Soziale Exklusion, Armut und Hunger

Für die Presse ist der Hunger keine Meldung wert, außer wenn die FAO und die Oxfam sich ab und zu äußern

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Die Chicago Mercantile Exchange (CME) ist eine der größten Börsen der Welt. Dort werden vor allem Futures und Optionen gehandelt
Die Chicago Mercantile Exchange (CME) ist eine der größten Börsen der Welt. Dort werden vor allem Futures und Optionen gehandelt

Jedes Jahr am 16. Oktober wird der Welternährungstag begangen. An einem so markanten Tag ist es angebracht, dass wir an den jüngsten Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) über den "Zustand der Nahrungsmittelsicherheit und Ernährung der Welt im Jahr 2018" erinnern, der im vergangenen September veröffentlicht wurde. Dieser Bericht sagt aus, dass es 821 Millionen Menschen auf der Welt gibt, die Hunger erleiden (12 Prozent der Weltbevölkerung) und mehr als 150 Millionen Kinder aufgrund von Mangelernährung in ihrer Entwicklung zurückgeblieben sind.

Aus dem Dokument ergeben sich folgende Schlüsse: a) die Zahl der Personen auf der Welt, die hungern hat in den letzten drei Jahren zugenommen, b) das nachhaltige Entwicklungsziel, im Jahr 2030 eine Welt ohne Hunger zu erreichen, rückt immer weiter in die Ferne, und c) in Afrika und Lateinamerika hat der Hunger beträchtlich zugenommen. Die Länder mit dem meisten Hunger auf diesem Subkontinent sind Bolivien 19,8 Prozent, Nicaragua 16,2 Prozent, Guatemala 15,8 Prozent, Venezuela, 11,7 Prozent, und Peru 8,8 Prozent.

Unglücklicherweise leben viele von uns, die wir das Privileg haben, uns gastronomische Köstlichkeiten vorzustellen und zu bewerben ‒ ironischerweise immer weiter verfeinert und kalorienreduziert ‒ als ob der Hunger nicht existiere. Wie kann er existieren, wenn die Medien ein Auge zudrücken? Für die Presse ist der Hunger keine Meldung wert, außer wenn die FAO und die Nichtregierungsorganisation Oxfam International sich ab und zu äußern.

Die FAO erklärt in ihrem Bericht, dass die Gründe für die Zunahme des Hungers auf der Welt sind: zusätzlich zu den Konflikten und ökonomische Krisen die Klimaveränderungen, die Einfluss nehmen auf die Verteilung des Regens und auf die Abfolge der Jahreszeiten in der Landwirtschaft sowie extreme meteorologische Phänomene wie Dürren und Überschwemmungen. Aber sind das wirklich die einzigen Ursachen für die Millionen Menschen auf der Welt, die unter der Geißel des Hungers zu leiden ? Wir werden es später sehen.

Auf der anderen Seite erklären die FAO, der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (FIDA), das Kinderhilfswerk der vereinten Nationen (UNICEF), das Welternährungsprogramm (PMA) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Unterzeichner des Berichts, dass es, "um bis 2030 eine Welt ohne Hunger und Mangelernährung in jedweder Form zu erreichen, unbedingt notwendig ist, die Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz (der Fähigkeit, den Widrigkeiten des Lebens entgegenzutreten) und die Anpassungsfähigkeit der Lebensmittelsysteme und der Existenzgrundlagen der Bevölkerung an Klimavariabilität und meteorologische Extremphänomene zu beschleunigen und zu verstärken". Noch einmal: sind diese Maßnahmen ausreichend, um bis 2030 eine Welt ohne Hunger zu erreichen ?

Und was ist Hunger ?

