Die Krise in Haiti erreicht neue Dimensionen

Die geplanten Parlamentswahlen fanden nicht statt. Seit dem Rücktritt Lapins hat Haiti keine Regierung mehr. Der Präsiden herrscht mit US-Hilfe per Dekret

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Die Mehrheit der Haitianer geht im ganzen Land gegen die Regierung und für die Lösung der schweren Krise auf die Straße
Die Mehrheit der Haitianer geht im ganzen Land gegen die Regierung und für die Lösung der schweren Krise auf die Straße

Lautaro Rivara hat diesen Beitrag am 31. Oktober geschrieben

In der siebten Woche der Proteste und hundert Jahre nach der Ermordung von Charlemagne Peralta, dem Helden des Widerstands gegen die US-Invasion von 1915-1934, mobilisiert sich heute die Mehrheit der Haitianer im ganzen Land. In der Hauptstadt Port-au-Prince marschieren viele Leute zur US-amerikanischen Botschaft, um die Kontinuität der Einmischung der USA in die inneren Angelegenheiten der karibischen Nation zu verurteilen. Andererseits wird das Patriotische Forum, ein Organisationsrahmen, in dem mehr als 62 soziale Bewegungen und politische Parteien zusammenkommen, in sieben Großstädten im ganzen Land mobilisieren: Jérémie, Les Cayes, Miragoâne, Jacmel, Port-de-Paix, Hinche und Mirebalais. Die Volksorganisationen fordern zusammen mit anderen Oppositionssektoren den sofortigen Rücktritt von Präsident Jovenel Moïse und die Lösung der endlosen haitianischen Krise, eine Krise, die sich tagtäglich weiter verschärft und neue Dimensionen annimmt.

Die Agrar- und Ernährungskrise

Am 18. Oktober bat die haitianische Regierung die USA in einem von Außenminister Bocchit Edmond unterzeichneten Schreiben um Nahrungsmittelhilfe. An Außenminister Mike Pompeo gerichtet, heißt es in dem Schreiben: "Ich bitte Ihr Land im Namen der Regierung der Republik um dringende Hilfe und entsprechende logistische Unterstützung bei der Verteilung. Diese Hilfe könnte auch Teil des wichtigen Programms 'Food for Peace' sein." In Bezug auf die staatliche Politik in diesem Bereich fügt er hinzu, dass "die geschaffenen Mechanismen, die nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, unglücklicherweise noch nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht haben".

Die Geißel des Hungers in Haiti betrifft laut einem FAO-Bericht 49,3 Prozent der Bevölkerung. Die anhaltende Energiekrise, der Treibstoffmangel, die Lähmung des nationalen Verkehrs und die Schließung der Märkte machen es den Bauern heute unmöglich, ihre landwirtschaftliche Produktion zu ernten und zu vermarkten, die bereits auf den Feldern zu verrotten beginnt. Folglich sieht die Landbevölkerung ihr einziges Subsistenzmittel geschädigt, während gleichzeitig die Lebensmittel in den Großstädten exorbitante Preise erreichen. Schließlich verhindert die fast permanente Blockade ganzer Regionen des Landes und die territoriale Kontrolle krimineller Gruppen die Verteilung von Nahrungsmitteln und Wasser durch internationale Organisationen, die den verletzlichsten Bevölkerungsgruppen Hilfe leisten.

Verschiedene Sektoren des Landes warnen jedoch davor, die Nahrungsmittelkrise als Vorwand für eine "humanitäre Invasion" des Landes zu benutzen, da das logistische Gegenstück der beantragten Hilfe der Einsatz von US-Militärs im gesamten Staatsgebiet wäre. Es sei daran erinnert, dass dies nicht die erste Operation dieser Art wäre, wenn man bedenkt, dass Länder wie die Dominikanische Republik, Kolumbien, Venezuela und Kuba nach dem Erdbeben im Jahr 2010 Rettungskräfte, Ärzte und Ingenieure entsandten, um den Opfern zu helfen, während die USA das Unglück nutzten, um den Internationalen Flughafen zu besetzen und tausende von Elitesoldaten im ganzen Land einzusetzen.

