Valparaíso, Chile: Chronik eines aufständischen Oktobers

Basisinitiativen haben ein Netzwerk der Solidarität geknüpft, das mit dem Individualismus und der Apathie gebrochen hat

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Ein Motto der Demonstrationen in Chile: "Man fragt nicht um Erlaubnis, um die Geschichte zu ändern"
Ein Motto der Demonstrationen in Chile: "Man fragt nicht um Erlaubnis, um die Geschichte zu ändern"

Am 18. Oktober haben die Schüler, die in der ACES (Asamblea Coordinadora de Estudiantes Secundarias – Koordinierende Versammlung der Sekundarschüler) zusammengeschlossen sind, mit ihrer direkten Aktion gegen die erneute Erhöhung der Metro-Tarife die Schleusen eines aufständischen Flusses geöffnet. Er wird jeden Tag größer, je mehr sich seine befreiende Sturzflut zu einem Strom voller überfließender Volksenergie verwandelt, den auch die repressive Brutalität nicht aufhalten konnte. Diese Schülerorganisation ist in der Lage gewesen, die nationale Realität sehr genau zu erfassen, sie reflektierte und arbeitete theoretische Ansätze aus, verband sie mit konkreten Aktionen und brachte so Theorie und Praxis zusammen.

In einem öffentlichen Kommuniqué vom 30. Oktober prangerte die ACES die Manöver der institutionellen politischen Klasse und der Eliten an und rief dazu auf, äußerst wachsam zu sein. Denn sie würden alles tun, um die rebellische Volksbewegung zu schwächen und zu betäuben, indem sie versuchen, ihren befreienden Impuls zu stoppen und ihre Partizipation und ihren Protagonismus zu verhindern.

In Punkt 5 dieses Kommuniqués schreiben sie: "Seit sich die Schülerbewegung erhoben hat, haben wir gesehen, dass es nach jeder Mobilisierung Sektoren gibt, die vorgeben, die sozialen Bewegung zu vertreten. Sie haben jedoch die legitimen Forderungen dieser Bewegungen verkauft und paktiert; sie verraten die Bevölkerung – von der Regierung Bachelet bis zur Regierung Piñera."

Wenn wir das oben Gesagte noch um die Verhandlungen ergänzen, die nach dem Sieg des Nein in der Volksabstimmung von 1988 geführt wurden, die die versprochene Freude verwarfen, ist dieser Alarmruf doppelt notwendig.

Am Mittwoch schien es in Valparaíso so,  als sei die Intensität der Straßendemonstrationen einem Tag der relativen Ruhe gewichen. Und er Donnerstag, 31. Oktober, begann mit der typischen Lethargie eines Feiertages, wurde dann aber langsam zu einem Tag vielfältiger Mobilisierungen, Ausdrucksformen der Reflexion und der Straßenrebellion.

Der Kampf geht unvermindert weiter, denn in den verschiedenen Sektoren und Stadtteilen, sowohl in der Ebene als auch in den Hügeln von Valparaiso, haben sich die Initiativen, die sich an die populare Basisorganisation richten, vervielfacht und ein Netzwerk der Zuneigung und Solidarität geknüpft, das mit dem Individualismus, der Apathie und Erstarrung, die durch das herrschende neoliberale System verursacht wurden, gebrochen hat.

Die Cabildos oder Volksversammlungen sind wie Feuerwerke in zahlreichen Ecken von Valparaíso explodiert und beleuchten die konkreten Ansätze und Bedürfnisse der Bewohner der Stadt.

Am Morgen waren wir zu Beginn eines dieser Treffen anwesend, das ab 10 Uhr in der Mädchenschule Nr. 2, Matilde Brandau de Ross, stattfand. Hunderte von Bewohnerinnen und Bewohnern von Valparaiso aus verschiedenen Sektoren und Stadtvierteln nahmen teil, um Ideen und Erfahrungen auszutauschen, die sich in der Hitze der Kämpfe dieses rebellischen Oktobers entwickelt hatten. Lehrer eines Gymnasiums in Cerro Barón erklärten, wie sie ihre Arbeit in Bezug auf die Gemeinschaft seit einigen Jahren entwickeln und dass sie in dieser Zeit des Volkskampfes, die wir gerade durchleben, eine bemerkenswerte Wende erfahren hat: Denn sie haben sich organisiert, um die Situationen zu lösen, die sich aus Ereignissen auf den Straßen bei den Mobilisierungen ergeben haben. Und in einem Lernprozesses untersuchten sie die historische Bedeutung der Cabildos sowie den Ausarbeitungsprozess der verschiedenen chilenischen Verfassungen durch die Eliten an der Macht.

