Kolumbien / Politik

Reflektionen über den Guerillakampf in Kolumbien

Während die Friedensverhandlungen auf die Zielgerade gehen, gewinnt die Konfliktversion des Establishments immer stärker Deutungshoheit

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Eines der Farc-Logos: Simón Bolívar, der Anführer der südamerikanischen  Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonialisten, "vermummt" mit der kolumbianischen Fahne
Eines der Farc-Logos: Simón Bolívar, der Anführer der südamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonialisten, "vermummt" mit der kolumbianischen Fahne

Der folgende Beitrag ist zum ersten Mal anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung der Farc-Guerilla im August 2014 erschienen. Ziel des Autors war, jene Argumentationslinien in Frage zu stellen, laut denen der bewaffnete Kampf "keinen Nutzen gebracht" beziehungsweise die kolumbianische legale Linke daran gehindert habe, politische Macht zu erobern. So schildert Gutiérrez, wie der bewaffnete Widerstand unter anderem zum Überleben von Kleinbauern im Hinterland, zur Eindämmung vom Landraub und zu einer Demokratisierung der regionalen Verwaltung beigetragen hat.

Der Autor wolle allerdings gar nicht, "alles verteidigen, was die Aufstandsbewegung gemacht oder nicht gemacht hat" oder die Guerilla verherrlichen. Er finde es aber problematisch, dass der Trend des Diskurses über den Konflikt, der sich gerade herausbildet, die bewaffnete Aufstandsbewegung a priori verurteile. Dies merkt der Kolumbien-Experte in der Einleitung zum Beitrag an, den er im Januar dieses Jahres erneut publiziert hat.

Das Wiedererscheinen des Artikels hat den Hintergrund, dass die Friedensverhandlungen auf die Zielgerade gehen und die Konfliktversion des Establishments immer stärker Deutungshoheit gewinnt. Nun warnt Gutiérrez, dass die pauschale Verurteilung des bewaffneten Widerstands in Kolumbien zur Relativierung der Verantwortung des Staats für "den Horror und die Gewalt von oben" in der jüngsten Geschichte Kolumbiens beitrage.

Gutiérrez' Beitrag bringt wichtige Elemente in eine Diskussion ein, die angesichts der von den sozialen Bewegungen erwarteten strukturellen Änderungen zur Überwindung der Ursachen des bewaffneten Kampfs unbedingt geführt werden muss.

Hans Weber


Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) und die Nationale Befreiungsarmee (ELN) bestehehen heute offiziell seit 50 Jahren, auch wenn die Geschichte schon älter ist. Die ersten kommunistischen Selbstverteidigungsgruppierungen, der Ursprung der Farc, haben sich bereits 1949 vor dem Hintergrund der von den Konservativen ausgehenden und mit dem Aufstieg Ospinas im Jahre 1946 stark zunehmenden Gewalt (auch "La Violencia" genannt)1) gegründet. Welche Bedeutung haben diese fünfzig Jahre Guerillakampf? Die offiziellen Medien bewahren überwiegend Grabesstille angesichts dieses bedeutungsvollen Tatbestands. Einige haben Specials zum 50. Jahrestag der Farc herausgebracht, deren Analysen mehrheitlich eher mittelmäßig sind. Wie kann man die Beharrlichkeit der aufständischen Bewegung in einem Land erklären, das (von einigen offiziellen Meinungsmachern) oft als ein konservatives und rechtsgerichtetes Land beschrieben wird? In Kolumbien hat man versucht, durch gewaltsame Unterdrückung einen rechtsgerichteten "Konsens" zu erzeugen. Dafür hat man mit aller Kraft die ideologischen und repressiven Apparate des Staates genutzt, flankiert von paramilitärischen Tentakeln der Mächte im Staat (deep state). Es reicht zu sehen, wie nach hunderttausenden Toten der "Rechtsruck" einiger traditionell linksgerichteter Regionen - wie Urabá und Magdalena Medio - erreicht wurde. Heutzutage herrschen dort Apathie und Klientelismus, eher als echte "rechtsgerichtete" Überzeugung.

Ein oberflächlicher Blick könnte schnell zur Schlussfolgerung führen, dass dieses halbe Jahrhundert Krieg nichts gebracht hätte. Nichtsdestotrotz ist die Guerillabewegung einer der wichtigsten politischen Faktoren der nationalen Realität und stellt eine historische und unumgängliche reiche Erfahrung in der Geschichte der Kämpfe des kolumbianischen Volkes dar. Die Guerilla war und ist weiterhin vielschichtig, in mehrfacher Beziehung wirkungsmächtig und hat in verschiedenen Zusammenhängen verschiedene Bedeutungen. In einigen Regionen hat sie eine große Kraft, allerdings mit offensichtlichen Grenzen, die dem widersprüchlichen und fragmentierten Charakter des sozio-politischen Raumes Kolumbiens eigen sind.

Auch wenn es aufgrund ihrer außergewöhnlichen Diversität fast unmöglich ist, von der kolumbianischen Guerillabewegung zu sprechen, konzentriere ich mich auf die Farc, die aufständische Gruppe mit der stärksten Verwurzelung in der ländlichen Bevölkerung. Wenn ich von "den Aufständischen" oder "der Guerilla" spreche, beziehe ich mich grundsätzlich auf diese, auch wenn die Farc die kolumbianische Guerillabewegung nicht erschöpfend darstellen. Auch ist es nicht meine Absicht, die historische Rolle anderer Guerillagruppen zu verkennen: jede einzelne ist Ausdruck der Forderungen eines sozialen Sektors oder einer spezifischen Gruppe. Die Farc sind jedoch die stärkste Verbindung zum Verständnis der Kontinuität, und zwar von den Zeiten der "La Violencia" bis hin zum sozialen und bewaffneten Konflikt unserer Tage. Sie setzten sich nicht durch den "Foquismo"2fest, sondern entstanden organisch aus dem Widerstand gegen die Besitzenteignung und aus der Selbstverteidigung der Bauern. Sie mussten niemals ihre Identität durch endloses Umherstreifen im Urwald ohne Karte suchen. Ihre Natur vereint mit den Worten von Francisco Gutiérrez Sanín die Biographie mit der Geschichte; die tausendundeine von den Bauern erlebten, täglichen Demütigungen und Aggressionen mit der Geschichte der "Violencia". Aktuelle Beeinträchtigungen, wie die "Ausräucherungen"3 im Putumayo, verbinden sich mit Marquetalia in einer vereinenden Erzählung, die Sinn, Geschichte und Projektionsfläche bietet, indem "die persönliche Erfahrung in einem breiteren Erklärungsrahmen und auf Basis eines kollektiven Schicksals artikuliert wird"4. Gleichzeitig sind die Farc die von der "öffentlichen Meinung" (zum Beispiel der städtischen Mittelklasse) am stärksten dämonisierte und am wenigsten verstandene Gruppe, vielleicht genau deswegen, weil sie die "erfolgreichste" Guerillagruppe gewesen ist.

