...und noch einmal zum sogenannten Extraktivismus

Indem wir den Extraktivismus überwinden, überwinden wir nicht automatisch den Kapitalismus. Schön wär‘s, wenn es so einfach wäre

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Alle Gesellschaften und Produktionsweisen haben auf ihre Art verschiedene Ebenen der Verarbeitung von "Rohstoffen"
Alle Gesellschaften und Produktionsweisen haben auf ihre Art verschiedene Ebenen der Verarbeitung von "Rohstoffen"

Seit Marx wissen wir, dass das, was Gesellschaften kennzeichnet und unterscheidet, ihre Art und Weise der Organisation von Produktion, Verteilung und Verwendung materieller und symbolischer Reichtümer ist, die sie besitzen. Anders formuliert ist es die Produktionsweise1, die den materiellen Inhalt des gesellschaftlichen Lebens verschiedener territorialer Gruppierungen (Nationen, Völker, Gemeinschaften) bestimmt. Dabei kann unterschieden werden, in welcher konkreten historischen Form sich einzelne Produktionsweisen entwickeln und in welcher Weise in einer Gesellschaft verschiedene Produktionsweisen in Verbindung stehen.

Eine Produktionsweise ist ein Gefüge von sozialen Verhältnissen, das spezifische Formen materieller Zusammenhänge beinhaltet: zwischen den Produktionsmitteln (Werkzeugen), dem Objekt der Arbeit ("Rohstoffe"), der Arbeitskraft (Arbeiter), dem Produkt der Arbeit (Ergebnis), den Besitzverhältnissen jeder dieser Komponenten, Kontroll- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen ihnen, der technischen Organisation der Arbeitsabläufe, der gesellschaftlichen Nutzung des Produktes der Arbeit, etc. In jedem einzelnen dieser Verhältnisse, die Teil der gesellschaftlichen Produktionsweise sind, gehen Menschen miteinander und mit der Natur Verbindungen ein, und zwar anhand materieller Mittel, die nichts anderes sind, als durch gesellschaftliche Arbeit veränderte Natur. Dies bedeutet, dass in jeder gesellschaftlichen produktiven Aktivität eine natürliche Dimension enthalten ist, und ebenso in jeder natürlichen kreativen Aktivität eine gesellschaftliche Dimension. Oder anders ausgedrückt: Das Gesellschaftliche ist eine Komponente des natürlichen Stoffwechsels. So gesehen gehört die Art und Weise, in der wir Menschen uns mit der Natur in Beziehung setzen, zu den Eigenschaften einer jeweiligen gesellschaftlichen Produktionsweise.

In jedem Falle ist menschliche Aktivität einzig und allein mittels der Veränderung von Natur möglich, sei es in der Form einer Hütte oder einer Stadt, eines Saatfeldes oder eines Terrassenfeldes, einer Talsperre oder einer Wasserturbine, eines Beils oder einer Güterlore: alles, absolut alles, seitdem es Leben auf diesem Planeten gibt. Das natürliche und gesellschaftliche Leben muss die Natur verarbeiten, um aus ihr biologische Komponenten für die Fortpflanzung und materielle Komponenten für ihre Werkzeuge zu extrahieren. Aufgrund seiner Natur verändert und beeinflusst der Mensch die ihn umgebende Natur: Das ist das unveränderliche, natürliche und zeitüberdauernde Wesen einer jeglichen Produktionsweise.

Was eine Produktionsweise gesellschaftlich von der anderen unterscheidet, ist dennoch die Art und Weise, in der sich der Mensch zur Natur ins Verhältnis setzt. Alle ländlichen Produktionsmethoden, die dem Kapitalismus vorausgingen, haben ohne Ausnahme die natürliche Umwelt drastisch beeinflusst und verändert 2. Das sehen wir in unserem Land allein schon an den zahllosen andinen Terrassenfeldern, die die Versorgung von Millionen von Einwohnern in der Hochebene der Anden und den Tälern sichergestellt haben3, an dem kolossalen System der Viehtränken oder den künstlichen Teichen im Amazonas4, die bis heute das Panorama des Flachlands von Beni prägen. Große Menschenansammlungen haben zum Zwecke ihrer Reproduktion die Umwelt radikal verändert. Aber der große Unterschied zwischen diesen Veränderungen der Umwelt und den Eingriffen des Kapitalismus in die Natur heutzutage ist, dass die nicht-kapitalistischen Gesellschaften die Fähigkeit der veränderten Umwelt zur Selbsterneuerung einkalkulierten, damit diese als Reservoir von Gebrauchswerten für zukünftige Generationen erhalten bleibe. Die organische und lebendige Auffassung von Natur, die diese Gesellschaften kennzeichnet, leitet sich also davon ab, dass sie diese für kollektive Zwecke verändern.