Es ist ein Wort, das viele Dinge gleichzeitig bedeutet und keines davon ist gut. Es ist auch die Lust, zu einer bestimmten Zeit zu essen. Nach Meinung der FAO ist es Hunger, "wenn eine Person nicht die Anzahl Kalorien bekommt, die sie für ihre physiologischen Bedürfnisse und für ihre physischen und geistigen Aktivitäten benötigt". Das sind Personen, die nicht genug essen für ein erfülltes Leben, für ein Leben in Würde. Diese Geißel verdammt Millionen Menschen dazu, ein ärmliches Leben zu leben, von anderen abzuhängen, krank zu werden und schließlich an Hunger zu sterben.

Das große Paradox ist, dass der Hunger nicht aus einem Mangel an Lebensmitteln auf der Welt resultiert, wie es vielleicht früher einmal gewesen sein kann. Die FAO schätzt, dass weltweit 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel weggeworfen werden, was einem Drittel der für den menschlichen Verzehr erzeugten Menge entspricht. In Geld entspricht das ungefähr 680 Milliarden US-Dollar in den entwickelten Ländern und 310 Milliarden Dollar in den Entwicklungsländern. Derselben Quelle zufolge gehen in Lateinamerika 34 Prozent der verfügbaren Lebensmittel verloren, was etwa 127 Millionen Tonnen im Jahr entspricht.

Folgen des Hungers

Es ist erwiesen, dass der Hunger eine Reihe von Folgen nach sich zieht, viele davon irreparabel. Die Mangelernährung während der ersten Lebensjahre beeinträchtigt die physische und kognitive Entwicklung des Kinds und belastet nicht nur seine Zukunft, sondern auch die seiner Gemeinschaft und seines Landes. Er verringert ihre körperliche Leistungsfähigkeit und verursacht ein starkes Defizit beim Lernen. Diejenigen, die an Unterernährung leiden, werden in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Ernsthafte Nahrungsmittelknappheiten wiederum haben Binnenvertreibungen und Migrationen in andere Länder und Kontinente zur Folge, wie sie von Afrika nach Europa, von Venezuela nach Kolumbien, Peru, Chile u.a. stattfinden.

Der Hunger erlaubt keine Konzentration, erschwert das Behalten von Erlerntem, schwächt das Gedächtnis. Und diese Schwierigkeit beim Lernen wird seine Zukunft belasten und seine Fähigkeit einschränken, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Es ist der perverse Kreislauf der Exklusion, der Armut und des Hungers, der nicht nur die ankettet, die ihn erleiden, sondern auch die nachfolgenden Generationen. Wie Martín Caparrós, der argentinische Journalist und Schriftsteller, 2015 es gut ausdrückte: "Der Hunger ist unmenschlich, weil er dem Menschen das nimmt, was ihn am meisten auszeichnet. Das was ihn wirklich zum Menschen macht. Der Hunger entmenschlicht den Menschen, wenn er ihm, außer seiner Gesundheit, seinem Wachstum, seinem Entwicklungspotential auch seine Träume entreißt."

Ich gestehe, dass als ich das Buch "Der Hunger" von Martín Caparrós (2015) las, ich einen emotionalen Schmerz fühlte, der schwer zu beschreiben ist und ich verstand, dass die Vorstellungskraft das Privileg derjenigen ist, die wir unsere grundlegenden Bedürfnisse gesichert haben und uns ein Minimum an Hoffnung erlauben können, eine Aussicht auf eine Zukunft jenseits der Dichotomie "werde ich essen oder werde ich nicht essen?" Deswegen fühle ich eine Verpflichtung, die Lektüre des Werks von Martín zu empfehlen , denn er benennt und prangert das Versagen der Menschheit in ihrem Kampf gegen den Hunger an.

Die wirklichen Ursachen des Hungers

Erinnern Sie Sich an den Vorabend der Finanzkrise, die am 15. September 2008 ausbrach und zehn Jahre andauern sollte ? In jenen Momenten lief die Maschine der Finanzspekulation auf Hochtouren. Am 6. April dieses schicksalhaften Jahres beispielsweise überschritt am Chicago Mercantile Exchange (CME, der Börse für Rohstoffe und Commodities in Chicago) eine Tonne Weizen den Preis von 400 Dollar. Das war unglaublich, nur fünf Jahre zuvor kostete sie etwa 125 Dollar. Diese Getreide, die mit leichten Fluktuationen über mehr als zwei Jahrzehnte mit konstanten Werten gehandelt worden waren, begannen im Lauf des Jahres 2006 zu steigen.

