"Das Imperium benutzt jetzt härtere Bandagen"

Joáo Pedro Stedile von der Landlosenbewegung MST in Brasilien über die Aufgaben der sozialen Bewegungen in Lateinamerika in der aktuellen Situation

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Joáo Pedro Stedile in Caracas. Er unterstützte den Kandidaten der Linken, Nicolás Maduro, bei den Präsidentschaftswahlen am 4. April 2013
Joáo Pedro Stedile in Caracas. Er unterstützte den Kandidaten der Linken, Nicolás Maduro, bei den Präsidentschaftswahlen am 4. April 2013

Nach der Niederlage des US-Projekts der kontinentalen Freihandelszone in Lateinamerika (Alca) verstärkt sich auf offizieller Ebene die Perspektive einer souveränen Integration. Das schlägt sich außer in der Bolivarischen Allianz (Alba) in der Bildung der Unasur1 und später der Celac2 nieder. Das wirkt sich auch in anderen Integrationsprojekten wie dem Mercosur3 aus, in denen sich Räume für die Teilnahme der sozialen Bewegungen öffnen. Aber diese Öffnung blieb praktisch rein formal? Welche Verantwortung tragen die Bewegungen selbst dafür?

Erstens ist es aus institutioneller Perspektive nach der Niederlage von Alca und der Entstehung von Alba nicht gelungen, die Mehrheit der Regierungen einzubeziehen. Aus Regierungssicht beschränkte sich Alba infolgedessen auf sieben, acht Länder mit für den Kontinent nicht sehr repräsentativen Ökonomien. Wir wissen, dass die Wirtschaft in Wirklichkeit vom Gewicht Mexikos, Kolumbiens, Brasiliens und Argentiniens abhängt. Unter diesen Umständen lag Chávez mit seiner Initiative richtig. Eine kontinentale Einheit als Alternative gegen die Regierungen der USA und Kanadas. So kam es zur Unasur und zur Celac. Diese beiden Initiativen beerdigten faktisch die Hegemonie der USA mittels der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten).

Der Mercosur war nie ein wirkliches Integrationsinstrument, sondern bloß ein Handelsabkommen der Länder des Cono Sur. Ich denke, seine Tage sind gezählt. Er muss sich zu einem Abkommen von ganz Südamerika im Rahmen der Unasur entwickeln. So wie er ist, nützt er nichts mehr. Das Problem ist, dass einige neoliberal regierte Länder in Südamerika lieber wieder den Kurs der USA einschlagen, mit der Pazifikallianz4 und jetzt dem TPP5.

Was die Volksbewegungen betrifft, die wir uns entlang der konzeptionellen Parameter von Alba artikulieren, so bewegen wir uns langsam. Denn wir haben uns dafür entschieden, auf eigenen Füßen zu gehen, mit Autonomie gegenüber den Regierungen und Staaten, auch den fortschrittlichen und linken gegenüber.

Ein weiterer unübersehbarer Aspekt in diesem neuen Szenarium ist, dass es bei der von den Bewegungen kontinental erreichten Verbindung einen Rückschritt gibt. Wie erklärst du das?

Ich sehe das nicht als Rückschritt. Ich begreife das als natürliche, aber pädagogische Langsamkeit, insofern, dass wir nur vorankommen werden, wenn wir eine größere Fähigkeit erlangen, die Volkskräfte in jedem unserer Länder zu verbinden. In der Mehrheit der Länder schaffen wir es nicht, auch wenn wir uns für antineoliberal und antiimperialistisch erklären, einheitliche nationale Räume zu öffnen, die die Basis für eine kontinentale Alba-Bewegung wären. Wenn also die Volkskräfte nicht die Reife haben, sich in ihren Ländern zu verbinden können sie international nicht als Stimmen der Einheit auftreten. In wessen Namen würden sie reden?

Andererseits stellten wir uns vor, dass die jüngste Konjunktur den Volksbewegungen im ganzen Kontinent nützen würde, um einen Wiederanstieg der Massenbewegungen zu beschleunigen; doch leider war dies nicht der Fall. Zurzeit ist nur die Massenbewegung in Bolivien im Aufschwung, die, auch wenn sie sich als an der Regierung beteiligt sieht, dennoch auf sie Druck ausübt und konstant mobilisiert. In Venezuela haben wir eine enge Beziehung der Volksbewegungen mit den alle zwei Jahre stattfindenden Wahlprozessen. Diese absorbieren die Interessen der Volkskräfte im permanenten Kampf gegen die Umsturzversuche der Rechten.

