Haiti: "Der Widerstand in der Bevölkerung nimmt weiter zu"

Eine Aktivistin aus Uruguay berichtet über die Lage in Haiti und die Entschlossenheit der Bevölkerung, die Regierung Moïse aus dem Amt zu jagen

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Die Demonstranten in Haiti fordern den Rücktritt des Präsidenten und fragen "Wo ist das Geld von Petrocaribe?" (Screenshot)
Die Demonstranten in Haiti fordern den Rücktritt des Präsidenten und fragen "Wo ist das Geld von Petrocaribe?" (Screenshot)

Mario Hernandez von Resumen Latinoamericano sprach am 10. August 2019 mit Mónica Riet von der "Koordination gegen die Besatzungstruppen in Solidarität mit Haiti" aus Uruguay

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Sehr wichtige Nachrichten. Wir waren als "Koordination gegen die Besatzungstruppen in Solidarität mit Haiti" eingeladen, an einem Internationalen Kolloquium zur Bilanz nach 15 Jahren Besatzung durch UN-Truppen eingeladen, das unter anderem den Cholera-Ausbruch und die Verschuldung thematisieren sollte. Es war geplant als eine Instanz zur Lancierung einer großen internationalen Kampagne für Reparationen und Entschädigungen, die gerade vorbereitet werden. Es gab bereits einige positive Urteile vor Gerichten in den USA, die sich gegen die Vereinten Nationen (UNO) und gegen die Staaten richten, die Teil der Minustah (Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti) waren. Diese Reparationen und Entschädigungen sind für die Opfer der Cholera, der Gewalt und der Massaker, die von der Minustah verübt wurden.

Das Kolloquium ist ein sehr wichtiges Treffen, das die Opferverbände und Organisationen aus dem ganzen Land sowie den französischen Wissenschaftler Renault Piarroux zusammenbringen soll, der den Cholera-Ausbruch erforscht hat und die UNO beschuldigt. Außerdem nahm ein Funktionär der Organisation Amerikanischer Staaten und der UNO teil, der Brasilianer Ricardo Seinteinfuss. Wegen der zugespitzten politischen Krise und dem damit verbundenen Streik von unbestimmter Dauer, der das ganze Land lahmlegte, musste die Veranstaltung jedoch verschoben werden.

Das Internationale Kolloquium wurde auf Oktober dieses Jahres verschoben. Als ich ankam, hielt der unbefristete Generalstreik bereits zehn Tage an und blockierte das ganze Land, die Schnellstraßen und Hauptstraßen der Städte waren durch Baumstämme oder Berge von Steinen abgeschnitten, die man aus den Straßen gebrochen hatte, um Fahrbahnen und die Transportverbindung für jegliche Fahrzeuge zu kappen. Ökonomische Aktivitäten waren vollständig ausgesetzt, genauso der Transport, aber es gab jeden Tag zahlreiche Demonstrationen, die den Rücktritt des Präsidenten Jovenel Moïse forderten. Sie verlangten außerdem, dass dieser genau wie seine ganzen Mitarbeiter vor Gericht gestellt wird und die Gelder, die dem Volk gestohlen wurden, zurückgegeben werden.

Seit 2018 arbeitete eine Kommission im Senat akribisch an einer Untersuchung, die aufdecken konnte, dass die Petrocaribe-Fonds in Höhe von rund 3,8 Milliarden US-Dollar, die Venezuela seit der Regierungszeit von Hugo Chávez dem Volk für soziale Zwecke zur Verfügung gestellt hatte, von Präsident Jovenel und anderen Mitgliedern seiner mafiösen Regierung komplett unterschlagen und der Bevölkerung geraubt wurden.