Im Januar 2007, als der Preis bei 173 Dollar lag, wurde der Anstieg unaufhaltsam; im Juli überschritt der Weizen die 200 Dollar pro Tonne, im Dezember 339 Dollar und im Januar 2008 lag der Preis bei 406 Dollar. Dasselbe geschah mit den anderen Lebensmitteln wie Mais, Soja, etc. Der Weizen entwickelte sich zum zweithäufigsten konsumierten Produkt auf der Welt (nach der Milch und Milcherzeugnissen) und seine Produktion stieg auf 722 Millionen Tonnen pro Jahr (FAO, September 2018). Jedes Jahr wird an der Chicagoer Börse eine Weizenmenge gehandelt, die dem fünfzigfachen der Weltproduktion entspricht.

An der Börse in Chicago wird jedes in den USA, China, Brasilien, Argentinien, der Europäischen Union (die wichtigsten Erzeuger) produzierte Maiskorn gekauft und wieder verkauft, vielmehr, es wird weder gekauft noch verkauft, diese Vorgänge werden nur fünfzigmal simuliert. Wie jemand sagte, die große Erfindung dieser Märkte ist, dass derjenige, der etwas verkaufen will, es nicht physisch besitzen muss: Man verkauft Versprechen, Verabredungen, Unbestimmtheiten, geschrieben auf dem Bildschirm eines Computers.

Und diejenigen, die wissen, wie es geht, machen mit diesen fiktiven Operationen ein Vermögen (das sind die sogenannten Futures, Termingeschäftsverträge, und Optionen auf Lebensmittel oder Rohstoffe). Man kann sagen, der Hunger ist auch Folge der reinen und harten Spekulation, die es in diesen Märkten oder Börsen gibt und die weder Regeln noch Gesetze haben, die sie kontrollieren. Die Funktionäre der FAO wissen ganz genau, dass das so ist.

Es ist bekannt, dass Äthanol (Äthylalkohol, biologischer Brennstoff) auf der Basis verschiedener Ausgangsstoffe produziert werden kann. Die gebräuchlichsten sind Mais und Zuckerrohr. Die USA führen weltweit in der Produktion von Äthanol und sie nehmen gelben Mais. Es folgen Brasilien und Kolumbien, wo Zuckerrohr verwendet wird. Ebenso in Peru. Die USA sind der Hauptproduzent von Mais mit 357 Millionen Tonnen pro Jahr, was 35 Prozent der Weltjahresproduktion ausmacht (1,031 Milliarden Tonnen), Peru 1,54 Millionen Tonnen (Siehe die Vorplanungen des Landwirtschaftsministeriums der USA, 2017). Ein Bundesgesetz des nordamerikanischen Lands verpflichtet dazu, 40 Prozent des erzeugten Mais‘ zur Produktion von Äthanol zu verwenden, um die Tanks der Fahrzeuge zu füllen. Es wird geschätzt, dass in den USA 170 Kilo Mais nötig sind, um den Tank eines Standardfahrzeugs zu füllen und wenn man das mit den Millionen Fahrzeugen multipliziert, die Äthanol verbrauchen, sind die Zahlen astronomisch.

