Die Fata Morgana vom "produktiven Land"

Venezuela muss die Verwendung der Erdöleinnahmen rationalisieren und gegen Kapitalflucht vorgehen, um produktiv zu werden

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Venezuelas Binnenwirtschaft ist vom Erdöl abhängig
Venezuelas Binnenwirtschaft ist vom Erdöl abhängig

Seit geraumer Zeit ist es zur Mode geworden, von der Idee zu sprechen, den Erdölrentismus hinter sich zu lassen und zu einem produktiven Land zu werden: "Wir befinden uns im richtigen Moment, um einen neuen Anlauf zu nehmen, hin zum fundamentalen Ziel eines produktiven Landes", erklärte vor kurzem Präsident Nicolás Maduro mit einer Sprechweise, wie sie täglich als Echo aus den Verlautbarungen der Regierung erklingt.

Ganz abgesehen von dem Rätsel, ob es sich bei dem neuen produktiven Land um ein kapitalistisches oder sozialistisches handelt (nur die zweite Option würde mit dem Plan de la Patria1 übereinstimmen), verbannt diese Losung viel wichtigere Aufgaben in den Hintergrund. Deren Lösung ist aber die Bedingung, damit ein produktives Land auf mittel- oder langfristigem Wege aufgebaut werden kann.

Versuchen wir es mit einer Metapher. Heute abstrakt die Fahne der Produktivität zu hissen, kommt dem Spruch gleich, "Lasst uns den Tank füllen" ohne vorher seine Löcher gestopft zu haben. Im Moment muss unsere Losung lauten "Verhindern wir die Kapitalflucht". Davon zu sprechen, den Tank zu füllen ohne seine Lecks zu beseitigen, stellt einen diskursiven Betrug am Volk dar, ob er nun willentlich erfolgt oder nicht.

Es stimmt, dass die venezolanische Wirtschaft stark verzerrt ist durch den Erdölrentismus. Das heißt, das das Land eine Menge Güter auf dem internationalen Markt ersteht (Werte, welche nicht in Venezuela generiert wurden) mittels der Einnahmen aus der Erdölproduktion und dem Verkauf ins Ausland. Im Augenblick liegen die Netto-Erdöleinnahmen bei rund 7,5 Millionen Dollar pro Tag, bei einem Preis für venezolanisches Rohöl von 25 US-Dollar und Produktionskosten von 20 Dollar je Barrel und einem täglichen Absatz von 1,5 Millionen Barrel auf dem internationalen Markt.

Diese Einnahmen stellen eine beträchtliche Summe dar, auch wenn sie geringer als vorher ausfallen.

Es ist nur logisch, dass in Krisenzeiten der erste Schritt einer Volksregierung die Rationalisierung der Verwendung der Einnahmen sein sollte, um der arbeitenden Bevölkerung einen würdigen Lebensunterhalt zu sichern und zu garantieren, dass die am meisten Benachteiligten nicht in die extreme Armut fallen. Das ist unbedingt erforderlich, denn die Schaffung neuer Industrien, die durch die Vervielfältigung und Steigerung der Produktion Devisen generieren (Aufbau eines produktiven Landes), würde Jahre dauern, bevor sich die Ergebnisse bemerkbar machen.

Die Rationalisierung der Verwendung der Erdöleinnahmen beinhaltet folgende Punkte:

- Planung der Importe; Priorisierung der Importsegmente, die das Überleben der Bevölkerung sichern – Nahrungsmittel und Medikamente, die zur Zeit nicht in Venezuela produziert werden können, Grundrohstoffe etc. – und den Stopp der Importe beispielsweise von Staatsfahrzeugen und Privatautos, ect.

- Beseitigung von parasitären Verhaltensweisen der Bourgeoisie und privilegierter Gruppen (aufstrebende Bourgeoisie), die eine zu große Last in Krisenzeiten darstellen.

- Sich der Verantwortung stellen, Auslandsschulden nicht zurück zu zahlen oder die Bezahlung aufzuschieben.

Bezüglich des ersten Punktes ist die einzige Möglichkeit zur Rationalisierung der Importe die Verstaatlichung und Zentralisierung der Einfuhren und die Schaffung eines direkten popularen Kontrollorgans.

Was den zweiten Punkt betrifft, also die Beseitigung des Parasitentums, ist es unumgänglich, die Banken zu verstaatlichen und zu zentralisieren. Sie haben keinerlei produktive Rolle gespielt und während der Krise Millionen-Gewinne eingefahren. Genauso ist die Nationalisierung strategischer produktiver Wirtschaftssektoren unaufschiebbar, wie die Firma Polar2, deren enorme Gewinne durch die vom venezolanischen Staat stark subventionierten und importierten Grundrohstoffe ermöglicht wurden.

