Die unverwundbaren Mädchen der "Sexarbeit"

Die Verbreitung des Diskurses der "Sexarbeit", wenn von Prostitution die Rede ist, ist der Triumph des neoliberalen Patriarchats

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Kampagne zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Zwangsprostitution anlässlich der Fußball-WM der Männer in Brasilien: "Anna, 14 Jahre, Opfer eines Prostitutionsringes seit ihrem 12. Lebensjahr"
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Kampagne zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Zwangsprostitution anlässlich der Fußball-WM der Männer in Brasilien: "Anna, 14 Jahre, Opfer eines Prostitutionsringes seit ihrem 12. Lebensjahr" (Screenshot)

Stellen wir uns ein Mädchen vor. Sie könnte acht Jahre alt sein oder auch 17. Das Mädchen lebt in extremer Armut. Möglicherweise sind sein Vater und seine Mutter in einem kriegerischen Konflikt gestorben. Deswegen muss das Mädchen sich selbst helfen, um sein täglich Brot zu bekommen. Oft kann sie nur abends essen und sie sagt, dass der Hunger ihr Kopfschmerzen verursacht, die ihr die Konzentration in der Schule erschweren. Das Mädchen ist nicht allein; es gibt viele, denen es so geht wie ihr. Abgesehen von den zuvor beschriebenen Widrigkeiten teilen die Mädchen noch mehr.... Erstens, den innigen Wunsch, zur Schule gehen zu können und sich zu bilden. Zweitens, dass die Männer ihres Dorfes (manchmal einer, manchmal vier) sie täglich bezahlen (mit weniger als einem Dollar), um mit ihnen zu schlafen.

Ach! … und Drittens: dies ist laut Al Jazeera English weder kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen, noch "erzwungene" oder gar allgemeine "Prostitution", nein, diese Mädchen sind "Sexarbeiterinnen". Sexarbeiterinnen, denen die berühmte "Macht der Agentur" zufällt, über ihre Unterdrückungen selbst zu entscheiden. Ist Ihnen schon schlecht oder benötigen Sie noch mehr Kontext?

Am 28. September veröffentlichte Al Jazeera eine Fotoreportage der Dokumentarfilmerin und Fotografin Sara Hylton mit dem Titel "Die Mädchen im Süd-Sudan ausbilden". Das Foto-Projekt wurde in Zusammenarbeit mit der International Women’s Media Foundation (IWMF) ausgearbeitet. Es ist eine Serie von Bildern, die das Leben der Mädchen und Jugendlichen im Bundesstaat Unity im Süd-Sudan zeigt. Konflikte zwischen den Glaubensgemeinschaften in ihren Dörfern, stundenlange Fußmärsche für den Weg zur nächsten Schule, Zwangsehen ... und Armut, die extreme, unerbittliche Armut, sind nur einige der Herausforderungen, mit denen die Mädchen leben.

"Die Mädchen im Süd-Sudan sind doppelt gefährdet, viele werden zur Ehe gezwungen, erleiden sexuellen Missbrauch und Ausbeutung. Es ist dreimal wahrscheinlicher, dass ein junges Mädchen im Süd-Sudan bei der Niederkunft eines ihrer Kinder stirbt, als dass sie ihre Grundschule abschließt", schreibt Hylton. Aber trotz allem sind es starke Mädchen mit Träumen und dem unerschütterlichen Wunsch, ihre Situation zu überwinden, "die in einem der instabilsten Länder der Erde für ihre Zukunft kämpfen."

Es ist eine inspirierende Geschichte voller Hoffnung. Eines der Mädchen berichtet, dass ihm zu Hause niemand bei den Hausaufgaben helfen kann, da in ihrer Familie bisher niemand zur Schule gegangen sei, aber dass sie dennoch davon träumt, Erziehungsministerin ihres Land zu werden. Der Mut und die Entschlossenheit der Mädchen und Jugendlichen brachten mich zum Weinen. Daher erstarrte ich bei der Lektüre des Bilduntertitels: "Jessica, 14 Jahre alt, hat eine multiple Persönlichkeitsstörung. Sie wohnt zusammen mit weiteren 50 gefährdeten Kindern in einer Einrichtung, in der sie Betreuung und Unterricht erhält. Laut der Gründerin der Einrichtung ist die Sexarbeit unter den Mädchen üblich. Sie verdienen weniger als einen Dollar pro 'Kunde'. Das Ziel der Gründerin ist es, den Mädchen beizubringen, dass 'ihr Körper das ist, was bleibt' und ihnen alternative Wege zum Geldverdienen aufzuzeigen.“