Der Mais ist das andere am meisten nachgefragte Lebensmittel auf der Welt. Ein hungriges Kind in Afrika oder Lateinamerika könnte mit den 170 kg Mais, die eine Maschine "füttern", ganz ruhig ein Jahr überleben. Gegenwärtig wird weniger weißer Mais erzeugt, weil die nordamerikanischen Erzeuger dazu übergegangen sind, mehr gelben Mais zu produzieren, der zum Ausgangsmaterial für Äthanol geworden ist. Dieser Wandel hat eine Preiserhöhung bei Maismehl hervorgerufen, das seinerseits Ausgangsmaterial unter anderem für die Herstellung der populären mexikanischen und guatemaltekischen Tortillas ist, deren Preise ebenfalls in die Höhe geschossen sind. Aber bei diesem Problem bleibt es nicht. Der Anstieg beim Verbrauch von Mais für die Äthanolproduktion hatte auch Auswirkungen auf die Preise von Eiern und dem Fleisch von Hühner, die mit Mais gefüttert werden.

Es ist unbestreitbar. Der Ursprung des Hungers liegt vor allem anderen in der Ungleichheit. Der Hunger ist die brutalste, gewalttätigste und unerträglichste Erscheinungsform der Ungleichheit. 2017 verblieben 82 Prozent des erzeugten Reichtums in den Händen der reichsten einen Prozent, während die ärmsten 50 Prozent der Weltbevölkerung 0 Prozent erzielten. Und wie Oxfam International bekräftigt, sind "die großen Konzerne und die reichsten Personen ein Schlüsselfaktor dieser Krise der Ungleichheit".

Sie benutzen ihre Macht und ihre Lobbies, um sicherzustellen, dass die Politiken der Regierungen ihren Interessen dienen und die Maximierung der Gewinne ihrer Kapitalisten priorisieren, auch wenn das bedeutet, die Umwelt zu kontaminieren, Steuern zu umgehen oder ihren Arbeitern erbärmliche Löhne zu zahlen etc. Dazu muss man noch die unverschämte Spekulation mit den Preisen der Hauptnahrungsmittel auf den Märkten von Chicago, London, Sidney etc. zählen. Auch interne Kriege, internationale geopolitische Konflikte, die klimatische Extremereignisse, provozierte Wirtschaftskrisen wie die von 2008, die Waffenverkäufe an arme Länder in Konflikten, sind mitverantwortlich für den Tod von Millionen Menschen wegen Mangels an Nahrung.

Es besteht kein Zweifel, wir leben in einer Zeit der fehlenden Solidarität, des Individualismus, des "Lass sie machen, lass es passieren, die Welt läuft auch alleine", (Laissez faire et laissez passer), der Habgier nach Geld, die die Essenz des ökonomischen Modells sind, das die Welt heute beherrscht. Dagegen können wir aber ein anderes Wirtschaftsmodell entwickeln, das für alle Menschen funktioniert, nicht nur für eine habgierige Elite und so Schluss machen mit der Ungleichheit und dem Hunger, der die Welt quält.

Papst Franziskus sagte in seiner Rede vor der FAO im Oktober 2017, dass dieses "Mitleid", jenen zu helfen, die aus einer Notlage heraus hungern, nicht genügt. Dass Gerechtigkeit nötig sei, "eine gerechte Sozialordnung", um dazu beizutragen, dass jedes Land die Fähigkeit erlange, seinen Lebensmittelbedarf selbst zu decken, dass es nötig sei, "neue Entwicklungs- und Konsummodelle zu erarbeiten, die die Situation der ärmeren Bevölkerungsteile oder ihre Abhängigkeit von außen nicht verschlimmern". Kurz gesagt, hungrige Menschen nicht in Bettler für die Überreste der Reichen zu verwandeln, sondern helfen, dass sie die Ketten des Hungers und der Armut selbst durchbrechen können.

Es gibt viele Politiker, Unternehmer, Priester, Gewerkschafter etc. die öffentlich ihre Sorge über die Ungleichheit, die Armut und den Hunger erklären. Aber es sind die Handlungen und das Beispiel, die zählen, nicht die Worte. Ich wenigstens glaube und bin überzeugt, dass wir sehr viel mehr tun können, einfach indem wir anfangen, uns in diejenigen hineinzuversetzen, die täglich Exklusion, Armut und Hunger erleiden. Tun wir das, haben wir einen Riesenschritt getan.