Hindernisse für eine objektive Bewertung der Guerilla

Es ist nicht leicht, den Beitrag der Guerillabewegung in Kolumbien objektiv zu bewerten. Jeder ernsthafte Versuch, dieses Phänomen anzugehen, sieht sich mit dem vorherrschenden McCarthyismus konfrontiert, wenn nicht sogar, im Falle der Befragung der Quellen oder der aufständischen Akteure selbst, mit der direkten Kriminalisierung. Die Erfahrungen von Francisco Toloza5 und Miguel Ángel Beltrán6 liefern einen deutlichen Beweis dafür. Die Schwierigkeiten sind auch bedingt durch eine Reihe von Vorurteilen und Verdrehungen, die von einem Mangel an verfügbaren Informationen aus erster Hand herrühren. Überwiegend stammen Informationen über die aufständischen Bewegungen aus offizielle Quellen oder von Wohltätigkeits- beziehungsweise Nichtregierungsorganisationen (NGO), mit denen die Gemeinden in einer abhängigen Beziehung stehen; von daher werden sie das sagen, was die europäischen oder nordamerikanischen Kooperationspartner für ihre Berichte hören möchten. Deshalb sollten diese Zeugenaussagen oft mehr als diskursive Überlebensstrategien denn als glaubhafte Wiedergabe der Realität des Konfliktes verstanden werden.

Einige der Vorurteile, die sich aus den "Scheuklappen" ableiten, mit denen die kolumbianische Realität analysiert wird, wurden von William Ramírez Tobón folgendermaßen zusammengefasst:

"Tirofijo7 war für die bürgerliche Rechte ein Plünderer vom Land im Dienste des sowjetischen Totalitarismus, für einen Großteil der extremen Linken war er ein Revisionist des revolutionären Kanons und für mich war er ein grober Bauer, dem jemand eine marxistische Kurzanleitung in den Rucksack gesteckt hatte."8

Dazu kommen noch diejenigen, die heutzutage mit einer starken Dosis elitären Denkens die Guerilla mit organisiertem Verbrechen verwechseln. Natalia Herrera von der Stiftung "Fundación Ideas para la Paz" (Stiftung Ideen für den Frieden) behauptet in einer wenig wissenschaftlichen und ziemlich leichtfertigen, scharfen Weise, dass die Farc "nicht mehr als eine Ansammlung von Verbrechern" seien9. Eine Behauptung, die sich natürlich nicht auf Fakten stützt und noch weniger eine konzeptionelle Definition dafür liefert, was sie unter "Verbrecher" versteht. Dies sind die selbst-evidenten "Wahrheiten" des konservativen Paradigmas, in welchem der Konflikt analysiert wird und dessen Erklärungswert gleich Null ist. Mit den Farc passiert in der kolumbianischen "Intellektualität" das, was auch Bruce Cummings in Bezug auf die Schwarz-Weiß-Darstellung der Länder der "Achse des Bösen" in den US-Medien beklagt: "Das ist wie eine weiße Tafel (...) auf der, was auch immer jemand schreibt, Glaubwürdigkeit erhält – stets und immer dann, wenn es negativ ist!10.

Die erfolgreiche Kampagne der kolumbianischen Regierung, die Guerilla ihres politischen Inhalts zu entleeren und sie als eine Zusammenrottung von Verbrechern darzustellen, ist nicht neu. Bereits in den 1950er Jahren wurden die Guerillakämpfer "Räuber" genannt. Auf juristischer Seite ging dies Hand in Hand mit einem fortschreitenden Kahlschlag des politischen Deliktes und seiner rechtlichen Gleichstellung mit der gewöhnlichen Kriminalität. Die Legende von der "Narco-Guerilla", ursprünglich ersonnen von Lewis Tamb, der im Jahr 1984 US-Botschafter war, wurde von den Medien und den Militärs bis zum Überdruss ausgeschlachtet; letztere immer bestrebt, das moralische Fähnchen wiederzugewinnen. Aber auch die Intellektuellen selbst lieferten Ende der 1990er Jahre, als die Theorie der "Rebellion aus Habgier" en vogue war, die theoretischen Fundamente, um der Propaganda des Regimes einen "wissenschaftlichen" Anstrich zu geben. Diese Theorie wurde vom Weltbank-Analysten Paul Collier entwickelt: demnach fußte nach Ende des Kalten Krieges keine Rebellion mehr auf einem ideologischen Fundament oder ließe sich durch Benachteiligungen oder Unterdrückung erklären. Im Spiegel der Neuen Weltordnung gründeten sich nun alle Rebellionen auf der schmutzigen Habgier. Einem utilitaristischen Modell folgend reduzierte sich alles auf das einem Raubtier ähnliche Verhalten der Rebellen, die auf Plünderung und persönliche Bereicherung aus waren11. So wird vorsätzlich die Notwendigkeit, Mittel zur Finanzierung des Guerillakampfes zu beschaffen, mit einem Kampf zur bloßen Beschaffung von Mitteln verwechselt. Diese "wirtschaftliche Theorie des Konfliktes" wurde aufgrund ihrer Oberflächlichkeit, wegen der vorsätzlichen Vermengung von Mitteln und Zwecken, der konzeptionellen Inkonsistenzen, aufgrund einer fehlenden Analyse des Kontextes und der Nutzung unangemessener Analogien in Frage gestellt. In Kolumbien wird sie jedoch auf unanzweifelbare Art und Weise von einer bedeutenden Zahl von Sozialwissenschaftlern akzeptiert. Eine Theorie, die im ideologischen Horizont der kolumbianischen Oligarchie eine Kontinuität zwischen dem wilden und barfüßigen Bauern und dem plündernden Guerillero begründet, der sich wie ein bedrohlicher Fleischfresser verhält, im "Krieg mit der Gesellschaft", laut Zitat von Daniel Pécaut. Umsomehr bleibt anzumerken, dass das angebliche Fehlen einer Ideologie der Guerrillabewegung stets dann nicht gilt, wenn routinemäßig Personen festgenommen und als "Ideologen der Subversion" angeklagt werden.