Im Gegensatz dazu zerstört der Kapitalismus die Beziehungskoordinaten von Umwelt und Gesellschaft. Hier ist die Natur der Lieferant von materiellen Mitteln als Tauschwert, für den Profit. Während sie für die anderen Produktionsweisen die große Quelle der Lebensmittel, der Gebrauchswerte ist, ist im Kapitalismus der Tauschwert (Profit) der materielle Antrieb, der die Produktion leitet. In dieser Produktionsweise sind Zerstörung, Pflege, Plünderung, Erhaltung nur austauschbare Begleiterscheinungen einer einzigen Zielsetzung: des Profits, der ununterbrochenen und unendlichen Wertschöpfung von Kapital. Und diese Logik ist das Grundprinzip, das alles verschlingt: Gesellschaften, Personen und die Natur. Aus diesen Gründen ist der Kapitalismus eine zerstörerische Kraft, zu aller erst für die menschliche Natur, dann für die Natur im Allgemeinen.

Ein Bestandteil der Produktionsweisen ist die technische Gestaltung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur. Das betrifft in erster Linie die Werkzeuge, die Maschinenwerkzeuge für die Arbeit mit den Rohstoffen, ebenso wie die Komplexität der Umwandlung von Rohmaterial, von der rohen Natur bzw. von der bereits zuvor veränderten Natur. Im ersten Fall sprechen wir von Eigenschaften und Arten der Produktivkräfte (einfach oder komplex; technisch, organisatorisch, symbolisch, etc.; kollektiv oder persönlich; handwerklich, mechanisch oder industriell; intellektuell; häuslich, regional oder universell, Ertrag des gesellschaftlich-weltlichen Intellekts, etc.). In gewissem Maße ist dies der technisch-prozessuale Kern, der die verschiedenen gesellschaftlichen Produktionsweisen unterscheidet5.

Im Falle der Komplexität der Umwandlung von Natur kann dies von der Gewinnung von natürlichen Rohstoffen (nachwachsende Rohstoffe wie Nutzpflanzen Holz, Gummi oder nicht erneuerbare Rohstoffe wie Mineralien, Kohlenwasserstoffe usw.) über die per Hand getätigte, die handwerkliche und industrielle Verarbeitung dieses Rohstoffs bis hin zu seiner höheren Ebene reichen, wenn die “Rohstoffe” Symbole und Ideen sind, die Verarbeitung in Form von Produktion neuer, komplexerer Ideen und Symbole.

Alle Gesellschaften und Produktionsweisen haben auf ihre Art diese verschiedenen Ebenen der Verarbeitung von "Rohstoffen”. Wenn wir "Extraktivismus" als Aktivität verstehen, die nur dem Abbau (erneuerbarer oder nicht erneuerbarer) Rohstoffe dient, ohne größere Veränderungen im Arbeitsprozess zu bewirken, so sind alle Gesellschaften der Welt, egal ob kapitalistisch oder nicht, mehr oder weniger extraktivistisch. Die nicht-kapitalistischen Agrargesellschaften, die Eisen, Kupfer, Gold und Bronze in größerem oder geringeren Ausmaß verarbeitet haben, wiesen eine bestimmte Art spezialisierten Extraktivismus auf, der in einigen Fällen mit der einfachen oder komplexen Verarbeitung dieses Rohmaterials ergänzt wurde. Sogar die Gesellschaften, die vom Abbau von Holz und Kastanien in Kombination mit Jagd und Fischfang gelebt haben oder leben, betreiben eine Art Extraktivismus erneuerbarer, natürlicher Ressourcen.

