Nicaragua / Politik

Die schwierige Darstellung der Ereignisse in Nicaragua

Viele Berichte über die Situation in Nicaragua erfassen die Komplexität der Krise nicht

proteste_nicaragua_gegen_ortega.jpg

Junge Demonstranten gegen die Regierung von Nicaragua (Juli 2018)
Junge Demonstranten gegen die Regierung von Nicaragua (Juli 2018)

Aktuelle Nachrichten über die Krise in Nicaragua haben die Tendenz, eine komplexe Realität vereinfacht darzustellen. Die übliche Berichterstattung gibt die Schuld am Konflikt Nicaraguas Präsident Daniel Ortega und präsentiert einen politisch eingeengten und historisch oberflächlichen Hintergrund. Die daraus implizit oder sogar explizit resultierende Botschaft ‒ Ortega sei der Übeltäter und seine Entfernung aus dem Amt würde den Konflikt beenden oder die der Krise zugrundeliegenden Probleme lösen ‒ ist verzerrt und irreführend. Diese Rhetorik, noch gefördert von Strafmaßnahmen der Regierung von Donald Trump und des US-Kongresses, zielt auf Ortega und ganz Nicaragua als angeblich brutaler Diktatur und Katastrophe für die Menschenrechte. Zugleich applaudiert Washington der Regierung von Nicaraguas Nachbar, Honduras, wo es tatsächlich eine brutale Diktatur und eine Menschenrechtskatastrophe gibt, und bietet moralische und materielle Hilfe an. Anders als Honduras' Präsident Juan Orlando Hernández gilt Ortega nicht als treuer US-Verbündeter und unterliegt also scharfer Überprüfung und Verurteilung.

Diese scheinheilige Doppelmoral verdeutlicht die Tatsache, dass Ortega und Nicaragua zusammen mit Kuba und Venezuela über lange Zeit eine weitgehende symbolische Herausforderung für die US-Hegemonie dargestellt haben. Die Verärgerung der US-Regierung gegenüber Nicaragua, Ortega und der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (Frente Sandinista de Liberación Nacional, FSLN) reicht zurück bis zur Revolution, der es 1979 gelang, die 43 Jahre dauernde Diktatur der Somoza-Familie zu stürzen – treuer und korrupter Alliierter Washingtons während vieler aufeinander folgender Regierungen von Demokraten und "Republikanern", von Franklin Roosevelt bis Jimmy Carter. Die gegenwärtige Krise ist nicht einfach die Geschichte einer tapferen Opposition und einem brutalen Ortega. Es handelt sich um einen seit langem schwelenden Konflikt zwischen unterschiedlicher Gruppen in Nicaragua, der über die Jahre sorgfältig mit dem Ziel manipuliert wurde, Nicaragua wieder sicher und fest unter US-Hegemonie zu bekommen.

Wurzeln der Krise

Zwei Vorfälle werden allgemein als Zündfunken der Krise angesehen: Der Umgang der Regierung mit einem verheerenden Waldbrand im Biosphärenreservat Indio Maíz und die von der Regierung vorgeschlagene Reform der Sozialversicherung. Bei beiden Gelegenheiten gehörten Studenten unterschiedlicher Universitäten Nicaraguas zu den ersten und führenden Demonstranten, die auf die Straße gingen.

Die Regierung Ortega wurde wegen ihres Versagens kritisiert, dem Feuer im Indio-Maíz wirksam zu begegnen und diesen wichtigen biologischen Reichtum zu schützen, obgleich erhebliche Ressourcen einschließlich Armeeeinheiten, Hubschraubern und sonstigem Personal und Ausrüstung zum Schutz des Reservats und zur Bekämpfung des Feuers eingesetzt waren. Die Kritik überging auch die Tatsache, dass Viehzüchter in der Gegend schon seit einiger Zeit ihre Gebiete in Teile der Schutzzone ausdehnen wollten, und das trotz Warnung der Regierung, dieses Gebiet sei wegen Brandgefahr für Viehzucht ungeeignet.