Die politische und institutionelle Krise

Im Oktober dieses Jahres hätten Parlamentswahlen zur Neubesetzung der Senatorenmandate des Landes stattfinden sollen. Die Schwere der Krise, die politische Instabilität und die einmütige Ablehnung eines fehlerhaften, betrügerischen und sowohl technisch wie politisch von den USA und internationalen Organisationen kontrollierten Wahlsystems führten jedoch dazu, dass die Durchführung der Wahlen von der Regierung und den Oppositionskräften nicht einmal in Betracht gezogen wurde. Es sei darauf hingewiesen, dass Haiti seit dem Rücktritt des ehemaligen Premierministers Jean-Michel Lapin keine Regierung mehr hat.

Die Verfassung selbst begründet ein hybrides Regime, das sich aus einem Präsidenten in der Rolle des Staatsoberhauptes und einem Premierminister in der Rolle des Regierungschefs zusammensetzt. Wenn wir dazu noch die Tatsache hinzufügen, dass die Mandate der Senatoren im Januar auslaufen, steht das Land vor einer dramatischen Vertiefung der politischen und institutionellen Dimension der Krise. Da es keine Regierung und keinen offiziellen Haushalt gibt, wird Haiti, ein halb parlamentarisches Land, auch bis Anfang nächsten Jahres kein gewähltes und funktionierendes Parlament haben.

Dies wird de facto noch mehr Ermessensspielraum bei der Entscheidungsfindung ermöglichen, da der Präsident das Land ohne jegliche exekutive oder legislative Kontrolle und Ausgewogenheit per Dekret regieren würde. Die Verzögerungstaktik von Moïse und seinen Verbündeten in den USA besteht darin, den Sturm bis Januar zu überstehen, um die ohnehin schon geringe Legitimität der Gruppe der oppositionellen Senatoren aus dem demokratischen und popularen Sektor zu untergraben.

Sicherheitskrise und psychologischer Krieg

In den letzten Tagen wurde eine Reihe von gut organisierten Operationen der Desinformation und der psychologischen Kriegsführung durchgeführt. Erstens haben diese Manöver immer wieder versucht, den stets dementierten Rücktritt von Präsident Moïse zu suggerieren. Am 29. Oktober bestätigte dieser in einer kurzen Rede, die in seinen sozialen Netzwerken hochgeladen wurde, seinen Verbleib an der Macht und rief erneut zu einem unmöglichen Dialog auf, der von allen Bereichen des nationalen Lebens entschieden abgelehnt wird. In einem seltsam verzerrten Diskurs versuchte der Bananenunternehmer, sein altes Image des "Außenseiters" der traditionellen Politik wiederzubeleben, und begann, das politische und wirtschaftliche System zu kritisieren, dessen höchster Vertreter er doch selbst ist.

Zweitens wurde mit verschiedenen gefälschten Nachrichten und dürftigen Tweets, die den Oppositionsführern, der traditionellen Zeitung Le Nouvelliste und bekannten Journalisten im Land zugeschrieben werden, versucht, das Gerücht zu verbreiten, dass Sektoren der konservativen Opposition, die aus dem demokratischen und popularen Sektor hervorgegangen sind, die Parole ausgegeben hätten, zu den Waffen zu greifen, um den Rücktritt des Präsidenten zu erzwingen. Die Gefahr dieser Versuche, im Trüben zu fischen, besteht darin, die Gewalt auf den Straßen zu schüren, die – weit davon entfernt den Massenmobilisierungen eigen zu sein – von kriminellen Sektoren, die mit der politischen Macht verbunden sind, monopolisiert wird, wie wir an einigen schaurigen Schießereien sehen konnten, die von Bürgern aufgezeichnet und in den letzten Tagen in sozialen Netzwerken hochgeladen wurden.

Die Politik des Medienterrors kann nur für diejenigen von Nutzen sein, die die Bevölkerung einschüchtern wollen, damit sie die Straßen verlässt; oder für diejenigen, die ein Bürgerkriegsszenario erzeugen wollen, das als Vorwand für eine US-Intervention dienen würde, welche dann die Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Teilen der nationalen Bourgeoisie und Oligarchie  schlichtet. Die Anführer der sozialen Bewegungen haben sehr entschieden darauf geachtet, den friedlichen Charakter der Proteste zu gewährleisten, Gewalt, die von außerhalb des Prozesses der Mobilisierung der Bevölkerung ausgeht, abzulehnen und alle Arten von hasserfüllten Aktionen zu verurteilen.