Die kapitalistischen Gesellschaften selbst haben verschiedene Ebenen extraktivistischer Aktivität6, die im Laufe der Zeit zu industriellen Verarbeitungstätigkeiten geführt hat. In bestimmten Fällen sind einige Gesellschaften schnell zur Produktion von Ideen und Symbolen als deren hauptsächlichen produktiven Aktivität übergegangen. Dies impliziert die Aneignung intellektueller Produktivkräfte für Prozesse der kapitalistischen Wertschöpfung (Profit). Aber auch die älteren, nicht-kapitalistischen Gesellschaften haben Erscheinungen dieser Art von Produktion von Gemeingütern entwickelt. Die Mathematik, Astronomie, das Bewässerungsingieneurwesen 7 oder selbst religiöse Rituale, die von der Zivilisation im Anden- und Amazonasgebiet, von den Mayas und anderen entwickelt wurden, sind gesellschaftliche Ideenfabriken, die Ideen und Symbole verarbeitet haben.

Was zwischen den geschichtlichen Epochen und zwischen Gesellschaften, die im Allgemeinen die gleiche Produktionsweise haben, Unterschiede schafft, ist deren Spezialisierung bei ihren produktiven Aktivitäten, das heißt, wie sie an der Organisationsweise der internationalen Arbeitsteilung teilhaben.

Es gibt Länder, die als Produzenten von Rohstoffen begannen, zur Industrialisierungsphase übergingen und nun dazu neigen, sich auf die wissenschaftlich-technologische Produktion und Dienstleistungen zu konzentrieren. Viele der europäischen Länder und auch Nordamerika können auf diese Entwicklung zurückblicken. Im Zuge dessen, dass diese Länder ihre industrielle Produktion in die Peripherie verlagert haben, sind andere Gesellschaften von der bloßen Rohstoffproduktion für den Weltmarkt (als Rohstoffexporteure, "Extraktivisten") zu Aktivitäten übergegangen, die ihren Extraktivismus ergänzen: selektive industrielle Verarbeitung. Damit sind diese zweite Gruppe von Ländern zu den Werkstätten unserer Welt geworden; das gilt für Mexiko, die Philippinen, Brasilien, Indien und teilweise China.

Aber es gibt auch Gesellschaften, wie der Großteil in Lateinamerika und Afrika, die Rohstoffexporteure geblieben und damit von Grund auf extraktivistisch oder extraktivistisch und landwirtschaftlich geblieben sind. Das weltweite kapitalistische System ist dynamisch und verändert stetig und auf konfliktgeladene Weise die geographische Verteilung der verschiedenen Produktionsprozesse, je nach Profitpotential, Marktzugängen und Verfügbarkeit von Arbeitskräften und natürlichen Ressourcen. Im Großen und Ganzen befinden sich die meisten kolonialen oder postkolonialen Gesellschaften im rohstoffexportierenden Sektor, aber es gibt auch zahlreiche Beispiele von kolonialen Gesellschaften, die zur industriellen Verarbeitung vorangeschritten sind (Brasilien, Mexiko, etc.), sogar teilweise zur Produktion von Wissen (Südafrika, und zu Teilen China), ohne dass sie dadurch aufgehört hätten, kapitalistisch zu sein. Dies bedeutet, dass selbst wenn der Extraktivismus beendet wird, der Kapitalismus nicht aufhört, da er auch als Nicht-Extraktivist extraktivistisch sein kann. Deshalb ist die grundlegende Debatte zur revolutionären Transformation der Gesellschaft nicht darüber zu führen, ob wir extraktivistisch oder nicht sind, sondern inwiefern wir den Kapitalismus als Produktionsweise überwinden – sei es in seiner extraktivistischen oder nicht-extraktivistischen Variante.