Wenige Tage später richteten sich die Proteste gegen die Reform der Sozialversicherung. Abweichend vom bisherigen erfolgreichen Konsens-Modells der Regierung bei der Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft hatte Ortega einen vom IWF, dem Obersten Rat der Privatunternehmer (Consejo Superior de la Empresa Privada, Cosep)) und weiteren Teilen der nicaraguanischen Geschäftswelt favorisierten Plan zurückgewiesen, mit dem es größere Einschnitte in die soziale Sicherheit gegeben hätte, einschließlich einer Erhöhung des Rentenalters.

Ortega entschied sich stattdessen für mildere Reformen, die von verschiedenen Gruppen jedoch zurückgewiesen wurden – von Cosep, der einflussreichsten Businesslobby des Landes auf der Rechten, bis hin zu Austeritätskritikern auf der Linken. Vielleicht um beide Seiten zu beschwichtigen, nahm Ortega die Reform zurück, die Demonstrationen hatten sich aber schon auf die Repression durch die Regierung und nach den ersten Todesfällen am 19. April – zwei Zivilisten und ein Polizeioffizier – auf Forderungen nach Ortegas Rücktritt umorientiert.

Die Medien beschrieben die ersten studentisch angeführten Demonstrationen als Spontanakte aus Empörung über das Vorgehen der Ortega-Regierung. Für viele Studenten mag das zutreffen, im Zentrum der Proteste gibt es jedoch auch organisierte Gruppen, die seit Jahren von Behörden der US-Regierung angeleitet und bezahlt worden sind. Es gibt eine ganze Reihe von Verbindungen. Die Bürgerbewegung der Jugend (Movimiento Cívico de Juventudes, MCJ), die seit Jahren in Nicaragua aktiv ist, beschreibt sich selbst als Organisation, die der Förderung zivilgesellschaftlicher Verantwortung gewidmet ist, der Erziehung für und Förderung von demokratischen Einrichtungen unter Studenten und Jugendlichen.

Ob diese Demokratieförderung wirklich nur ein weit gefasstes und löbliches Prinzip ist, oder im Kontext Nicaraguas vielleicht auch eine codierte Kritik an Ortega und dessen Sandinistischer Regierung oder sogar ein Aufruf zum "Regime change" ist, das bleibt offen für Interpretationen. Die MJC ist vom National Democratic Institute (NDI) geschaffen und finanziert worden.

Der NDI selbst ist ein Zweig der vorwiegend vom US-Kongress finanzierten "National Endowment for Democracy"(NED), die eine lange Geschichte mit dem US-Auslandsgeheimdienst CIA aufweist. Eines ihrer ersten Arbeitsfelder war der Contra-Krieg in den 1980er-Jahren, als die NED mehrere Millionen US-Dollar an anti-sandinistische Oppositionsgruppen gab. Nach neueren Berichten gab NED zwischen 2014 und 2017 rund 4,1 Millionen Dollar zur "Förderung von Pro-Demokratie Aktivitäten" an nicaraguanische Oppositionsgruppen .

Die Geschichte des US-Interventionismus in Lateinamerika weckt Skepsis darüber, welche Art von "Demokratie" die NED in der Region anregt, nachdem die CIA dazu beigetragen hat, Unfrieden zu stiften, um gewählte Staatsführer abzusetzen, wie in Guatemala 1954, in Guyana 1964, in Chile 1973, in Jamaika Ende der 1970er Jahre und viele Fälle mehr. Und mit einer Geschichte wie der Iran-Contra Affäre geben nun die NED-Aktivitäten unter Studenten und anderen in Nicaragua - und in der ganzen Region - weiteren Anlass zur Skepsis.

Ortegas Regierung beschuldigt ausländische Scharfmacher einschließlich der Washingtoner "Neocons", sie zielten darauf ab, seine Regierung zu destabilisieren. Solche Verdächtigungen werden durch die Vorgänge rund um die Treffen zwischen Oppositionellen und Drahtziehern in Washington im Juni gestärkt. Oppositionsführer Felix Maradiaga, Direktor des NED-finanzierten Institus für Strategische Studien und Öffentliche Politiken (Institute for Strategic Studies and Public Policies, IEEPP), ging mit führenden Anti-Regierungs-Studenten nach Washington, um bei einem Treffen mit Offiziellen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die Repression der Regierung anzuklagen. Maradiaga und die Studenten trafen sich außerdem mit den Senatoren Ted Cruz und Marco Rubio (Republikaner) und der Vertreterin der Republikaner, Ileana Ros-Lehtinen, Autorin einer Gesetzesvorlage im US-Kongress zur Sanktionierung der Ortega-Regierung wie auch eines Briefes an das Außenministerium mit der Aufforderung, gegen Nicaraguas Polizeichef zu ermitteln.