So wurden im öffentlichen und zunehmend auch im akademischen Diskurs die Spielräume des Zumutbaren in den Paradigmen zum Verständnis des kolumbianischen Konfliktes reduziert. Um "seriös" zu wirken, muss man ohne Hinterfragen und Kritik die "unbestreitbaren Wahrheiten", die bezüglich der Guerilla an der Tagesordnung sind, akzeptieren auch wenn es ihnen an Evidenz mangelt. Erstaunlicherweise hat gerade ein Wissenschaftler des Uribismus12, Alfredo Rangel, in der Vergangenheit geschrieben, dass die Guerillabewegung "räuberische Mittel einsetzt, aber politische Ziele verfolgt, und eben nicht das Ziel der persönlichen Bereicherung. Die Tatsache, dass die Guerilla mit Drogen handelt13 macht diese nicht zu einer Mafia (....) die Guerilla von Mao Zedong in China hat ebenfalls mit Opium gehandelt, um sich zu finanzieren.14

Eine handfeste Kritik an der Vision der Guerilla als lediglich organisiertes Verbrechen wurde von Francisco Gutiérrez Sanín formuliert. Er sagte über die Aufständischen folgendes:

"Ihre tausende Mitglieder (...) erhalten keine Bezahlung und beteiligen sich an einem Konflikt mit der großen Wahrscheinlichkeit, selbst zu sterben oder dauerhafte Schäden davonzutragen. Sie bereichern sich nicht durch Plünderei, sich zu bereichern ist keine realistische Perspektive und dies ist allgemein bekannt. (...) Sie leben ohne außergewöhnliche Einkünfte (tatsächlich auch ohne gewöhnliche Einkünfte) (...) Trotzdem kämpfen die Mitglieder der Farc im Allgemeinen mit großem Elan. Es gibt Ausnahmen, aber ganz generell zeigen sie im Kampf sowohl Geschicklichkeit als auch Motivation Gegnern gegenüber, die mit besseren technischen Mitteln ausgerüstet sind. Wenn sie in der Defensive stecken, werden sie nicht schwach und der Anteil der Fahnenflüchtigen ist gering. (...) Die Individuen haben geringe wirtschaftliche Anreize, um sich der Organisation anzuschließen und ihr Leben für sie zu riskieren (...) Die Arbeit in den Farc ersetzt keine legale Beschäftigung (...) Und sie ist ebenso wenig ein Ersatz für weniger riskante illegale Aktivitäten und/oder Aktivitäten mit größerer ökonomischer Belohnung (...) die Farc bieten das Geringste und fordern das Höchste; nichtsdestotrotz ist sie die Meisterin nicht nur in punkto Wachstum sondern auch in punkto Überleben (...) Im Gegensatz dazu, wie es bei habgierigen Soldaten passiert, kämpfen und verteidigen sich die Farc-Mitglieder gut15.

Natürlich gibt es Ausnahmen von der Tendenz, die Aufständischen durch die Scheuklappen des "seriösen Forschers" zu sehen. Dies zeigen beispielsweise die Untersuchungen von Carlos Medina Gallego an der Universidad Nacional, die Arbeiten von Alfredo Molano, oder Meilensteine der wissenschaftlichen Forschung wie "El Orden de la Guerra" (Kriegsordnung) von Juan Guillermo Ferro und Graciela Uribe (Ceja, 2002) oder "Colonización, Coca y Guerilla" (Kolonialisierung, Koka und Guerilla) von Jaima Jaramillo, Leónidas Mora und Fernando Cubides (Alianza, 1989), um nur einige der herausragenden Wissenschaftler zu nennen. Diese stützen sich in Untersuchungen vor Ort auf erschöpfendes Wissen um die Problematik und auf die Fähigkeit, die Realität und die Diskurse über diese Realität kritisch zu analysieren.

Ein letztes, wichtiges Problem ist, dass die Farc, als eine vor allem bäuerliche Organisation, für Intellektuelle auf der Suche nach theoretischen Untersuchungen nicht von Interesse gewesen sind. Es erscheint überraschend, dass in einem der besten Bücher über die Farc, dem Buch "El Orden de la Guerra", das auf der Basis einer Vielzahl von aus erster Hand während der Friedensgespräche von Caguán16 zusammengetragenen Zeugenberichten und Beweisen geschrieben ist, gesagt wird, dass "sich die Farc als marxistisch-leninistisch definieren(...) sie aber wenig Interesse zeigen für die Entwicklung dieser Ideologie (...) und die neuesten Diskussionen zum westlichen Marxismus in Lateinamerika (zum Beispiel den Neogramscianismus)"17. Solch ein Satz ist der eindeutigste Beleg für den kommunikativen Kurzschluss zwischen den Aufständischen und den kolumbianischen Intellektuellen.

Bauernschaft, Rebellion und Selbstverteidigung

Während der Gespräche von Caguán, als Tirofijo wegen fünf Schweinen und vier Hühnern, die ihm die Regierung während der Ereignisse von Marquetalia18 weggenommen hatte, protestierte, verhöhnte die gesamte Presse den "ungehobelten Bauer" (rústico patirrajado) und der Kurzschluss mit den Intellektuellen bestätigte sich. In diesen einfachen Worten jedoch steckt mehr Wahrheit über den Konflikt als in den tausenden, von Meinungsmachern beschriebenen Seiten verdrehter griechisch-caldensischer19 Prosa. Diese Anekdote dient zur perfekten Illustration der Tatsache, dass die Aufständischen es selbst übernommen haben, diese ganze Serie von Unrecht und Leid der Untersten ans Licht zu bringen; jener irrelevanten Personen für diejenigen, die immer von einem vollen Teller gegessen haben.