Im Inneren des Kapitalismus als globaler Produktionsweise trägt jede dieser Arbeitsspezialisierungen der Länder und Regionen zur Vorherrschaft des weltweiten kapitalistischen Systems bei; und die revolutionären sozialistischen Prozesse der vergangenen 150 Jahre haben diese Stellung in der internationalen Arbeitsteilung als Bedingungen ihrer Möglichkeiten und Beschränkungen geerbt. Die Pariser Kommune, die Sowjetrepublik in den leninistischen Momenten oder das China von Mao haben mit dieser weltweiten materiellen Grundlage nicht gebrochen. Sie konnten es nicht. Stattdessen haben sie ihre Stellung in der Arbeitsteilung und ihre erreichten Produktivkräfte als Ausgangspunkt genommen, um von dort aus die internen wirtschaftlichen Strukturen in einem langen Prozess der Vergesellschaftung der Bedingungen der Produktion zu revolutionieren und einen noch größeren und längeren Prozess zur Revolutionierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen anzustoßen. Die außergewöhnlichen Überlegungen von Lenin über die Vorherrschaft des Kapitalismus – mitten in der sozialistischen Russischen Revolution – und über die unerbittliche internationale Arbeitsteilung, trotz der Präsenz der Russischen Revolution8, sind so weitreichend und tief gehend, um die Notwendigkeit einer zeitgenössischen Revolution aus der Perspektive des Sozialismus zu verstehen, aber auch die Schwierigkeiten und Grenzen, denen sich jeder emanzipatorische Prozess an jedem Ort der Welt stellen muss, auch die bolivianische demokratisch-kulturelle Revolution.

Gegenüber naiven linksgerichteten Tendenzen, die glauben, dass eine Gesellschaft allein der weltweiten Dominanz entkommen kann, erinnern Lenin und Marx uns daran, dass der Kapitalismus global ist und dass die einzige Art und Weise, ihn zu überwinden, ebenso global ist. Folglich sind die Kämpfe und Anstrengungen für die Vergesellschaftung der Produktion in einem Land allein nur eben dies: vereinzelte Anstrengungen, Schlachten, Scharmützel, die eine historische Absicht in sich tragen, die aber einzig dann siegen können, wenn sie sich als Kämpfe auf die weltweite Ebene ausdehnen. Der Kommunismus ist entweder global oder gar nicht. Und solange es eine Vorherrschaft des Kapitalismus gibt, in dessen Innerem Zeichen und Tendenzen des Kampfes für eine mögliche neue Produktionsweise aufkeimen, die nicht lokal existieren kann, so lange wird sie nur so existieren: als eine Tendenz, ein Kampf, eine Möglichkeit; denn ihre Existenz wird erst dann möglich sein, wenn sie eine weltweite Dimension erreicht hat. Die Illusion des "Kommunismus in einem Land" war genau dies: eine Illusion, die unsägliche Folgen für die Arbeiter jenes Landes und für die revolutionären Aussichten im 20. Jahrhundert hatte.

Der Sozialismus ist keine neue Produktionsweise, die neben dem Kapitalismus existieren und territorial um die Welt oder ein Land wettstreiten könnte. Der Sozialismus ist ein Schlachtfeld zwischen dem Kapitalismus in der Krise und den Tendenzen, Potenzialen und Anstrengungen zur Vergemeinschaftung der Produktion9. In anderen Worten: er ist die historische Phase des Kampfes zwischen der dominanten, etablierten kapitalistischen Produktionsweise und einer anderen, potenziell neuen. Die einzige Produktionsweise, die dem Kapitalismus überlegen ist, ist der Kommunismus, die Vergemeinschaftung der Produktion des materiellen Lebens der Gesellschaft. Und diese Produktionsweise existiert nicht stückweise, sondern nur auf globaler Ebene. Aber solange das nicht eingetreten ist, bleibt nur der Kampf darum.

Diese kurze grundlegende Schilderung der Logik revolutionärer Prozesse ist wichtig, da es Leute gibt, die uns vorwerfen, wir würden uns der globalen Arbeitsteilung unterwerfen, so als könnte diese Arbeitsteilung von einem einzelnen Land (Stalins Illusion) und allein durch die Macht des Wortes durchbrochen werden. Keine Revolution der Gegenwart konnte die weltweite Arbeitsteilung durchbrechen, noch wird sie dies tun können, so lange es keine gesellschaftliche und politische Massenbewegung gibt, die territorial weit genug reicht (nämlich weltweit) und technisch nachhaltig ist und die geopolitischen Kräfteverhältnisse der Welt verändert. Anstatt sich also die Haare wegen der aktuellen Gültigkeit der "kapitalistischen Arbeitsteilung" auszureißen, ist es das Wichtigste, diese Arbeitsteilung durch die territoriale Ausdehnung der revolutionären und progressiven Prozesse der Welt zu untergraben.