Die Frage nach dem studentischen Anteil am Konflikt ist komplex. Die USA und die Rechte Nicaraguas sind sicherlich nicht der einzige Einfluss auf die Jugend des Landes. Die Sandinisten haben eine lange und wirkungsvolle Geschichte bei der Ausbildung und Förderung von jugendlicher Mobilisierung und Widerstand. Dies war ein entscheidender Teil des gegen die Somoza-Diktatur aufgebauten Widerstandes in den 1960er und 70er-Jahren und setzte sich bei der Verteidigung gegen die Contras in den 80ern fort. Wie ein alter nicaraguanischer Revolutionär mich neulich erinnerte: "Wir bildeten sie aus, Widerstand zu leisten und ihre Rechte zu verteidigen und jetzt tun sie es. Nicht alles davon ist ausschließlich von außen angestiftet, obwohl dieses Element sicherlich vorhanden ist. Was haben wir denn erwartet?"

Tote, Gewalt und Chaos

Für viele Nicaraguaner und Ausländer ist die offensichtliche Brutalität des Durchgreifens der Regierung in den ersten Tagen der Proteste schwer zu verstehen, dazu die getöteten Demonstranten schon bevor die Proteste gewalttätig wurden. In Nicaragua hört man sowohl von Sympathisanten der Regierung als auch von Gegnern, dass diese gewaltsame Repression und Ortegas folgendes Versäumnis, Bedauern zu zeigen, die fehlende Anordnung einer Untersuchung und kein Versprechen, dass derartiges sich nicht wiederholen würde, schwerwiegende Fehler waren, die die Opposition in der Bevölkerung stärkten und die verhaltene Zustimmung, oder zumindest Akzeptanz untergruben, die er bei vielen Nicaraguanern noch hatte. Für seine entschlossensten Gegner war es nun sehr einfach, sich diese "Fehler" zunutze zu machen und die oppositionelle Gewalt als Selbstschutz gegen eine brutale Diktatur zu rechtfertigen.

Was halbwegs friedlich begonnen hatte wurde rasch mit hunderten von Toten gewalttätig und chaotisch. Oppositionsgruppen beschuldigten bald die Polizei, ausgebildete Scharfschützen einzusetzen, um Anführer der Proteste bei Straßendemonstrationen zu töten. Die Polizei ihrerseits beschuldigte die Opposition, Scharfschützen einzusetzen, um weitere Todesfälle und noch mehr Gewalt zu schaffen, die dann der Polizei angelastet werden können. Obwohl die Anti-Regierungsdemonstranten in vielen Medien oft als friedliche Protestierende dargestellt wurden, gab es auch bald Berichte, dass die Anti-Regierungsgruppen nicht nur selbstgebaute Mörser und Molotowcocktails benutzten, sondern auch Schusswaffen, einschließlich automatische Gewehre. Der Einsatz solcher Waffen wurde manchmal als Versuch angegriffener Studenten bezeichnet, sich selbst vor Polizei, Soldaten und sandinistischen Schlägern zu schützen. Die meisten Mainstreammedien gingen der Frage nicht nach, ob es bei den Protesten vielleicht auch weniger saubere und friedliche Absichten geben könnte und berichteten auch nicht über die wachsende Zahl von Angriffen auf öffentliche und Regierungsgebäude und Büros der sandinistischen Partei.

Oppositionsgruppen fingen an, auf Hauptverkehrsstraßen und in Wohnvierteln Barrikaden zu errichten. Die Gruppen, die die Barrikaden bauten und schützten, waren sehr unterschiedlich und ihre Mitglieder hatten nicht alle die gleichen Ziele. Es gab Barrikaden mit halbwegs friedlichen Protesten gegen die Regierung, andere wurden von Leuten aus den Nachbarschaften aufgebaut, um gewalttätig protestierende Regierungsgegner fernzuhalten, so die Aussagen von Freunden und Kontaktpersonen unterschiedlicher Richtungen, die ich Anfang September in Nicaragua befragte. Viele Barrikaden wurden von Leuten kontrolliert, die bereit waren, sie mit Gewalt gegen die unvermeidlichen Bemühungen der Polizei zu verteidigen. Nicaraguaner und lang dort lebende US-Amerikaner begannen zu berichteten, dass bewaffnete kriminelle Gangs viele Barrikaden kontrollieren und auch die Gewalt bei den Straßendemonstrationen provozieren.