Es kommt häufig vor, dass Personen aus der städtischen Mittelschicht, die niemals in irgendeinem Kontakt mit der aufständischen Bewegung standen, fragen: Was hat die Guerilla für das kolumbianische Volk getan? Um auf diese Frage antworten zu können muss man begreifen, dass die Farc nicht die Regierung sind, auch wenn jene Kritiker von ihnen Dinge fordern, für deren Ausführung ihre Regierung keinen politischen Willen hatte. Was die Guerillabewegung für das kolumbianische Volk "getan hat", kann von daher weder aus der Perspektive des Wohlfahrtsstaates noch der Klientelgaben verstanden werden. Es muss außerdem aus der Sicht der sozialen Basis des aufständischen Projektes gesehen werden. Diese Basis sind im Wesentlichen der Kleinbauer und die Pächter von Land. Die Hauptbedeutung der Guerilla ist die gewesen, einen wichtigen Sektor der marginalisierten Bauernschaft mit einem Gefühl von Würde und einem politischen Verständnis auszustatten. Vor allem war sie, getreu ihres Ursprunges in der bäuerlichen Selbstverteidigung der 1940er Jahre, Garantie für die eigene Existenz des Kleinbauern in weiten Gebieten des Landes, ebenso wie für das Zügeln des Rhythmus der gewaltsamen Enteignungen. Ein Bericht der Organisation "Nuevo Arco Iris" fasst es in Bezug auf die Besitzenteignung im Guaviare folgendermaßen zusammen:

"Der Angeordnete Ignacio Antonio Javela erwarb 1.250 Hektar Land von den Bauern dieser Region, aber andere Kleinbauern beginnen angesichts von Bedrohungen und Einschüchterungen das Gebiet zu verlassen. Währenddessen positionieren sich illegale, wiederbewaffnete Gruppen auf der gesamten sogenannten Trocha Ganadera, wo sie aktuell Druck gegen einige bäuerliche Gemeinden ausüben. Die Farc ihrerseits haben den Bauern untersagt, ihre Grundstücke zu verkaufen und bekräftigt, dass sie das Gebiet gegen andere illegale, bewaffnete Gruppen verteidigen werden. Stillschweigend geht es darum zu vertreiben, um den Landbesitz zu konzentrieren. Die massiven Käufe zu sehr geringem Preis und die bewaffnete Einschüchterung haben in dieser Region zu einer schrittweisen Vertreibung geführt. Paradoxerweise ist es eine illegale, bewaffnete Gruppe, nämlich die Farc, die den Kleinbauern und Pächtern das Eigentum garantiert - und nicht der Staat."20

Aus Sicht ihrer Ideologie der Selbstverteidigung und aus Sicht dieser Bauern waren die Aufständischen erfolgreich21. Aber die Guerilla hat sich auch nicht auf das reine Überleben beschränkt. Wenn die Frage der Bauernschaft heute im Zentrum der nationalen Debatte steht, liegt dies auch zu großen Teilen daran, dass die Aufständischen diese Frage immer und immer wieder aufs Tapet gebracht haben. Die Verhandlungen von Havanna sind nicht der einzige Faktor, aber sehr wohl einer der wichtigsten, um das Klima der Mobilisierung und der nationalen Debatte zu schaffen, welches die Explosion der Bauernschaft im Agrarstreik von 2013 ermöglichte. Dies zeigt, dass die entscheidenden Merkmale der Farc weiterhin ihre bäuerliche Identität und ihre Verbindung mit dem Land sind. Die Guerilla hat die Grenzen der Selbstverteidigung – ohne diese zu verleugnen – überwunden. Angestoßen wurde dies durch die gleichen Veränderungen in der sozioökonomischen Struktur, die sich seit der Zeit der Politik der wirtschaftlichen Öffnung in den 1990er Jahren entwickelt haben, beschleunigt durch die Lokomotiven der von Präsident Santos initiierten Entwicklung22. Die Bauernschaft ist heutzutage nicht lediglich Beiwerk einer archaischen Existenzform: sie ist eine Grenze für die Ausdehnung des räuberischen und extraktivistischen Nationalen Entwicklungsplanes. Zugleich ist sie die Basis für ein soziales Projekt, das auf dem Respekt gegenüber der Biodiversität, der Ernährungssouveränität, der Umwelt, einem Modell der gemeinschaftlichen Organisation von unten, einer partizipativen und direkten Demokratie gründet; ein Projekt, das in der Figur der Zonas de Reserva Campesina (Geschützte Zonen für die Bauern) zusammenfließt, welches in der Verfassung verankert ist. All dies führt zu einer tiefgreifenden Neuordnung des derzeit in Kolumbien herrschenden Modells. Die reduktionistische Sicht des Guerillakampfes in der Doktorarbeit von Ramírez Tobón, die von der "bewaffneten Kolonialisierung" spricht, ist nicht korrekt. Für diesen Autor suchten die Farc nicht die Machtübernahme und die Substitution des Kapitalismus durch den Sozialismus. Demnach bestünde sie stattdessen aus "einigen bescheidenen und beharrlichen Individuen, die auf der (...) "Konservierung ihrer reduzierten, aber präzisen existentiellen Definition in Bezug auf Sicherheit, Land und Arbeitsgeräte des Ackerbaus beharren", und dies mit dem Ziel, "auf anderen Ländereien die Bedingungen des Kleinbesitzes wiederherzustellen, den sie in ihren Ursprungsorten verloren haben"23. Dies würde bedeuten, die ideologische Entwicklung der Organisation, ihre eigene Argumentation und ihr politisches Projekt in Bezug auf das Land zu verkennen, ebenso wie die konkreten Bedingungen, in denen dieses Projekt sich entwickelt, sowie ihre Anstrengungen, sich mit anderen Sektoren der kolumbianischen Bevölkerung, jenseits des Bauernschaft, zu verbinden.

Ordnung und Aufstand

Ohne Zweifel sind es die ländlichen Gemeinden an verschiedenen Punkten des Landes, wo die Guerillabewegung ihre stärkste Verwurzelung gehabt hat. In vielen dieser Gemeinden sind die Farc in erster Linie die Garanten der sozialen Ordnung geworden. So weit ist die These von Ramirez Tobon über die bewaffnete Kolonisierung gültig. Aber sie ist es nicht, wenn wir nur bei diesem Punkt stehenbleiben, denn es geht nicht darum, lediglich die Bedingungen von archaischem Kleineigentum zu reproduzieren, sondern tatsächlichg geht es um die Einführung einer neuen sozialen Ordnung, mit neuen Dynamiken der Macht, unter prekären Bedingungen und gewaltiger sozialer Rückständigkeit. Die revolutionäre Strategie der Farc basierte auf dem Aufbau der lokalen Macht, gab den bestehenden sozialen Beziehungen einen neuen Charakter und schuf weitere neue Beziehungen entsprechend den Umständen24. Aus einer dogmatischen und abstrakten Perspektive, die die Gleichung "Produktivkräfte/soziale Beziehungen der Produktion" mechanisch sieht, haben die Farc laut dem Rezeptbuch der Klassiker den "Sozialismus" in den Gemeinschaften, in denen sie Einfuss haben, nicht wirklich entwickelt ... noch hatten sie die materiellen Bedingungen, um es zu tun!