Ebenso wird dem revolutionären bolivianischen Prozess vorgeworfen, er verharre im "extraktivistischen" Wirtschaftszeitalter, was der Umwelt schade und die Abhängigkeit von der weltweiten kapitalistischen Vorherrschaft besiegle.

Es gibt keine historischen Beweise, die belegen, dass die industriellen kapitalistischen Gesellschaften der Mutter Erde weniger schaden würden als solche, die – erneuerbare oder nicht erneuerbare – Rohstoffe fördern. Im Übrigen beziehen sich die Daten zur globalen Erwärmung hauptsächlich auf den Ausstoß von Treibhausgasen durch hoch industrialisierte Gesellschaften10.

Und was die Chancen autarker Regionen gegenüber der kapitalistischen Ordnung angeht, machte sich Marx schon vor mehr als 100 Jahren über Utopisten lustig, die dachten, man könnte gesellschaftliche „Inseln“ schaffen, die nicht von den Verhältnissen kapitalistischer Dominanz beeinflusst würden. Ironisch zeigte er auf, dass vielleicht eine kürzlich in abgelegenen Gewässern entstandene Koralleninsel in der Südsee 11 dieser utopischen Anforderung genügen könnte, da der Rest der Gesellschaft auf die eine oder andere Weise den vorherrschenden wirtschaftlichen Beziehungen unterworfen war.

Genauso wie der Extraktivismus unserer Gesellschaften inmitten des Netzes internationaler Arbeitsteilung steht, sind die Industrialisierung von Rohstoffen oder die Wissensökonomie Beteiligte an der gleichen weltweiten kapitalistischen Arbeitsteilung. Weder der Extraktivismus noch der Nicht-Extraktivismus sind Lösungen für diese globale Vorherrschaft. Und in der Tat ist es vorstellbar, dass es im zukünftigen Aufbau einer gemeinschaftlichen Produktionsweise, wo die Gesamtheit des gemeinsamen materiellen oder immateriellen Reichtums von den Produzenten selbst produziert und verwaltet wird, einige extraktivistische Länder und Regionen geben wird.

Deshalb ist es naiv zu glauben, der Extraktivismus, der Nicht-Extraktivismus oder der Industrialismus seien ein Allheilmittel gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Ungleichheit, denn an sich sind sie weder Produktionsweisen noch Arten der Verwaltung von Reichtum. Sie sind technische Systeme der Verarbeitung von Natur und können in präkapitalisitschen, kapitalistischen oder kommunitären Gesellschaften existieren. Einzig und allein abhängig davon, wie diese technischen Systeme genutzt werden, wie der so produzierte Reichtum verwaltet wird, kann es Wirtschaftssysteme mit mehr oder weniger Gerechtigkeit, mit oder ohne Arbeiterausbeutung geben.

Die Kritiker des Extraktivismus verwechseln technisches System und Produktionsweise und auf der Grundlage dieser Verwechslung verbinden sie Extraktivismus mit Kapitalismus, wobei sie vergessen, dass es nicht-extraktivistische Gesellschaften gibt, die Industriegesellschaften nämlich, die absolut kapitalistisch sind!

Es kann kapitalistische, nicht-kapitalistische, präkapitalistsche oder postkapitalistische extraktivistische Gesellschaften geben. Und genauso kann es kapitalistische, nicht-kapitalistische, oder postkapitalistische nicht-extraktivistische Gesellschaften geben. Extraktivismus ist kein Ziel an sich, aber er kann der Ausgangspunkt für seine eigene Überwindung sein. Sicher verdichtet sich in ihm die gesamte territoriale Aufteilung der weltweiten Arbeitsteilung – eine oftmals koloniale Aufteilung. Und um diese koloniale Unterordnung zu durchbrechen reicht es eben nicht aus, den Extraktivismus vollmundig zu beschimpfen, aufzuhören zu produzieren und das Volk ins größte Elend zu stürzen, damit danach die Rechten an die Macht kommen und ohne am Extraktivismus etwas zu verändern, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung teilweise befriedigt. Das ist genau die Falle, in die gedankenlose Kritiker, die den Nicht-Extraktivismus befürworten, tappen. Mit ihrer politischen Liturgie entziehen sie den revolutionären Kräften und Regierungen ihre materiellen Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung, zur Schaffung von Reichtum und seiner gerechter Verteilung, auf dessen Grundlage sie eine neue, nicht-extraktivistische materielle Basis schaffen könnten, die der arbeitenden Bevölkerung gleich viel und mehr Nutzen bringen würde.