Es gab Berichte, dass kriminelle Gangs aus El Salvador in einige der gewalttätigen Anti-Regierungsproteste involviert waren. Die Polizei (etwa in der Ausgabe der konservativen Tageszeitung La Prensa vom 5. Juni ) und immer mehr Augenzeugen aus Nicaragua bestätigen, dass einige der führenden Gewalttäter Gang-Mitglieder aus El Salvador seien, die nach Nicaragua kamen, um sich unter dem Deckmantel von Volksprotest unter die Demonstranten gegen die Regierung zu mischen und Chaos und Gewalt zu schüren. Da Nicaragua unter Ortega und den Sandinisten bisher einer der wenigen Orte der Region gewesen ist, der kein wichtiger Transportweg für Drogenschmuggel und Gang-Aktivitäten ist, wäre ein einleuchtendes Motiv für die Einmischung der Banden die Öffnung Nicaraguas durch die Ausschaltung von Ortega genau für diese Aktivitäten.

Der Einsatz krimineller Banden zur Förderung von Chaos und allgemeiner Unsicherheit mit dem Ziel, Regierungen zu stürzen, ist eine Taktik, die in anderen lateinamerikanischen Ländern dokumentiert worden ist. Während des Contra-Krieges in Nicaragua in den 1980ern fanden US-Stellen klandestine Wege zur Bewaffnung der Contras durch den Waffen-für-Drogen-Handel mit bekannten Drogenbaronen in Honduras, die Verbindungen zu Contra-Camps und sichere Zufluchtsorte in diesem Land hatten. (Dies war Thema eines US-Nachrichten-Exposé und später eines Hollywoodfilms). Über Jahrzehnte nutzten die USA kriminelle Netzwerke für die schmutzige Arbeit beim "Regime Change", in Nicaragua und anderswo in Lateinamerika. Man könnte zu Recht fragen, ob diese Taktik in Nicaragua wieder am Werk sein könnte.

Die Grenzen des Berichts von Amnesty International

Mehrere internationale Organisationen haben Stellungnahmen oder Berichte über die aktuelle Situation in Nicaragua abgegeben, manche ohne den größeren Kontext zu berücksichtigen. Ein bekanntes Beispiel ist der Bericht von Amnesty International, "Nicaragua: Schießen um zu töten – Nicaraguas Strategie zur Unterdrückung des Protests" (Nicaragua: Shoot to Kill: Nicaragua’s Strategy to Repress Protest), der im Mai veröffentlicht wurde und auf einem Kurzbesuch eines Amnesty-Teams Ende April in Nicaragua basiert. Der Bericht erwähnt weder die Präsenz und Interessen krimineller Akteure, die freie Hand in Nicaragua wollen, noch den möglichen Einsatz solcher Gruppen bei den Bemühungen der USA um einen "Regime Change" in Nicaragua und anderswo. Auch fehlt jeglicher Versuch, mutmaßliche Vorfälle von Gewalt bei den Protesten gegen die Regierung zu untersuchen oder zu überprüfen. Der Bericht erwähnt auch nicht die lange und anhaltende Geschichte der Bemühungen der USA, das politische Leben in Nicaragua zu kontrollieren und Ortega und die Sandinisten aus dem Regierungsamt zu bringen.

Zwar bringt der Amnesty-Bericht eine detaillierte Beschreibung der forensischen Befunde zu den bei den Straßenprotesten getöteten Opfern und die mögliche Anwesenheit von Scharfschützen, interpretiert diese Befunde jedoch als Beweis, dass die Mörder und die Scharfschützen Polizisten waren. Aber Andere in Nicaragua haben sehr unterschiedliche Interpretationen der forensischen Ergebnisse vorgelegt, welche die Interpretation von Amnesty in Zweifel ziehen, zumindest in einigen Fällen. Diese und andere Begrenzungen bedeuten, dass der Bericht von Amnesty und ähnliche andere, trotz ihres hohen Stellenwerts im Detail, nur als eine von mehreren möglichen Versionen der jüngsten Ereignisse in Nicaragua genommen werden sollten.