Wie bitte? Wie springen wir von der extremen Armut und dem Wunsch der Mädchen, sich Bildung anzueignen, dahin, dass die Mädchen Sexarbeiterinnen mit "Kunden" sind? Es dauerte bei mir eine Sekunde, den gigantischen Sprung zu verstehen, den diese Worte im Zusammenhang des Artikels ausdrückten. Als ich es analysieren konnte, wurde mir klar: was ich da vor mir hatte, war ein Beleg dafür, wie die Rhetorik von der Sexarbeit mit den materiellen Realitäten unvereinbar ist, von der die Mädchen sprachen. Der "Sexarbeit"- Diskurs lässt weder Opfer noch Verletzlichkeiten noch strukturelle Unterdrückung zu. Jede Frau und jedes Mädchen wird zu einem Wesen, das die Macht hat, "zu entscheiden" und merkwürdigererweise in all das einzuwilligen, was das Patriarchat möchte. Keine Situation ist prekär genug und kein Mädchen gefährdet genug, um nicht als "Sex-Arbeiterin" dargestellt zu werden.

Dies sind keine vereinzelten Argumente. Bewusst oder unbewusst schloss sich Hylton einer Denkströmung an, die schleichend in den Feminismus und die Umgangssprache eingedrungen ist. Viele Menschen, sowohl konservative als auch fortschrittliche, glauben, dass sie durch den Gebrauch des Begriffes "Sexarbeit" ein wenig Würde und Respekt in die Angelegenheit brächten. Das funktioniert wie ein Schutzmantel, um die Industrie zu desinfizieren, um so nicht an die materiellen Realitäten zu denken, dass erwachsene Männer (die seltsamerweise die großen Abwesenden in der Fotoreportage von Al Jazeera sind) armen Mädchen, viele davon Waisen, weniger als einen Dollar zahlen (50 Cent? 75 Cent? Oder noch weniger?), um in sie einzudringen.

Die Verbreitung des Diskurses der "Sexarbeit", wenn von Prostitution die Rede ist, ist der Triumph des neoliberalsten Patriarchats. Den Konservativen sage ich nicht viel, da sie sich nie besonders um die Rechte der Frauen und Mädchen gekümmert haben. Aber die fortschrittlichen Frauen und Männer möchte ich sehr wohl daran erinnern, dass es in der (kapitalistischen) Konzeption der Arbeit Arbeitsrechte gibt, aber auch Pflichten. Wenn die Mädchen und Heranwachsenden Sexarbeiterinnen sind, kann einer dieser Männer dann geltend machen, dass ihm nicht die gewünschte Fellatio nach seinen Bedürfnissen "verabreicht" wurde, oder dass er mit einem der anderen sexuellen Akte nicht einverstanden ist, für die er gezahlt hat? Und können diese Männer sie dann verklagen, oder darauf bestehen, dass sie ihnen das Geld zurückgeben oder es noch einmal machen? Fragen, die die absurde Falle aufzeigen, in die alle diejenigen tappen, die den Diskurs übernehmen, ohne ihn durchdacht zu haben.

Warum solch ein Beharren darauf, dass wir alles mit dem Mantel der "Sexarbeit" überdecken? Warum solch ein Beharren darauf, Mädchen, die in den allerprekärsten Umständen leben, "Sexarbeiterinnen" zu nennen? Warum sollen wir nicht die harten Worte sagen: sexuelle Ausbeutung, Opfer, Überlebende, Vergewaltigung?

Wie uns Kajsa Ekis Ekman in ihrem Buch "Sein und gekauft werden" (Being and Being Bought) erklärt, wird der Diskurs über die Sexarbeit wie eine Antithese zur Unterdrückung der Frauen in einem patriarchalischen System gestaltet. Die Sexarbeiterin ist eine aktive Frau, die persönliches Empowerment innerhalb eines repressiven Systems findet, besagt der Diskurs. Die Sexarbeiterin begreift, dass nichts das Verhalten der Männer oder eine Gesellschaft ändern kann, die die Sexualität der Frau zum Objekt macht. Statt sich dem zu widersetzen oder dagegen zu protestieren, wird die Sexarbeiterin entsprechend als eine weise Unternehmerin präsentiert, die "ihre Macht über die Männer" nutzt, um sie in ihrem eigenen Spiel zu übertreffen. In diesem Konzept "ist die Sexarbeiterin die beste Feministin", so Ekis Ekman. Wenn jemand nun versucht, von den Verletzungen zu sprechen, die die Prostitution verursacht, lautet die Antwort deshalb immer, dass "die Sexarbeiterinnen starke und aktive Subjekte sind", die durch das Reden von Unterdrückung und Beleidigung bagatellisiert werden. Folglich gibt es im Diskurs der Sexarbeit weder Raum für Opfer noch für die Ursachen, Wirkungen und Folgen der Prostitution.