Wie jede Emanzipation muss die Emanzipation vom Extraktivismus genau von ihm ausgehen, davon, was er als technische Form aus der Gesellschaft gemacht hat. Aktuell ist er für uns als Land das einzige uns zur Verfügung stehende technische Mittel, um den dank ihm geschaffenen materiellen Reichtum zu verteilen (aber auf eine andere Weise als zuvor). Darüber hinaus ermöglicht er uns die materiellen, technischen und kognitiven Voraussetzungen, um seine technische und produktive Grundlage zu transformieren. Womit sollen wir sonst den Extraktivismus überwinden? Indem wir aufhören zu produzieren, die Zinnminen und Gasförderschächte schließen und damit bei der Erfüllung grundlegender materieller Existenzbedürfnisse Rückschritte machen, wie es die Kritiker vorschlagen? Führt dieser Weg nicht eher zur Zunahme der Armut und damit direkt zur Rückkehr der Neoliberalen? Ist es nicht vielleicht genau das, was sich die konservativen Kräfte wünschen: dem revolutionären Prozess um des Nicht-Extraktivismus willen die Hände zu binden und ihn zu ersticken?

Indem wir den Extraktivismus überwinden, überwinden wir nicht automatisch den Kapitalismus. Schön wär‘s, wenn es so einfach wäre. Wenn dem so wäre – wie einige unserer Kritiker in ihrer kindlichen Naivität glauben – wären die USA das kommunistischste Land der Welt. Aber aufgepasst: Das bedeutet nicht, dass die Überwindung des Extraktivismus nicht für die laufenden revolutionären Prozesse hilfreich sein kann. Es kann ihnen in erster Linie deshalb helfen, weil die Phasen der Industrialisierung oder Wissensproduktion es ermöglichen, einen wirtschaftlichen Überschuss zu erzeugen, der zur Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft umverteilt werden kann. An zweiter Stelle, weil er helfen kann, die Umweltschädigung zu vermindern, und an dritter Stelle, weil er die Gesellschaft zu größerem technisch-produktiven Vermögen befähigt, um die globalen Produktionsprozesse zu kontrollieren.

In jedem Fall aber verurteilt uns der Extraktivismus weder zum Kapitalismus noch wird uns der Nicht-Extraktivismus direkt zum Sozialismus führen. Alles hängt ab von der politischen Macht, der sozialen Mobilisierung, die die – extraktivistischen oder nicht-extraktivistischen – Produktionsprozesse auf den richtigen Weg hin zu wachsender Vergemeinschaftung ihrer operativen Kontrolle und der gesellschaftlichen Verteilung des erzeugten Reichtums bringen kann.

Und ist es bei dieser Aufgabe in einer ersten Phase etwa nicht möglich, die Mittel, die der vom Staat kontrollierte Rohstoffexport einbringt, zu nutzen, um Mindestlebensstandards der Bolivianer und eine interkulturelle, wissenschaftliche Bildung zu garantieren, die eine kritische intellektuelle Masse schafft, welche die entstehenden Prozesse der Industrialisierung und der Wissenswirtschaft leiten kann? Klopft etwa der Sozialismus an die Tür, sobald wir aufhören Rohstoffe zu fördern? Werden bei abrupter Beendigung des "Extraktivismus" die materiellen und intellektuellen Mittel zur Verfügung stehen, um unmittelbar in die industriellen und kognitiven Phasen der Produktion überzugehen? Ist es nicht eher so, dass wenn man unkritisch den sogenannten Extraktivismus verurteilt, man eigentlich versucht, den Plurinationalen Staat Bolivien wirtschaftlich zu entwaffnen und zu verarmen, damit er der Ausweitung sozialer Rechte, die mit dem revolutionären Prozess seit dem Jahr 2000 begonnen hat, nicht mehr gerecht werden kann?