Ortega und die Sandinisten verstehen

Die von den Sandinisten geführte revolutionäre Regierung der 1980er Jahre war alles andere als perfekt. Doch unternahm die FSLN während ihrer Amtszeit in den 1980er Jahren besonders auf regionaler und lokaler Ebene Anstrengungen, um die Korruption einzudämmen und Verbrechen ihrer eigenen Mitglieder zu bestrafen. Und sie bewahrte ein relativ hohes Maß an Freiheiten trotz des Krieges und stark eingeschränkter Ressourcen. Viele von uns, die in den 1980er Jahren in Nicaragua lebten, wussten das.

Während von 1990 bis 2006 konservative, von den USA unterstützte Regierungen an der Macht waren, zeigte Daniel Ortega sich als pragmatischer Anführer der sandinistischen Opposition. Er machte Zugeständnisse an die 1990 gewählte Regierung von Violeta Chamorro, die dabei halfen, den Übergang von den Jahren der Revolution und des Contra-Krieges hin zu mehr politischer und sozialer Stabilität zu erleichtern. Aber was manche als Pragmatismus betrachteten, stellten andere als persönliches Machtstreben und Aufgabe einiger der Prinzipien der Revolution in Frage.

Seit Ortegas Rückkehr an die Macht im Jahr 2007 bewegte sich sein Bild in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen realistischem Pragmatiker bis hin zum Diktator und korrupten Verräter des Sandinismus und der Revolution. Seine Zugeständnisse und Abmachungen mit den Unternehmern sowie einigen konservativen Gruppierungen und Politikern haben zu weiteren Bedenken geführt. Anschuldigungen, Ortega habe seine minderjährige Stieftochter wiederholt sexuell missbraucht, haben sein persönliches Ansehen stark beschädigt. Während er an der Macht blieb, gelang es ihm, die Kontrolle oder zumindest den Einfluss über die wichtigsten Hebel der politischen Macht im Land zu erreichen.

Er stellte sicher, dass seine Frau und politische Partnerin, Rosario Murillo, Vizepräsidentin wurde, was die politischen Spannungen erhöhte. Die Sandinisten wurden beschuldigt, Jugendgruppen zu benutzen, um Einschüchterung und Drohungen gegen Regierungsgegner auszuüben, sowohl in den vergangenen zehn Jahren als auch in der jetzigen Situation.

Ortegas erfolgreicher Versuch, die Verfassung zu ändern, um seine Wiederwahl im Jahr 2016 zu ermöglichen, wurde von vielen als illegale Machtergreifung gesehen. Die US-Regierung und Mitglieder des Kongresses der USA waren unter den lautesten Stimmen bei der Verurteilung – jedoch voll des Lobes und Unterstützung für den honduranischen Präsidenten Hernández, als er ein Jahr später dasselbe tat, aber sehr viel brutaler.

Aber wie andere Beobachter anmerken, gab es unter Ortega und der "neuen" sandinistischen Regierung soziale und wirtschaftliche Fortschritte – einschließlich Verbesserungen der ländlichen Infrastruktur, Abschaffung des kostspieligen Schulgeldes, verbesserte staatliche Gesundheitsversorgung und Verringerung der Armut – die etwas von der anhaltenden Popularität der Regierung erklären könnten.

Nicaragua ist sogar als eines der Länder anerkannt worden, das die größten Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter erzielt und seine Energieabhängigkeit von fossilen Brennstoffen stark reduziert hat. Die Regierung hat kostenloses Internet in öffentlichen Parks zugänglich gemacht.

Die Nationale Polizei verfolgt den Ansatz einer Arbeit in den Gemeinden zur Bekämpfung von Bandengewalt und Kriminalität, der international als besonders visionär und erfolgreich anerkannt wurde. Ortega erreichte Vereinbarungen mit den Drogenhändlern, die sich in weiten Teilen des restlichen Mittelamerikas immer mehr verbreiteten – was die Drogenhändler in Schach hielt und die Drogengewalt in Nicaragua weit unter das Niveau seiner mittelamerikanischen Nachbarn verringerte. Während Honduras und El Salvador unter Mordraten von 40 bis 105 pro 100.000 Einwohner litten, bewegte sich die Rate Nicaraguas meist zwischen sieben und 15 pro 100.000 Einwohner.