Zerlegen wir das Argument:

1. Die feministische Literatur, die die Prostitution als Unterdrückungssystem kritisiert, spricht fast nie von Opfern. Wenn ich in meinen Untersuchungen zu dem Thema das Wort "Opfer" finde, steht dies immer in Zusammenhang mit Akademikerinnen, die Fürsprecherinnen der Prostitution und gegen eine Stigmatisierung der Prostituierten als "Opfer" sind - und diejenigen angreifen, die die Prostitution nicht unterstützen. Die Vorwürfe der Akademikerinnen, die das Recht der Männer auf sexuellen und unbegrenzten Zugang zum Körper von Frauen und Mädchen verteidigen, bringen nie ein Beispiel des rhetorischen Verbrechens, das diejenigen verüben, die gegen die Prostitution sind. Aber sie sind immer begleitet von Anschuldigungen und Beleidigungen gegen "die moralischen Feministinnen, die die Freiheit hassen und unterdrückt, rückständig und gegen Sex sind." Abgesehen von den sexistischen Konnotationen, die jede dieser Anschuldigungen beinhaltet, stelle ich eine andere Frage: Was würde passieren, wenn sich der Feminismus entschiede, von Opfern zu sprechen?

Das Wort "Opfer" ist in der Beschreibung eines Machtverhältnisses kein persönliches Merkmal. Wenn es Opfer gibt, folgt daraus, dass es Täter gibt. Wenn wir in diesem Konzept von Machtbeziehungen nicht von Opfern sprechen können, wo bleiben dann die Täter? Wenn wir uns nur darauf konzentrieren, immer die Stärke und das Empowerment von uns Frauen herauszustellen, nicht aber von den Unterdrückungen sprechen, deren Opfer wir unter dem Patriarchat sind, in welchem Kontext sprechen wir dann von den Schäden, die es uns zufügt ?

Das Opfer einer Unterdrückung zu sein, stellt den Unterdrücker in ein schlechtes Licht. Das Opfer der Unterdrückung kann unter anderem eine fleißige Jugendliche sein, eine liebevolle Tante, eine mittelmäßige Köchin, eine widersprüchliche Freundin. Warum gehen wir davon aus, dass die Tatsache, Opfer eines Systems zu sein, das uns gern zu Opfern macht, alle unsere anderen Identitäten aufhebt? Statt zu leugnen, dass der Schaden, den uns das Patriarchat zufügt, real ist, und dass das Patriarchat der am längsten andauernde Genozid der Geschichte ist, der versucht, seine Unterdrückungen hinter einer Sprache (und nur der Sprache) des Empowerments zu verstecken, sollten wir versuchen, diese Energie dazu zu nutzen, den Tätern zu sagen: "Nein, nein. Das Opfer kann ich gewesen sein, aber du bist derjenige, der Missbrauch begeht!"

2. Diese Idee, dass die "Sexarbeit" keinerlei Unterdrückung der Frauen und Mädchen ist, sondern "Das große Empowerment", da sie uns erlaubt, "unsere Macht" über die Männer auszuüben, ist im Kern frauenfeindlich. Eine Freundin, die in einer Bar tanzt, um ihre Krebsbehandlung bezahlen zu können, sagte mir einmal, dass sie die eigentliche Macht habe, da den Männern die Augen überliefen, wenn sie sie tanzen sehen. Daher habe sie während der Aufmerksamkeit und sexuellen Erregung der Männer die vollständige Kontrolle über sie.

Ja, aber was passiert, wenn die Erektion der Männer nachlässt? Dann sind es die Männer, die weiterhin die politische, wirtschaftliche, kulturelle und strukturelle Macht unserer gesamten Gesellschaft innehaben. Das Geld, das sie uns dafür bezahlen, dass wir für sie tanzen, stammt aus einem Finanzsystem, das sie kontrollieren. Die Politiken, die unseren Körper kontrollieren (von unseren reproduktiven Rechten bis zu den Steuern auf die Tampons, die wir benutzen) werden von Männern beherrscht. Und leider sind es die Männer, die die historische Macht darüber haben zu entscheiden, dass es diese Nacht die rothaarige Ukrainerin sein soll, die für sie sexuell "arbeitet", und nicht die Brünette aus El Salvador.