Die Phase, einfach Rohstofflieferanten zu sein, muss überwunden werden, das ist klar. Aber das schafft man nicht, wenn man Bolivien in das staatliche Bettlertum zurückführt, das bis 2005 bestand, als der erzeugte Reichtum in die Taschen ausländischer Unternehmer ging. Das schafft man nicht, wenn man den produktiven Apparat lähmt, den Überschuss, der aus den Rohstoffen kommt, beschränkt und zu einer Subsistenzwirtschaft zurückkehrt; dies würde uns nicht nur wehrloser machen als zuvor, da wir damit auf jegliche Form der Souveränität (deren materielle Grundlage darin besteht, dass ein Land von seiner Arbeit leben und essen kann) verzichten, sondern außerdem Tür und Tor für restaurative neoliberale Kräfte öffnen, die sich dann als diejenigen darstellen können, die es schaffen, die grundlegende materielle Nachfrage der Bevölkerung zu befriedigen.

Hinter der jüngsten Extraktivismuskritik an revolutionären und progressiven Regierungen steht also der Schatten der konservativen Restauration. Demgegenüber und zur Vertiefung der sozialen Mobilisierung und der allmählichen Überwindung des Extraktivismus denken wir, dass zuallererst die dringenden Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllt werden müssen, die sozialen Leistungen, die für die arbeitenden Klassen unabdingbar sind, erhöht werden müssen, und dass von da aus die kulturellen, materiellen und Bildungsbedingungen geschaffen werden müssen, auch über den Staat hinaus die Kontrolle des gemeinsamen Reichtums zu demokratisieren und das Eigentum und die gesellschaftliche Produktion selbst (auch über den Staat hinaus) zu vergemeinschaften. Inmitten dieses Prozesses muss gleichzeitig ein neuer technologischer Pfeiler der Produktion von Reichtum errichtet werden, der zur Überwindung des Extraktivismus führen wird.

Und genau das tun wir als Regierung: Reichtum erzeugen und ihn unter der Bevölkerung umverteilen, die Armut und die extreme Armut reduzieren, die Bildungsbedingungen der Bevölkerung verbessern. Und parallel treiben wir die Industrialisierung voran. (...)

Das Ziel, das der Präsident allen Bolivianern vorgeschlagen hat, ist, dass noch vor dem 200. Unabhängigkeitsjubiläum (das heißt 2025) keine Rohstoffe des Landes mehr verkauft werden sollen, ohne zuvor industriell verarbeitet worden zu sein, also ohne dass Wertschöpfung stattgefunden hat. Das wird eine tief gehende wissenschaftlich-technologische Transformation des Landes und eine nie da gewesene Investition in Wissen erfordern. Und selbstverständlich werden wir das tun.

Offensichtlich ist das kein einfacher Prozess; er wird Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern. Wichtig ist, den Sinn der Produktion neu auszurichten, ohne zu vergessen, dass wir heute auch die dringenden Grundbedürfnisse befriedigen müssen, die genau das waren, was die Bevölkerung zum Aufbau staatlicher Macht veranlasst hat. Genau das tun wir in Bolivien.

  • 1. Karl Marx, Das Kapital, erstes Buch, Der Produktionsprozess des Kapitals
  • 2. Karl Marx, “Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen”, in : Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1857–1858
  • 3. John V. Murra, El Mundo Andino. Población, Medio Ambiente y Economía, IEP, Perú, 2004
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  • 5. Álvaro García Linera, Forma Valor y Forma Comunidad, aproximación teórico-abstracta a los fundamentos civilizatorios que preceden al ayllu universal, Clacso/Comuna, La Paz, 2009
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  • 7. Hans Horkheimer, Alimentación y obtención de alimentos en los Andes Prehispánicos,Hisbol, La Paz, 1990
  • 8. Lenin, XI Congreso del Partido Comunista (bolchevique) de Rusia, 27 de marzo-2 de abril de 1922, en Obras Completas Tomo 36, Ediciones Salvador Allende, México
  • 9. Etienne Balivar, Sobre la Dictadura del Proletariado, Siglo XXI, México 1977
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  • 11. Marx, Das Kapital, op.cit