Und schließlich ist das Imperium zu härteren Bandagen übergegangen. Es operiert mit seinen Waffen, den Kommunikationsmedien, insbesondere dem Fernsehen und dem Internet. Auf diesem Gebiet ist das US-Kapital absolut hegemonial. Also, die wenigen Fortschritte unsererseits sind nicht nur unseren Schwächen geschuldet, die zahlreich sind, sondern auch den von den USA im Verbund mit den konservativen Kräften in unseren Ländern intensivierten ideologischen Initiativen. In all unseren Ländern sehen wir eine jedes Mal größere Konfrontation dieser Kräfte mit unseren. Und dies, wo die Volkskräfte wenig Möglichkeiten haben, im Fernsehen, in den Massenmedien und im Internet zu agieren. Auch im Internet, das als Raum angesehen worden ist, der freier und demokratischer ist, doch die Enthüllungen von Assange und Snowden haben klar gemacht, dass beispielsweise Google nichts weiter als ein von den US-Geheimdiensten kontrolliertes Instrument ist.

Heute haben wir neue Bedingungen, sowohl wegen der globalen Dynamik des Kapitalismus wie auch wegen der Beschränkungen der Regierungen des Wandels. Dies hat dazu geführt, dass man auch in der linken Opposition vom Ende des progressiven Zyklus auf dem Kontinent spricht.

Ich halte es nicht für die beste Art, permanent das Ende des progressiven Zyklus oder das Wiedererstarken der konservativen Sektoren vorherzusagen. Das ist nicht dialektisch. Der Klassenkampf ist in jedem unserer Länder sehr dynamisch. Und in den Ländern, in denen die Rechte die volle Regierungshegemonie hat wie in Mexiko oder Kolumbien, sind der soziale Kampf und die Kampfbereitschaft des Volkes sogar intensiver.

Ich denke, wir haben wegen der Abhängigkeit unseres Kontinents vom internationalen Kapitalismus schwierige Bedingungen. Mehr denn je müssen wir uns die in den 70er Jahren systematisierte Dependenztheorie wieder aneignen, um die Lage unserer Wirtschaften zu erklären, um nicht in die Vereinfachung zu verfallen, dass nur, weil die Regierungen schlecht sind oder die Wirtschaft in der Krise steckt, das Ende des Zyklus der progressiven Regierungen bevorsteht. Wir sind in jedem unserer Länder und im ganzen Kontinent mitten in einem Klassenkampf.

In diesem Sinn ist es wichtig, dass die Volksbewegungen und linken Kräfte mehr analysieren, ihre Realitäten besser kennen und in den Wahl-, ideologischen und politischen Auseinandersetzungen klar kriegen, wer unsere Hauptfeinde sind, wer unsere zeitweiligen Verbündeten und wer die wirklichen Volkskräfte sind, die strukturelle Veränderungen in unseren Gesellschaften durchführen können. Und nach dem Wenigen zu urteilen, was ich von den Genossen bei unseren Treffen gehört habe, herrscht in den meisten Ländern eine verbreitete Verwirrung bezüglich dieser notwendigen Bestimmungen, um uns im Klassenkampf taktisch besser aufzustellen.

Im aktuellen geopolitischen Disput versucht der Imperialismus eine Tendenz hin zur multipolaren internationalen Ordnung zu verhindern. Nebst seiner Militärmacht forciert er Freihandelsabkommen. In unserer Region mit der Pazifikallianz, global mit dem TPP, dem TTIP6 und Tisa7. Was sollen die sozialen Bewegungen dagegen tun?

Wir müssen diese Themen in jedem unserer Länder umfassend diskutieren, denn die Herausforderungen stellen sich unterschiedlich. Der erste Schritt besteht darin zu begreifen, dass der Imperialismus der USA unser Hauptfeind ist. Er operiert nicht durch seine jeweilige Regierung, sondern auch und vor allem in Form der Initiativen der Multis, Kommunikationsmedien und internationalen Abkommen.