Zu argumentieren, dass wir in unserer untergeordneten Rolle "Macht" finden, ist die subtilste Form des Patriarchats, uns (schlussendlich als guter Täter) zu sagen "Ach, jammer' doch nicht so. Freu' dich, dass ich dir zumindest Aufmerksamkeit schenke."

"Warum so viel Angst davor, jemanden Opfer zu nennen?" fragt Ekis Ekman. "Warum ist es so wichtig zu sagen, dass sich prostituierende Menschen niemals, unter keinen Umständen, Opfer sein können?" Weil, wie sie erklärt, "das Wort Opfer zu einem Tabu zu machen, ein Schritt in die Richtung ist, Klassenunterschiede und Geschlechterungleichheiten zu legitimieren." Nur durch die Aufhebung des Konzeptes "Opfer" können wir die unverwundbare Person schaffen.

Um dorthin zu gelangen, brauchen wir zwei Schritte:

1. Wir glauben das Märchen, dass das Wort "Opfer" keine Macht-Beziehung ausdrückt, sondern eine persönliche Eigenschaft oder Identität ist. Also glauben wir auch das Märchen, dass "Opfer" Passivität, Schwäche und Apathie bedeutet. Wir machen aus dem Wort "Opfer" (und aus jeder Person, die wir so nennen) eine pathetische Karikatur. Folglich möchte niemand, dass man ihn oder sie Opfer nennt oder irgendeine andere Unterdrückung als viktimisierend bezeichnet. Die Karikatur, die wir geschaffen haben, ist so pathetisch inaktiv, dass alles, angefangen beim Blick zur Seite, während dich ein Mann vergewaltigt, bis hin zum Rauchen einer Zigarette nach dem Beischlaf einen Akt des Widerstandes darstellt. Wir wissen, dass dies Überlebensstrategien sind, die weder die vorherigen Unterdrückungen noch die damit verbundenen Verletzungen aufheben können. Aber da wir bereits definiert haben, dass Opfer = absolute Passivität und aktives Subjekt = wortwörtlich jegliche Aktivität, schließen wir daraus, dass die Opfer in Wirklichkeit gar nicht existieren.

2. Da logischerweise niemand (vielleicht mit Ausnahme der im Koma liegenden Personen) "so passiv" wie die Karikatur ist, die wir vom Opfer erfunden haben, beschließen wir, dass das Konzept des Opfers ersetzt werden muss, da es eine Täuschung ist. "Wie kann eines dieser Mädchen Opfer sein, wenn sie das Geld annehmen, das die Männer ihnen zahlen? Geld zu akzeptieren ist ein Akt, der dich zu einem aktiven Subjekt macht, richtig?" Diese Analysen erinnern mich stark an die Argumente, die Leute vorbringen, die nicht einen Deut davon verstehen, wie Gewalt funktioniert. Das Argument steht in einer Reihe mit jenem anderen, das davon ausgeht, dass abgesehen davon, dass sie dir die Pistole an die Schläfe setzen und dir damit drohen, den Abzug GENAU IN DIESEM MOMENT zu betätigen, rein gar nichts Zwang ist und du all dies freiwilllig machst. Dabei wird ignoriert, dass die Misshandlung und die Unterdrückung viel mehr und heimtückischer ist als das. Ein Denkansatz, der nie realisiert hat, dass die psychologische Gewalt ebenso unsichtbar ist wie die emotionale Manipulation, und dass die Armut ebenso sehr materiell wie strukturell und eine Macht latenten Zwanges ist.

Da es keine Opfer gibt, die die neue Karikatur der Passivität erfüllen, zu der wir das Wort gemacht haben, gibt es auch keine Täter. Und da das Opfer als aktives Subjekt "enthüllt" wurde, das ihr Leben in die eigenen Hände nimmt, gibt es keinen Grund, von Unterdrückung oder gar von Missbrauch zu sprechen oder gar eine systematische Analyse der Gewalt durchzuführen. Dies sind komplizierte rhetorische und ideologische Pirouetten, die jedoch letztendlich dazu dienen, die unverwundbare Person zu enthüllen.

"Die unverwundbare Person ist die neoliberale Version des alten Mythos des starken Sklaven, der armen, äußerst fleißigen Frau, der schwarzen 'Superfrau', der kolonialisierten Frau, die weder die Peitschenhiebe noch die Schläge spürt. Die Geschichte ist voller Beispiele dafür, wie die Lebensbedingungen als persönliche Eigenschaften neu interpretiert werden." Während der Sklaverei in den USA war es üblich, dass die "übermenschlichen" Qualitäten der Sklavinnen und Sklaven gerühmt wurden.