Aber wenn wir das Problem aus der Dialektik des Klassenkampfes betrachten, wird die Unangemessenheit einer Analyse klar, die darauf beharrt, dass die Forderungen der Aufständischen durch den Kapitalismus ohne Erschütterung absorbiert werden können. Es gibt keinen abstrakten Kapitalismus, sondern das System nimmt in jedem Land oder Region charakteristische Züge an, abhängig von einer Reihe von Faktoren. Die objektive Tatsache ist, dass der in Kolumbien real existierende Kapitalismus bis jetzt unfähig war, die Forderungen der Farc zu absorbieren, was sich nicht allein mit der Sturheit der Oligarchie erklären lässt.

Die Dialektik der sozialen Veränderung hängt nicht abstrakt von den Kategorien der Analyse ab, sondern von den konkreten Bedingungen, unter denen sich der Klassenkampf entwickelt. Das heißt, was in Dänemark konservativ sein könnte (zum Beispiel die kostenlose Bildung), kann in einem Land mit den Widersprüchen Kolumbiens revolutionär sein. Was in Skandinavien eine sozialdemokratische Reform ist, könnte in unseren Tropen eine Revolution auslösen, nicht nur wegen der Anzahl der strukturellen Veränderungen, die solch eine Reform erfordert, sondern darüber hinaus wegen ihrer Auswirkungen auf das stets prekäre Gleichgewicht der Struktur der kolumbianischen Klassen. Dies und nichts anderes erklärt, warum es seit 80 Jahren ein Blutbad wegen einer verflixten Landreform gibt.

Zweifellos hat es in vielen Gemeinschaften eine Agrarreform gegeben, die oft von den Aufständischen verwirklicht wurde und die das Ausharren der Kleinbauernschaft zum Beispiel in den Llanos und in Tolima ermöglicht hat. Die Guerilla hat nicht nur sichergestellt, dass der Bauer sein Land bewahrt, sondern hat außerdem die Lebensfähigkeit der Gemeinden garantiert, indem sie ihnen mittels der "Handbücher des Zusammenlebens" einige Elemente der Ordnung gab, die in vielen Gebieten das Gesetz sind. Die Farc waren diejenigen, die als "Institution" zur Verteilung des Bodens funktioniert und als Richter und Schlichter bei verschiedenen Streitigkeiten gedient haben; sie haben Eigentumskriterien und einen rechtlichen Rahmen für die Gemeinden definiert (was sie oft auf der Grundlage der Konzepte der Gemeinschaften getan haben)25, haben die Ausbeutung der Rohstoffe geregelt, den Wert der Arbeitskraft bestimmt und Preise kontrolliert. Zum Beispiel haben sie in Koka-Anbaugebieten die Anzahl der Hektar geregelt, die für den illegalen Anbau genutzt werden können und wieviele Hektar dem Anbau von Nahrungsmitteln vorbehalten sein sollen. Sie haben gemeinsam mit den Gemeinden öffentliche Aufgaben und Arbeiten organisiert, haben Steuern erhoben, die sie für den Krieg und für gemeinschaftliche Arbeiten einsetzten und manchmal haben sie medizinische Dienste angeboten. Das heißt, in vielen ländlichen Gemeinden Kolumbiens machen die Farc Arbeiten, die Aufgabe der Regierung sind, und das unter harten Kriegsbedingungen. Während manche Autoren von einer fragilen Ordnung in ständiger Verhandlung26 sprechen, ist es genau diese Verhandlung, die die Verwurzelung und die Kontinuität sicherstellen, die diese Ordnung in bestimmen Zonen des Landes hat. Es handelt sich also nicht um ein willkürliches Oktroyieren, sondern um einen Prozess des ständigen Dialoges mit den Gemeinden; ein Dialog, in dem die Regeln, Institutionen und Verhaltensweisen sich auf flexible Weise entwickeln und sich an die Eigenart jedes Ortes anpassen. In diesem Dialog ist sicherlich die emotionale Dimension vorhanden: es ist kein Zufall, dass sie in den Gemeinden oft nur "die Jungs" (los muchachos) genannt werden, denn Blutsbande und Gefühle vereinen sie mit ihren Gemeinden. Dennoch ersetzt die emotionale Dimension nicht die vor allem politische und moderne Dimension dieses Dialoges. Das Gesetz der Berge wird immer dann respektiert, wenn es von der Gemeinde als vernünftig, als ein gutes Gesetz angesehen wird, das ihr zugute kommt, das gerecht ist - wenn es nicht so ist, haben die Aufständischen keine Möglichkeit, in einer Gemeinde durch bloße Waffengewalt Wurzeln zu schlagen. Alfredo Molano fasst diesen Punkt zusammen: "Die Bauern weigern sich, die Enteignung zu akzeptieren (...) und in dieser Negation entwickelt sich ihre Reaktion gegen die Institutionen und die Regierenden. Aus diesem Grund akzeptieren, achten und verteidigen sie die Guerilla, denn für sie ist die Guerillaaktion einfach eine gerechte Aktion. Nicht mehr, nicht weniger."27