Die Erdölrente auf diese Weise zu kontrollieren ("Das Leck reparieren"), ist die einzige Chance dem Volk ein erträgliches Leben für die nächsten Monate zu sichern... und wenn das Weiterleben dann gesichert werden konnte, schließlich darüber nachzudenken, ein produktives Modell zu entwickeln – auf der Grundlage wiedererlangter Überschüsse. Übereinstimmend mit dieser Perspektive argumentiert auch der uruguayische Wirtschaftswissenschaftler Rodrigo Alonso: Im Falle von Venezuela "ist die Kontrolle über den Großteil des ökonomischen Überschusses das Schlüsselproblem, um die Produktivkräfte voranzutreiben. Nur so können die nationalen Mittel auf deren Entwicklung ausgerichtet werden, ohne den Reichtum auf den Luxuskonsum der Bourgeoisie zu verschwenden".

All das sollte selbstverständlich sein und ist es auch. Dennoch gibt es jene, die den Aufbau eines produktiven Landes vorschlagen – mit Auslandsinvestitionen und in Zusammenarbeit mit der alten betrügerischen Bourgeoisie – ohne für Ordnung im Haus zu sorgen. Dieser Mythos stürzt ein, wenn man sich an den China-Fonds3 erinnert und die dortige millionenschwere Veruntreuung durch ein "Schlupfloch" im Jahr 2012; oder an den "Ökonomischen Tisch"4 von 2014, bei dem beschlossen wurde, außerordentliche Subventionen im Form von Devisen und sehr vorteilhafte Konditionen für die nationale Produktion zu bewilligen – mit den Ergebnissen, die wir alle kennen.

In der Geschichte Venezuelas finden wir vielfältige Versuche, die Bevölkerung um die Erdölrente zu prellen. Was wurde nicht alles gesagt: Das Erdöl "gehöre der Menschheit", sei "der Kot des Teufels", ein "normales" Land stütze sich nicht auf so etwas und neuerdings ist "jedweder Extraktivismus schlecht"... all das, um die Bedeutung herunter zu spielen, um die Venezolaner abzulenken und sie von dem wichtigsten Reichtum zu entfremden, den sie unmittelbar besitzen.

Die Losung "Bauen wir ein produktives Land auf", ohne den Einsatz der Erdölrente gerechter, rationaler, menschlicher zu gestalten, wäre nur ein weiteres Kapitel in einer langen Geschichte, wie das Volk von einem außerordentlichen Reichtum getrennt wurde, der ihm gehört. Die wirkliche demokratische Kontrolle über die Erdölrente und Sicherung der Einnahmen ist eine Frage auf Leben und Tod in der näheren Zukunft des venezolanischen Volkes und in der Konsequenz unumgänglich für den Aufbau einer sozialistischen Zukunft.

1. Laut Zahlen der BCV (Zentralbank von Venezuela), wurden im Jahr 2014 rund 98 Prozent aller Devisen, die Venezuela einnahm, durch den Erdölexport generiert.

2. Die Schulden, die 2016 beglichen werden müssen (Zinsen und Kapitalrückzahlung), belaufen sich auf ungefähr 14 Milliarden Dollar. Demgegenüber besteht die Fälligkeit der Schulden von PDVSA5, die sich auf vier Milliarden Dollar aufsummieren (ein Schuld die beglichen werden muss, da sonst die Gefahr besteht, das Vermögenswerte des Erdölkonzerns im Ausland beschlagnahmt werden).

3. Natürlich würde jede Maßnahme gegen die Korruption helfen, aber den "Kampf gegen die Korruption führen", im Abstrakten, ohne die Privatbanken anzutasten und Schluss zu machen mit dem Chaos der Importabläufe, wie sie die Bourgeoisie heute tätigt, ist auch eine Fata Morgana.

Chris Gilbert und Cira Pascual Marquina sind Dozenten für Politische Studien an der Bolivarischen Universität von Venezuela (UBV)

  • 1. Name des Regierungsprogramms des 2013 verstorbenen früheren Präsidenten Hugo Chávez für den Zeitraum 2013 – 2019. Dieser Plan sieht die Stärkung einer neuen Sozialistischen Ökonomie vor, die sich vor allem auf den öffentlichen und kollektiven Besitz an Produktionsmitteln stützen soll, mit dem Ziel der Schaffung solidarischer und komplementärer Produktions- und Tauschverhältnisse
  • 2. Polar ist der größte Lebensmittelkonzern aus Venezuela, sowie das größte private Unternehmen des Landes und wurde stark durch die Devisenvergabe des Staates gefördert. Seit 2004 soll der Konzern 5,2 Milliarden Dollar zum offiziellen Wechselkurs erhalten haben. http://www.aporrea.org/contraloria/n280733.html
  • 3. Der "Fondo Chino" ist ein Fonds zur Binationalen Zusammenarbeit zwischen Venezuela und China. Durch ihn werden Entwicklungsprojekte in Venezuela finanziert, wobei Gelder aus der Chinesischen Entwicklungsbank (CDB) und dem Fondem (Venezolanischer Fonds zur endogenen Entwicklung) einfließen. 2013 gab es fünf Festnahmen wegen der Veruntreuung von 84 Millionen Dollar, die für die Produktion von Lebensmitteln der Jahre 2011 und 2012 vorgesehen waren
  • 4. Der "Ökonomische Tisch" war ein Versuch der Regierung Maduro im Jahr 2014, Absprachen mit venezolanischen Unternehmern zu treffen
  • 5. Staatlicher Erdölkonzern und größtes Unternehmen des Landes