Die Schriftstellerin Michele Wallace beschreibt in ihrem Buch "Schwarzer Macho und der Mythos der Superfrau" (Black Macho and the Myth of the Superwoman), wie die schwarze Frau, die in verschiedenen Unterdrückungssystemen überleben musste, zu einer Karikatur wurde, die sie verherrlichte, aber einzig und allein mit dem Ziel, die Unterdrückungen an sich zu negieren. Die schwarze Frau dieser Vision "ist eine Frau mit außerordentlicher Kraft, mit einer unüblichen Fähigkeit, die schwere Arbeit und das Elend hinzunehmen. Diese Frau hat nicht die selben Ängste und Unsicherheiten, die andere Frauen haben, aber sie selbst glaubt sogar, dass sie sogar emotional stärker ist als die Mehrheit der Männer."

Die angebliche Stärke und die übermenschlichen Qualitäten, die man der unverwundbaren Person zuweist, sind im Grund eine Ausrede, um die Bedingungen nicht analysieren zu müssen, die diese Stärke notwendig machen oder so viel Elend ertragen lassen. Es ist eine entmenschlichende Taktik.

Den Jugendlichen und Mädchen im Süd-Sudan die Bezeichnung "Sexarbeiterinnen" zuzuweisen, klingt für die feministischen neoliberalsten Zirkel sehr hübsch, aber die Realität ist, dass es uns davor schützt, viele Fragen zu stellen. Wirklich unangenehme Fragen: Welche physischen, emotionalen und psychologischen Auswirkungen entwickeln sich bei den Mädchen und Jugendlichen, die wissen, dass die Männer ihrer Gemeinschaft ihren Körper als reines Objekt sehen, für das sie weniger als einen Dollar zahlen können? Warum beuten die Männer die Mädchen, die in solch prekären Umständen leben, sexuell aus? Gibt es einen sozialen Kontext, der ihnen dies erlaubt? Welcher geopolitische Kontext verursacht so viele interne Konflikte im Süd-Sudan? Hat das etwas mit den westlichen Interessen an diesem Konflikt zu tun und ist es möglich, dass unsere Länder direkt oder indirekt die Bedingungen verschärfen, denen die Mädchen und Jugendlichen dieses Foto-Berichts unterworfen sind?

Welchen Schaden wird es langfristig verursachen, dass dieser Zweig des westlichen Feminismus ‒ der darauf besteht, mit der Sprache und mit Theorien Pirouetten zu drehen, ohne dabei die materiellen Realitäten anzugreifen ‒ mit aller Macht in alle Ecken und Winkel vorstellbarer Unterdrückung exportiert und extrapoliert wird? Wann hören wir Mädchen von den Kopfschmerzen sprechen, die ihnen der Hunger verursacht, wenn sie eigentlich zur Schule gehen möchten ‒ und statt Empathie mit ihrem Kampf zu empfinden, rechtfertigen wir das Unterdrückungssystem, das sie als unterwürfige "Arbeiterinnen" des Patriarchats ansieht?

Der Feminismus ist eine Bewegung, die zum Ziel hat, die Gewalt gegen Mädchen und Frauen zu beenden und das Patriarchat abzuschaffen. Wie konnten wir Feministinnen es zulassen, dass unsere Bewegung ‒ eine Bewegung, die den Kampf der Mädchen und Frauen in den Mittelpunkt stellt ‒ durch diese Ideen in Beschlag genommen wurde, die die Interessen sowohl des Marktes als auch des Patriarchats selbst an erster Stelle sehen?

"Das Schlimmste ist, dass alle diese Mädchen vergewaltigt werden", sagt eine der Jugendlichen in der Al Jazeera-Reportage. "Es gibt nichts Schwieriges, das ein Mädchen nicht schaffen könnte. Wenn ich es kann, können alle anderen Mädchen das auch...(aber) die Mädchen sind diejenigen, die am meisten leiden."

Mir scheint, dass diese Jugendliche ihre feministische Analyse sehr klar hat, indem sie die Bedeutung herausstellt, die Gewalt beim Namen zu nennen. Lassen wir zu, dass sie uns das lehrt?

Raquel Rosario Sánchez aus der Dominikanischen Republik ist Rechtsanwältin, Autorin und Aktivistin. Sie arbeitet in Initiativen für die Rechte von Mädchen und Frauen und ist Expertin für Studien zu Frauen, Geschlecht und Sexualität

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