Ein hungerndes Volk, das von Anpassungsmaßnahmen des IWF inmitten einer weltweiten Krise regiert wird, in der ein Land ausgebeutet wird, das sowieso schon extrem ausgebeutet und geplündert worden ist, erträgt eine solche Ohrfeige nicht. Aus diesem Grund haben vor über einem Jahr die Demonstrationen für den Rücktritt von Jovenel mit der zentralen Parole "Wo ist das Geld von Petrocaribe?" begonnen. Ihre Kraft und Beteiligung wuchs noch mit der Repression, die dutzende Tote und Verletzte forderte. Der Hunger und die Reaktionen der Regierung spitzten die Situation weiter zu.

Bei der Repression wurde die staatliche haitianische Polizei von Polizeitruppen der MINUJUSTH (Mission der Vereinten Nationen zur Unterstützung der Justiz in Haiti) unterstützt. Haiti bekommt gerade die Auswirkungen der weltweiten Krise zu spüren, die wir überall erleben. Allerdings ist Haiti ein Land, das noch viel weiter unten steht, verglichen mit den anderen Ländern, auch verglichen mit Argentinien – trotz allem, was die Menschen dort gerade durchmachen, genau wie in Brasilien. Wie unser haitianischer Genosse Henry Boisrolin sagt: "Wir sind nicht am Rande des Abgrunds, wir sind schon ganz unten."

Als am 5. und 6. Juli 2018 die Erhöhung des Benzinpreises bekanntgegeben wurde, kam es zu einer spontanen Massendemonstration, die sich in Richtung eines fünf Sterne Hotels bewegte, in dem Ex-Präsident Martelly nach eigenen Angaben einen Teil der Gelder von Petrocaribe ausgegeben hatte. Sie legten Feuer und setzten erstmals gewaltsame Methoden zur Selbstverteidigung dieser Art ein. Sie zündeten Oberklasse-Limousinen sowie andere Luxus-Objekte oder Orte an, die sie auf ihrem Weg vorfanden.

Es kam zu Repression, doch die Menschenmenge war stärker, die Leute blieben auf der Straße und als noch am selben Tag angekündigt wurde, dass "die Erhöhung des Benzinpreises aufgehoben wurde", sagten sie: "Gut, und jetzt werden wir erst wieder gehen, wenn Jovenel zurückgetreten ist."

Jovenel beschloss, seinen Premierminister zu opfern, blieb jedoch selbst im Amt, auch wenn er sich an keinem Ort mehr öffentlich zeigen kann, ohne angespuckt, beschimpft zu werden oder eine größere Konfrontation zu verursachen.

Inzwischen hat ihm die Bischofskonferenz genau wie die Unternehmerschaft und das gesamte politische Spektrum Haitis die Unterstützung entzogen, da er mehr und mehr genauso und sogar schlimmer handelte wie Martelly ‒ wie ein Gangster in einer Regierung von Gangstern. Er ruft keine Wahlen aus und setzt jede Art von Gewalt gegen die Bevölkerung ein. Er hat das demokratische institutionelle System des ganzen Staates demontiert. Ein Teil des Senats hat bereits sein Mandat niedergelegt, ebenso die Abgeordneten, und die Justiz agiert völlig willkürlich. Menschen werden ohne Gerichtsverfahren festgenommen und ins Gefängnis gesperrt, und die Korruptionsskandale halten nicht einmal einer minimalen Untersuchung stand, sie beschränken sich auch nicht auf Petrocaribe.

Von welcher Bevölkerungszahl sprechen wir hier?

Von einer Bevölkerung von elf Millionen Einwohnern auf einem sehr kleinen Gebiet.

Das heißt, ein Viertel der Bevölkerung beteiligt sich an den Protesten?

Genau. Aber ich habe festgestellt, und das ist das Interessante, dass die übrige Bevölkerung ‒ der Teil, der nicht auf die Straße geht ‒ mit den Demonstranten kollaboriert. Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens, der sich mit Ausnahme der Oligarchie durch das gesamte politische Spektrum zieht, angefangen beim traditionellen Spektrum, den Sozialdemokraten, den verschiedenen politischen und ideologischen Positionen bis hin zu den sozialen Bewegungen und der Bevölkerung jeder sozialen Klasse.