Projekt der Linken und Guerilla

Trotz dieser starken Basis in der Bauernschaft wäre es nicht korrekt, sich die Farc einfach als Bauernguerilla vorzustellen. Seit der siebten Guerillakonferenz im Jahr 1982 haben die Farc die Situation der Städte berücksichtigt, wo sie offene "revolutionäre Anzeichen" durch den Streik 1977 sahen. Diese Orientierung und die öffentlich geführten politischen Verhandlungen mit der Regierung Belisario Betancur (1982-1986) sind Schlüssel für das Verständnis der Entwicklung einer eigenen politischen Linie seitens der Farc, die wiederum aus dem ideolgischen Erbe der kolumbianischen Kommunistischen Partei entwickelt wurde. Aber die Möglichkeit, der Gesellschaft ihr Programm zu präsentieren, ebenso wie die Interaktionen mit breiten sozialen Sektoren während der Erfahrung der Unión Patriótica28, führten dazu, dass die Farc das Problem des Städtischen nicht nur mit anderen Augen sahen, sondern sie stärkten sich auch in diesem Austausch mit der Gesellschaft, mit dieser Problematik. Jedoch war der Zugang zu den städtischen Sektoren nicht leicht. Manuel Marulanda beschrieb "die Isolierung dieses Kampfes" als schlimmsten Feind der Guerillabewegung, "zwischen euch, denen in der Stadt, und uns in den Bergen, liegt in der Mitte ein großer Berg"29. Trotz dieser Schwierigkeiten geschahen einige der fundamentalsten Veränderungen in der kolumbianischen Politik während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Einfluss der Guerillabewegung. Eine dieser Transformationen von tiefgreifender Wirkung war die Direktwahl der Bürgermeister - während der Verhandlungen mit Betancur brachten die Farc die Notwendigkeit vor, die Bürgermeister direkt, durch Volksabstimmung zu wählen und 40 Prozent der staatlichen Einkünfte in die Verwaltungsbezirke zurückzugeben. Der Vorschlag war begleitet davon, Mechanismen der direkten Demokratie zu stärken, wie die Abwahl von Amtsträgern, Volksbefragungen und Referenden. Dadurch werden seit 1988 Bürgermeister direkt vom Volk gewählt und seit 1991 gilt dies auch für die Gouverneure. Bis dahin waren die Bürgermeister vom Gouverneur des Departamento ernannt worden und dieser wiederum vom Präsidenten. In diesem Kontext entstand die Unión Patriótica, deren Glanzleistung bei den Lokalwahlen eine hysterische Reaktion der Oligarchie hervorrief, die sich mit mafiösen Sektoren zu einer Allianz zusammenschloss, die bis in unsere Tage andauert, und diese Erfahrung der Demokratisierung des Landes in Blut ertränkte.

Obwohl oft behauptet wird, dass die lokalen Mafias seitdem in vielen Fällen dazu übergingen, den Staat auf lokaler Ebene zu kontrollieren, durch den Klientelismus, die Korruption und unheilige Allianzen, steht fest, dass der Klientelismus nicht 1988 entstand sondern in den Ursprüngen der politischen Gewalt selbst liegt. Die Parapolitik war keine Folge der Direktwahlen, sondern des Prozesses der Paramalitarisierung des Staates inmitten der beispiellosen Hegemoniekrise Mitte der 1980er Jahre. Es ist lächerlich anzunehmen, dass die Personen, die vom Präsidenten per Fingerzeig ernannt wurden, vorher vom Himmel gefallene Engel waren. Stellen wir uns vor, Uribe hätte Bürgermeister und Gouverneure ernennen können: die Parapolitik hätte sich extrem entwickelt. Die direkten Volkswahlen haben einen minimalen Raum dafür geschaffen, dass es die Erfahrungen von Lokalregierungen in Opposition zu einem hermetischen Zentralstaat gibt. Und, was noch wichtiger ist, Mechanismen wie die Volksbefragung, die Volksabstimmungen oder die Abwahlreferenden sind auf geschickte Art vom Volk genutzt worden, um seine Opposition gegen die offizielle Politik vorzubringen, wie es der Verwaltungsbezirk Piedras im Departamento Tolima gezeigt hat, als ein Mega-Bergbauprojekt mittels Volksbefragung abgelehnt wurde. Selbstverständlich kann der Zentralstaat diese Befragungen ignorieren, wie er es in diesem Fall getan hat; und er hat diese Mechanismen der Volksbeteiligung entstellt, indem er (mittels einer Reihe von Dekreten) ihre Durchführung immer schwerer machte. Zweifellos hat diese Maßnahme aber den destruktiven Zentralismus etwas gebremst, der den größten Teil der kolumbianischen republikanischen Geschichte zerfressen hat.

Die selbe Verfassung von 1991, die auch das offene Wirtschaftsmodell der vergangenen Jahrzehnte rechtfertigt, ist zugleich geprägt von einem Geist der Sicherung der Bürgerrechte. Und wenn dies auch nicht direkt aus den Vorschlägen der Guerillas kommt, die sich weiterhin bewaffnet erheben (ELN und Farc), ist es doch Ergebnis des Drucks der Guerilla, die sie über die Coordinadora Guerrillera Simón Bolívar30 ausübte, die alle aufständischen Bewegungen Ende der 1980er Jahre vereinte. Ohne die Stärke dieser beiden Guerillas ist unvorstellbar, dass die liberal-radikalen und absichernden Vorschläge der M-19 (begleitet von einer Ansammlung kleinerer Guerillabewegungen, mit geringer militärischer und Verhandlungskapazität) in die Verfassung hätten eingehen können. Man muss daran erinnern, dass zum Beispiel die indigene Autonomie faktisch mit der Waffe in der Hand erobert wurde, auch wenn viele damalige Anführer sich heute daran nicht erinnern wollen.

Es besteht kein Zweifel, dass die aufständische Bewegung Bewahrungsort einer langen Tradition des Kampfes und Widerstandes gewesen ist (zusammengefasst in den Minimalvorschlägen in Havanna zu den verschiedenen Punkten der Tagesordnung), der berücksichtigt werden muss, um ernsthaft die Entwicklung eines linken Projektes in Kolumbien anzugehen. Gleichwohl prangern einige die Aufständischen als Schlüsselfaktor an, der die Schwäche in der Entwicklung der legalen Linken erklärt. Diese These verteidigte Eduardo Pizarro Leongómez (Bruder des demobilsierten M-19-Guerrillero Carlos Pizarro, der während der Kampagne zur Präsidentschaftswahl 1990 ermordet wurde) vehement in mehreren Texten, sogar noch bevor er in den Reihen der Uribe-Santos-Anhänger endete, und sie hat ein Echo im sogennanten "fortschrittlichen" Sektor. Diese Erklärung berücksichtigt das Ausmaß der Repression und der physischen Auslöschung der Linken seit 1980 nicht, den allgemeinen Kontext des "McCarthyismus" und der politischen Verfolgung, als ob diese Faktoren nichts mit der Schwäche der Linken zu tun gehabt haben (dies ohne ihre eigenen Begrenzungen zu nennen, wie den exzessiven Bürokratismus, die unbeständigen Bündnisse, ihre fehlende Verbindung zu den Basiskämpfen etc.)