Zweitens bedarf es weiterhin unserer Basisarbeit, um unsere Basen über diese Realität und den Kontext des Klassenkampfes in unseren Ländern aufzuklären, einen Kontext, der jedes Mal internationalisierter ist. Das heißt, das Kräfteverhältnis auf lokaler Ebene wird nicht nur durch das Verhalten der lokalen Bourgeoisien bestimmt, sondern auch von jenem der Kräfte des internationalen Kapitals.

Drittens müssen wir die politische Schulung unserer Aktivisten wiederbeleben und in der Gesellschaft eine Strategie der politischen Einheit und des Kampfs um die politische Macht umsetzen, im Sinne von Gramsci, wonach alle kollektiven Räume einer Gesellschaft Räume eines politischen Kampfs sind. Die Mehrheit der Linksparteien hat sich in bloßen Wahlschemata verloren und die politische Schulung ihrer Mitglieder aufgegeben. Um schließlich einem völligen Pragmatismus zu verfallen, der sich stets als persönlicher oder Gruppenopportunismus äußert.

Viertens gilt es, Energien in den Aufbau von Massenkommunikationsmedien zu stecken.

Fünftens sind die Massenkämpfe zu stimulieren. Nur sie können real das Kräfteverhältnis verändern und ein Gegengewicht zur Kraft des imperialistischen Kapitals sein, worauf ich mich vorher bezogen habe.

Unter anderen Schwerpunktthemen sticht die Umwelt- und Ernährungskrise ins Auge. Was für Alternativen werden diskutiert?

Unter der aktuellen zyklischen Akkumulationskrise migriert das Kapital mehr als zuvor nach Lateinamerika, um sich unsere Naturressourcen anzueignen, insbesondere Mineralien wie Öl, Bauxit, Eisen etc. sowie Strom- und Windenergie und die agrarischen Güter. Diese Kapitallawine, die die natürlichen Ressourcen ausbeutet, verursacht diese Umweltzerstörung auf dem ganzen Kontinent, die als schwerwiegende Folgen den Klimawandel, das Verschwinden von Wasser etc. nach sich zieht.

Vor 1990 existierte dieses Thema im Klassenkampf nicht, erst jetzt betritt es die Bühne. Und ihm muss mit der gleichen Intensität begegnet werden, wie früher dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Die Umweltzerstörung kann das menschliche Leben auf dem Planeten gefährden.

Hier haben wir zwei wichtige Verbündete: der Widerspruch der Natur, die jede Gesellschaft mit den Konsequenzen ihrer Zerstörung konfrontiert, und was deshalb zu einer Bewusstwerdung in der Gesellschaft in punkto Klimawandel, Temperatur, Wassermangel, Dürren etc. führen kann. Und die zweite Allianz besteht dank der politischen Haltung von Papst Franziskus. Er hat über seine Äußerungen hinaus die Enzyklika Laudatio Si vorbereitet, eine schöne Analyse der Ursachen und Folgen der Angriffe auf die Umwelt und der Notwendigkeit zu reagieren. So hoffe ich, dass die Volkskräfte, zumindest jene, die sich in Alba organisieren, sich die Priorität dieses Themas zu eigen machen.

Die politische Auseinandersetzung hat sich hin zu den Kommunikationsmedien verlagert. Wie soll das angegangen werden?

Auf vielfältige Weise, beginnend mit dem systematischen Kampf gegen das Oligopol, das uns das Kapital mit seinen Medien, speziell mit TV und Internet, aufzwingt; mit der permanenten Kritik an ihrer neuen Rolle als ideologischer Organisator der Gesellschaft zugunsten der Interessen des Kapitals und der Ausbeutung. Andererseits müssen wir auf jede denkbare Weise und überall, wo es möglich ist, unsere eigenen Massenmedien unter Kontrolle der Volkskräfte aufbauen. Und uns kontinental zusammenschließen, insbesondere auf dem Terrain der Information, des ideologischen Kampfes. Aber auch in unseren Ländern für Gesetze kämpfen, die die Kommunikationsmedien in Funktion des öffentlichen Interesses demokratisieren und regulieren.

Leicht gekürzte Fassung des Interviews der Zeitschrift América Latina en Movimiento No. 509


Joáo Pedro Stedile ist Führungsmitglied der brasilianischen Landlosenbewegung MST