Während die Anzahl der Menschen, die aus Honduras und El Salvador flohen, um in den USA Asyl zu suchen, in den vergangenen Jahren dramatisch angestiegen ist, haben es scheinbar nur wenige für nötig erachtet, aus Nicaragua zu flüchten – zumindest bis jetzt.

Einige Monate vor Beginn der gegen die Regierung gerichteten Proteste im April zeigten einige Umfragen eine Zustimmungsrate für Ortega von fast 80 Prozent. Auch wenn das übertrieben war, war klar, dass er immer noch viel Unterstützung hatte. Bauern-, Arbeiter-, Indigene und andere Volksorganisationen haben auch aktuelle Stellungnahmen abgegeben, die die Regierung unterstützen und einen "Regime Change" zurückweisen. Der Vorstellung, dass die große Mehrheit der nicaraguanischen Bevölkerung gegen Ortega ist und ihn loswerden will, sollte mit einiger Skepsis aufgenommen werden.

Einige der positiven Leistungen Ortegas und der sandinistischen Regierung seit 2006 wurden zum Teil mit Unterstützung Venezuelas finanziert, nachdem Ortega Nicaragua in Venezuelas Petrocaribe-Programm integrierte, was dem Land den Zugang zu Öl zu günstigen Konditionen ermöglichte; und Nicaragua wurde Teil der Bolivarischen Allianz (Alba), dem als Alternative zur von den USA vorgeschlagenen Gesamtamerikanischen Freihandelszone geschaffenen Wirtschaftsbündnis. Zusammen mit Ortegas Freundschaft mit dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez verstärkte dies die seit langem bestehende Abneigung Washingtons gegenüber dem nicaraguanischen Präsidenten.

Der ökonomische Kollaps und die politischen und sozialen Turbulenzen, die Venezuela seit einigen Jahren heimsuchen, haben Nicaragua mindestens zweifach betroffen. Erstens ist die wirtschaftliche Hilfe für Projekte zurückgegangen, die die Lebensbedingungen für viele verbessert haben, eine Quelle politischer Protektion für Ortega boten und die Unterstützung für die Sandinisten stärkten. Zweitens wurde der Kollaps der venezolanischen Wirtschaft zwar oft vor allem den Entscheidungen und Praktiken der Wirtschaftspolitik von Maduros Regierung zugeschrieben, er ist aber auch eine Warnung davor, was einer Regierung passiert, die Washington als Feind einstuft. Diese Geschichte kann für ältere Nicaraguaner keine Überraschung sein. Sind sie – wieder – die nächsten auf der Liste der "Feinde" der USA?

Das Bild von Ortega, das entsteht, ist das eines Anführers, der Geschäfte mit dem Teufel gemacht hat, um Nicaragua vor der Hölle zu bewahren, unter der die Nachbarn des Landes im mittelamerikanischen nörtlichen Dreieck leiden – Guatemala, El Salvador und Honduras. Ortega hat dies versucht, weil die USA weiterhin gegen seine Regierung konspirierten. Dabei hat er auch Schritte unternommen, um seinen Machterhalt zu festigen. Trotz der Besessenheit der US-Regierung und der Medien, mit der sie die jüngste Gewalt in Nicaragua erklären, ist Ortega nur ein Teil der Geschichte. Seine Fehler können nicht ignoriert werden, aber diese Fixierung auf den Präsidenten bietet auch eine bequeme Ablenkung von den weniger offensichtlichen Aktionen der US-Regierung in Nicaragua – also von dem Teil der Geschichte, der vielleicht von besonderem Interesse für US-Bürger sein sollte.