Man könnte das Argument umdrehen und sich fragen, ob es nicht vielleicht die innere Schwäche der legalen, städtischen Linken gewesen ist, die den Konflikt durch ihre Unfähigkeit verlängert hat, das Establishment zu den notwendigen Zugeständnissen für seine Überwindung zu zwingen. Oder dass die Schwächung und die zunehmende Beschneidung der Räume für die legale Linke ein Faktor war, der zur Stärkung des aufständischen Projektes beigetragen hat. Diese These würdigt weder die Fähigkeit der Guerilla, Themen der Linken in die nationale Debatte zu bringen, wozu die legale Linke nicht fähig war. Auch würdigt sie nicht, dass die Aufständischen in der Lage waren, Räume zu schaffen, von denen aus das Volk sprechen und seine Meinung sagen konnte. Ob man mit ihnen einverstanden ist oder nicht: nur wenige Male gab es in der nationalen Politik demokratische Räume vom Umfang der öffentlichen Anhörungen in Caguán oder der Foren zu den verschiedenen Problematiken im aktuellen Friedensprozess, mit allen Beschränkungen, die sie gehabt haben können. Und sie würdigt genauso wenig die Tatsache, dass in vielen Gebieten der Druck der Waffen der Aufständischen tatsächlich den Handlungsspielraum der sozialen Bewegungen und ihre Verhandlungsmacht vergrößert hat, auch wenn diese Bewegungen nicht unbedingt organische Verbindungen zu den Aufständischen haben mögen31.

Ob es jemand gefällt oder nicht, in ihren eigenen Begriffen sind die Aufständischen erfolgreicher gewesen als die ganze legale Linke zusammen.

Ein langes halbes Jahrhundert und was für den weiteren Weg bleibt

In dieser Analyse habe ich fast vollständig die speziell militärischen Aspekte der Entwicklung in einem halben Jahrhundert Farc weggelassen. Dieser Aspekt verdient eine eigene Abhandlung und ist, nichtsdestoweniger, weder das Entscheidende noch das Wichtigste in diesem halben Jahrhundert Geschichte. Über die wechselnde Waffenstärke, die Transformation von der Selbstverteidigung zu mobilen Guerillas, die Wirkung der "Neuen Art zu operieren" (Nuevo Modo de Operar), den taktischen Rückzug und den Impuls mit neuen Energien des Guerillakampfes durch die Restrukturierung, die unter der Kommandantur von Alfonso Cano ermöglicht wurde und die bewiesen hat, dass sie den staatlichen Streitkräften in einem "unsichtbaren" Zermürbungskrieg die stärksten Schläge versetzt, bleibt die Guerillabewegung ein grundsätzlich politisches Phänomen und auf diesen Aspekt möchte ich meine Bemühungen konzentrieren. Es ist klar, dass das Militärische und das Politische nicht gänzlich getrennt werden können; die Verhandlungen sind Beweis der Grenzen der militaristischen Strategie des Staates und sind eine historische Forderung der Aufständischen, erobert mit Waffengewalt, aber auch durch die Stärke einer Mobilisierung der Bevölkerung, die beide in dem Punkt der politischen Lösung des sozialen und bewaffneten Konliktes übereinstimmen. Dass die Verhandlungen stattfinden, ist, trotz allem was die Sektierer sagen, an sich schon ein Sieg des Volkes.

Nach einem halben Jahrhundert des Guerillakampfes sind die Farc, ob wir uns ihnen nah fühlen oder nicht, ein fundamentaler Faktor in der Politik des Landes. Ein politisches Projekt der Linken wird sich nicht durch Manichäismus und Feststellungen entwickeln können, die den historischen Beitrag verleugnen, der aus den aufständischen Reihen sowohl bezüglich der politischen Vorschläge für das Land, als auch im Hinblick auf die akkumulierte Erfahrung in der Praxis der lokalen Macht als Strategie der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Hegemonie geschaffen wurde. Heute befindet sich Kolumbien an einem Scheideweg, an dem sich die Verhandlungen in Havanna mit den wachsenden Mobilisierungen der Bevölkerung auf den Straßen verbinden. Ob die Barbarei eines halben Jahrhunderts überwunden wird, das wird weitgehend von der Fähigkeit der popularen Sektoren abhängen, den Raum ausfindig zu machen, in dem sich die Bestrebungen der Bevölkerung mit ihrer eigenen Kampffähigkeit verbinden können und das Bestimmende nicht das Militärische ist.


José Antonio Gutiérrez Dantón aus Chile ist Sozialwissenschaftler, arbeitet als Dozent und Autor, lebt in Irland

