakten behaupten die Hassmedien weiterhin, dass in Venezuela die politische Freiheit eingeschränkt und dass durch angebliche Zensur die Meinungsfreiheit behindert würde. Sie vermeiden es dagegen, darauf hinzuweisen, dass immer noch 80 Prozent der Radio– und Fernsehkanäle zum privaten Sektor gehören, während nur 9 Prozent von ihnen öffentlichen Charakter haben3. Oder dass seit 1999 insgesamt 15 demokratische Wahlen abgehalten wurden, die von keinem einzigen internationalen Überwachungsgremium in Frage gestellt worden sind. Der Journalist José Vicente Rangel betont hierzu: "Jeder Venezolaner kann jeder beliebigen der tausenden von politischen Parteien, Gewerkschaften und sozialen Organisationen oder Vereinigungen beitreten und sich dann frei auf dem gesamten nationalen Territorium bewegen, um seine Gedanken und Standpunkte ohne jede Einschränkung zu diskutieren4."

Seitdem Hugo Chávez ins Präsidentenamt gekommen ist, wurden die sozialen Investitionen gegenüber der Zeit von 1988 bis 1998 verfünffacht; eine Schlüsselentscheidung, die dafür gesorgt hat, dass Venezuela fast alle von der UNO für 2015 festgelegten Milleniumsziele bereits erreicht hat. Die Armut ist von 49,4 Prozent im Jahr 1999 auf 30,2 Prozent im Jahr 2006 gesunken, die absolute Armut von 21,7 Prozent auf 7,2 Prozent5.

Verdienen diese viel versprechenden Ergebnisse wirklich soviel Hass?

  • 1. 2007 gegründet, ist in ihr die Mehrheit der politischen Kräfte zusammengefasst, die die bolivarische Revolution unterstützen (Movimiento Quinta República, Movimiento Electoral del Pueblo, Movimiento Independiente Ganamos Todos, Liga Socialista, Unidad Popular Venezolana, etc.). Die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) ist kein intergraler Bestandteil der PSUV, unterstützt diese jedoch und tritt bei diesen Wahlen als ihr Verbündeter auf.
  • 2. Clarín, Buenos Aires, 25. Juli 2010.
  • 3. Dabei wird übrigens auch verschwiegen, dass zum Beispiel in Honduras in den ersten sechs Monaten dieses Jahres bereits neun Journalisten ermordet wurden.
  • 4. www.abn.info.ve/node/12781
  • 5. www.radiomundial.com.ve/yvke/noticia.php?45387