Warum kann sich die Regierung dann überhaupt noch halten?

Im Grunde genommen nur weil das US-Außenministerium sie stützt. Denn die Regierung hat niemanden mehr, der der Stärke der Mobilisierungen und den Forderungen nach Nicht-Einmischung etwas entgegensetzen kann; sie hat niemanden mehr, der die Bevölkerung noch lange an der Nase herumführen kann, denn die Menschen kennen inzwischen alle Tricks und das ganze Elend dieses US-Neokolonialismus. Also greifen sie zu den äußersten Mitteln.

Am 27. Juni 2019, als ich in Haiti war, beschloss der UN-Sicherheitsrat, dass mit dem Auslaufen von MINUJUSTH im September dieses Jahres eine UN-Mission folgen wird, die nur politischen Charakter haben soll. Wie kann das sein, fragt man sich da? Wenn sie die Volksbewegung nicht mehr kontrollieren können, ziehen sie die bewaffneten Truppen der UNO ab?

Doch bald begriffen wir. Seit November 2018 dringen verschiedene paramilitärische Banden in die aufständischen Viertel ein, ausgerüstet von den USA und den Mitgliedern der Regierung Jovenel selbst. Dort verübten sie nach Willkür Massaker, wie das von La Salin, bei dem in der gleichen Nacht zudem systematisch Frauen vergewaltigt wurden. Sie verbreiten Terror. Verschiedene Banden kämpfen um Reviere und verlangen Schutzgeld von den Menschen. Das ist die neue Form der Barbarei, mit der versucht wird, die Solidarität und das Vertrauen unter den Leuten zu zerstören. Sie zwingen bereits Familien und Frauen mit Kindern, ihr Viertel zu verlassen und diese stellen dann irgendwo ein kleines Zelt auf, um dem nicht länger ausgesetzt zu sein.

Im März/April 2019 wurde ein Kommando aus fünf US-Amerikanern, einem Afghanen und einem Haitianer festgenommen. Sie hatten großkalibrige Waffen, Zielfernrohre, modernste Technologien zur Personenerkennung, Pässe etc. bei sich. Dieses Kommando versuchte eines Sonntags nachts, in den Tresorraum der haitianischen Zentralbank einzubrechen und wurde von der haitianischen Polizei festgenommen. Am nächsten Morgen wurden sie von einem ranghohen Mitglied der Justiz freigelassen, der US-Botschafter holte sie ab und setzte sie in ein Flugzeug der American Airlines, das sie in die USA brachte. Dort angekommen verschwanden sie, ohne dass es irgendwelche Konsequenzen gab.

Die ersten in Haiti durchgeführten Untersuchungen ergaben, dass der Haitianer, der im Kommando als Fahrer fungierte, in Verbindung zu Präsident Jovenel stand. Daher identifizieren viele dieses Kommando mit der Präsidentschaft.

Und man hat bereits registriert, dass die Demonstranten für die Regierung gefährlich wurden und wenn man auf sie schoss, würden sie alles in Brand setzen. Daher wurden die jüngsten Demonstrationen nicht mehr so brutal niedergeschlagen. Aber nach Beendigung der Märsche, beim Rückzug, wurde vielen Demonstranten aus großer Distanz eine tödliche Kugel in den Kopf geschossen.

Der Widerstand in der haitianischen Bevölkerung wächst weiter, obwohl geprügelt, ausgehungert und für Momente geschwächt. Er speist sich auch aus seiner Erinnerung mithilfe von Voodoo, ich habe in den Straßen Zeremonien gesehen, die auf den Widerstand ihrer Vorfahren und ihren eigenen Widerstand Bezug nahmen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass sie besiegt wird, selbst wenn es scheint, als wäre sie in einer ausweglosen Situation. Der Imperialismus scheint es auch zu sein.