  • 1. Als "La Violencia" (Die Gewalt) wird der gewaltsame Konflikt in Kolumbien bezeichnet, der mit der Machtübernahme der Konservativen 1946 begann. Die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán am 9. April 1948 löste schwere Unruhen in der Hauptstadt Bogotá aus. Er war ein äußerst beliebter Politiker, der soziale Gerechtigkeit und eine Reform des Finanz- und Agrarsystems forderte. Die Unruhen breiteten sich auf ländliche Gebiete aus. Mitglieder der liberalen wie der kommunistischen Partei organisierten Selbstverteidigungsgruppen und erste Guerillaeinheiten, die gegen die Einheiten der konservativen Partei wie auch gegeneinander kämpften. Zwischen 1946 und 1958 starben bis zu 300.000 Menschen. Im Laufe der Auseinandersetzungen wurden 1949 die "unabhängigen Republiken" von der kommunistischen Partei Kolumbiens sowie liberalen und radikalen Bauern in Teilen des Landes gegründet, Anm. d. Ü
  • 2. Der "Foquismo" ist eine von Ernesto Che Guevara entwickelte Theorie für den revolutionären Prozess in Ländern des globalen Südens. In seinem 1960 veröffentlichten Text "La guerra de guerrillas" schrieb er, die Erfahrung der Kubanischen Revolution habe gezeigt, dass man nicht immer darauf warten müsse, dass alle Bedingungen, wie die sozialistischen Revolutionstheoretiker sie als Voraussetzung für einen erfolgreichen Umsturz definiert hatten, gegeben seien. Eine Gruppe von Guerillakämpfern (foco), die den Kontakt zur Bevölkerung aufbaut und sich auf strategische Ziele konzentriert, könne mit ihren Aktionen eine politische Entwicklung in Gang setzen, die relativ rasch in den Aufstand der Massen mündet und den Sturz des Regimes erreicht, Anm. d. Ü
  • 3. Vernichtung von Kokapflanzungen durch Besprühen mit dem hochgiftigen Glyphosat
  • 4. "Criminal Rebels? A Discussion of War and Criminality from the Colombian Experience", S. 18, 2003 (London School of Economics)
  • 5. Der Soziologe und Politikwissenschaftler Francisco Toloza ist Universitätsprofessor und Vorstandsmitglied der linken Basisorganisation Marcha Patriótica. Er war Anfang 2014 für zwei Monate im Gefängnis und hat einen Prozess wegen mutmaßlicher Farc-Mitgliedschaft zu erwarten, Anm. d. Ü.
  • 6. Miguel Ángel Beltrán Villegas ein renommierter Soziologe, wurde im Dezember 2014 wegen "Rebellion" zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Der Professor sei "Ideologe der Internationalen Kommission der Farc", so das Gericht, Anm. d. Ü.
  • 7. Tirofijo - "sicherer Schuss", wurde Manuel Marulanda, der Farc-Oberkommandierende genannt, Anm. d. Ü.
  • 8. Estado, Violencia y Democracia, 1990, S. 10 (Ed. Tercer Mundo/IEPRI)
  • 9. Natalia Herrera y Douglas Porch, "Like going to a Fiesta" – the Role of Female Fighters in Colombia’s Farc’, Small Wars & Insurgencies, 19(4): 609-634, 2008
  • 10. "North Korea, Another Country", 2004, S. 50 (The New Press)
  • 11. Siehe beispielsweise Paul Collier, Rebellion as a Quasi-Criminal Activity, Journal of Conflict Resolution, 44(6):839-853, 2000. Ebenso Paul Collier & Anke Hoeffler, 'Greed and Grievance in Civil War', 1999 http://elibrary.worldbank.org/doi/pdf/10.1596/1813-9450-2355
  • 12. Nach dem kolumbianischen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe (2002 bis 2010) benannte rechtsgerichtete politische Strömung, Anm. d. Ü.
  • 13. Ein fragwürdiger Tatbestand, der jedoch oft wiederholt wird
  • 14. "Los límites de la extradición", El Tiempo, 31. Dezember 2004
  • 15. "Criminales y rebeldes: una discusión de la economía política del conflicto armado desde el caso colombiano", Estudios Políticos, 24: Januar-Juni 2004
  • 16. Ort der Friedensverhandlungen zwischen Farc und der Regierung von Präsident Andrés Pastrana 2000/2001, Anm. d. Ü.
  • 17. S. 168
  • 18. Am 27. Mai 1964 griff die kolumbianische Armee mit Unterstützung der USA die von Bauern selbstverwaltete Region Marquetalia an. Tausende Soldaten marschierten gegen 48 bewaffnete Bauern auf. Das Datum gilt in Kolumbien als symbolisch, denn es ist der Beginn der Transformation von kleinen, in verschiedenen Gebieten lebenden bewaffneten Bauern hin zu einer Guerillabewegung, Anm. d. Ü.
  • 19. Caldense – aus Caldas stammend, kolumbianisches Departamento, Anm. d. Ü.
  • 20. "La Guerra contra y de las FARC", en Revista Arcanos, Número 15, April 2010, S. 9
  • 21. Was nicht bedeutet, dass die Besitzenteignung ausgerottet werden konnte, beschleunigt durch die Vereinheitlichung und Ausbildung des paramilitärischen Apparates seit Mitte der 1980-er Jahre
  • 22. "Lokomotiven des Fortschritts" nennt Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos sein Wirtschaftsprogramm für verstärkten Bergbau und Export, Anm. d. Ü.
  • 23. Ramírez Tobón, op.cit., S. 10
  • 24. Was bereits von Eduardo Pizarro Leongómez anerkannt wurde, "Die Farc, von der Selbstverteidigung zur Kombination aller Formen des Kampfes", 1949 - 1966 (Tercer Mundo)
  • 25. Siehe zum Beispiel die Arbeiten von Mario Aguilera P. "Justicia Guerrillera y Población Civil: 1964-1999", Bulletin de l'Institut Francais d'Études Andines, 29(3): 435-461, 2000, und Nicolás Espinosa "Entre la Justicia Guerrillera y la Justicia Campesina ¿Un Nuevo Modelo de Justicia Comunitaria?", Revista Colombiana de Sociología, 20:117-145, 2003, darin wird La Macarena in El Meta analysiert, um zu zeigen, dass das kommunitäre Justizmodell auf der Interaktion zwischen Tradition und "Gesetz der Berge" beruht. Siehe auch Espinosa "El justo comunitario, las leyes y la justicia en una región con fuerte presencia del conflicto armado. Etnografía del pluralismo jurídico en la Sierra de La Macarena", Diálogo de Derecho y Política (U. de A.), 3, 2010
  • 26. Marco Palacios "Violencia Pública en Colombia 1958-2010", 2012 (Fondo de Cultura Económica)
  • 27. Ponencia presentada al 46 Congreso Internacional de Americanistas, Julio 4-8 de 1988, Ámsterdam, Holanda. Tomado de la publicación Reencuentro Ideas No.5, Junio 2012, Bogotá, Colombia.
  • 28. Die Partei Unión Patriótica entstand 1984 als Ergebnis der Friedensverhandlungen zwischen Farc und der damaligen Regierung. Sie sammelte die linken Kräfte des Landes und nahm mit wachsendem Erfolg an Wahlen teilgenommen. Ab den späten 80er Jahren begann dann die systematische Ermordung von cirka 5.000 führenden Mitgliedern der Partei, darunter zwei Präsidentschaftskandidaten, vor allem durch Paramilitärs und Angehörige von Todesschwadronen, Anm. d. Ü.
  • 29. Arturo Alape, "Las vidas de Pedro Antonio Marín, Manuel Marulanda Vélez, Tirofijo", p.19, 1989 (Planeta)
  • 30. Die Guerilla-Koordination Simón Bolívar bestand zwischen 1987 und 1990 und vereinte die wichtigsten Guerillagruppen des Landes, neben Farc und ELN waren das Volksbefreiungsheer (EPL) und die Bewegung 19. April (M19) beteiligt. Die im Mai 1991 begonnen Friedensgespräche der Koordination mit der damaligen Regierung unter Präsident César Gaviria waren im Juni 1992 ergebnislos abgebrochen worden, Anm. d. Ü.
  • 31. Siehe: María Teresa Uribe "Nación, Ciudadano y Soberano", 2001, pp.262-263 (Corporación Región)