Im Visier: Die Wirtschaft

Inmitten dieses komplexen und verwirrenden Konflikts ist eines der wenigen Dinge, in denen die Nicaraguaner sich scheinbar einig sind, dass der Konflikt der Wirtschaft des Landes schwer schadet und zu ökonomischer Unsicherheit und Leid für viele Nicaraguaner führt. Als ich Anfang September durch Nicaragua reiste, habe ich viele Sorgen über den Rückgang des Tourismus seit April gehört. Der Tourismus ist ein wichtiger Faktor der Wirtschaft. Vor allem Leute in den Städten berichten, dass sie oder einige ihrer Nachbarn kürzlich Arbeitsplätze verloren haben – Jobs, die sie seit vielen Jahren hatten. Geschäfte schließen und die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Fast jeder scheint den wirtschaftlichen Druck zu spüren. Ländliche Gemeinden sind immer noch in der Lage, etwas eigenständig zu bleiben und einen Großteil der Lebensmittel für sich und das Land zu produzieren – zum Teil auch dank der Politik der Sandinisten. Aber für die meisten Nicaraguaner steigen die Preise ebenso wie die Arbeitslosigkeit. Nachdem man vielen Nicaraguanern, die über diese Besorgnisse sprachen, zugehört hat, und man die geschlossenen Geschäfte gesehen hat – manche ausgebrannt, geplündert, nicht wieder zu öffnen – wird einem klar, dass die Gewalt der Demonstrationen und der Barrikaden die Wirtschaft der Einzelnen und die des Landes im Visier haben. Wirtschaftliche Kriegsführung (Economic warfare) ist ein weiterer und oftmals nicht berichteter Aspekt des nicaraguanischen Konflikts. Die lange Geschichte ihres Einsatzes zur Bestrafung oder zum Sturz von Regierungen in Lateinamerika ist allgemein bekannt.

Das Panorama verstehen

Das heutige Nicaragua in der Krise ist ein Produkt vieler Jahrzehnte von Diktatur, Revolution, jugendlicher Hoffnung, Konterrevolution, Ermächtigung des Volkes, Kompromissen mit harten Realitäten, Kämpfen für nationale Souveränität und andauernder US-Intervention.

Es ist die Heimat einer Reihe von Meinungen, das auch diejenigen einschließt, die ein Land wollen, das von den wenigen Reichen geführt wird; diejenigen, die ein Land wollen, das vollständig in eine moderne globalisierte Wirtschaft integriert und Teil einer von den USA angeführten Wirtschaftssphäre ist; diejenigen, die die Prinzipien der Selbstbestimmung, Verantwortlichkeit der Gemeinden und popularer Ermächtigung erhalten wollen, welche den revolutionären Sandinismus charakterisierten; diejenigen, die eine offene Arena für kriminelle Geschäfte wollen; und viele, die lediglich wollen, dass sie ein einfaches, würdiges Leben mit ein wenig Sicherheit für sich und ihre Familien führen können. Da sind diejenigen, die eine US-Vorherrschaft begrüßen; solche die Washingtons Hilfe begrüßen – aber nicht ihre Vorherrschaft – durch eine gegenseitig respektvolle Partnerschaft in bestimmen Angelegenheiten; und diejenigen, die aus gutem Grund misstrauisch gegenüber jeder Beziehung zu den USA sind. Und all dies beschreibt immer noch nicht ganz die Breite der Meinungen im nicaraguanischen Volk heute.

Die immer ignorierte Frage über das zweifelhafte Geschäft des "Regime Change" lautet: Was wird folgen?

Der Abgang von Daniel Ortega – den viele Nicaraguaner jetzt fordern und den US-Neocons und mächtige ideologische Interessen in aufeinander folgenden US-Regierungen schon lange gewollt haben – ist wahrscheinlich nicht geeignet, Frieden und Demokratie zu bringen. Das ist kein Argument dafür, dass es Ortega erlaubt sein sollte, im Amt zu bleiben. Dies zu entscheiden steht ausschließlich dem nicaraguanischen Volk zu, nicht den USA oder externen Beobachtern. Aber im Kontext von Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis, die für unterschiedliche Interpretationen offen ist, lohnt es sich zu fragen, wie es einige getan haben, ob das, was in Nicaragua geschieht, eine zweite Revolution oder ein zweiter konterrevolutionärer (Contra-)Krieg ist – oder beides.

24. September 2018

James Phillips aus den USA ist Kulturanthropologe. Seit 1984 hält er sich regelmäßig in Nicaragua auf und lebte dort 1985 – 1987 während des Contra-Krieges. Seine jüngsten Besuchen waren im Januar und September 2018. Er ist Autor zahlreicher Artikel und Buchbeiträge über soziale Veränderungen in Nicaragua