Dies hat es ihnen ermöglicht, Menschen aus der Nachbarschaft, in der sich die Bildungseinrichtung befindet, zu treffen, "um Ideen in dieser Hinsicht auszutauschen und die Bedeutung hervorzuheben, die die Bestimmung der eigenen Bedürfnisse in einem wirklich demokratischen Verfassungsprozess durch die Volkssektoren hat".

Ein Leiter eines Sportvereins in einem anderen Stadtteil von Valparaíso erzählt, wie er sich mit anderen Bevölkerungsgruppen verständigt hat: "Freizeitaktivitäten mit Kindern entwickeln, sich auf einen potentiellen Mangel an Produkten des Grundbedarfs vorbereiten, bei Bedarf gemeinsame Essensausgaben planen, Hygieneartikel und Erste-Hilfe-Artikel organisieren, das heißt ein Netzwerk der Solidarität zwischen den Nachbarn und Nachbarinnen zu weben."

Das Herausragende an diesem Cabildo war die massive Beteiligung von Männern und Frauen aus verschiedenen Sektoren und Stadtteilen von Valparaíso, sodass das, was in diesen Treffen diskutiert und analysiert wird, später in ihren eigenen Gemeinden verbreitet werden kann. Die Mobilisierungen haben nicht nur das Erwachen des chilenischen Volkes gezeigt, sondern auch die Suche nach Einheit und Organisation des Volkes auf der Ebene der Regionen, Ortschaften, Sektoren und Nachbarschaften angeregt.

Kurz nach 11 Uhr morgens, ganz in der Nähe, auf dem Plaza Cívica vor der Regionalen Intendanz, hielt eine Gruppe von Sprechern des Völkergipfels der Region Valparaíso eine Versammlung ab, um die Erfahrungen der verschiedenen dort vertretenen Sektoren für eine spätere Pressemitteilung zu sammeln. Einer von ihnen, Dann Espinoza, sagte unter anderem: "Wir sind hier, um die verschiedenen Verletzungen der Menschenrechte der Gemeinschaften anzuprangern. [...] Von Seiten der Menschen gibt es eine verbindende Reaktion, die über die Proteste hinausgeht. Der Protest hat sich zu einem kulturellen, gemeinschaftlichen Vorgang entwickelt. Die Leute kommen zusammen, und eines der Themen, die viele Jahren schwer einzubringen waren, wie die verfassungsgebende Versammlung, findet heute Resonanz und wird in den Geschäften, auf den Straßen unserer Viertel und auf den Plätzen besprochen. Das freut uns sehr.

Heute können wir sehen, wie überall in der Region darüber diskutiert wird, und wir sind nicht bereit, uns zurückzulehnen und auf die Regierung oder auf wen auch immer zu warten, der im nächsten Jahr eine Einigung erzielt. Wir wollen das jetzt tun. [...] Was die Apec und die COP25 betrifft1, so haben wir mit den anderen, die am Prozess des Völkergipfels an verschiedenen Orten Chiles beteiligt sind, gesprochen, und vor allem sind wir sehr froh, dass die Apec abgesagt wurde. Denn hierbei handelt es sich um ein Treffen, an dem große Mächte teilnehmen, die sich nur darauf einigen wollen, wie unser geliebtes Lateinamerika und der Rest der Welt weiter ausgebeutet und zerstört werden kann. [...] Mit unserer mobilisierenden Rebellion haben wir die Hand der Mächtigen umgelenkt, und das ist wichtig. Was COP25 angeht, war es die perfekte Instanz, um die Ungleichheit, die soziale und ökologische Gewalt, die in unserem Land erlebt wird, aufzuzeigen. [...] Es sind über dreißig Jahre eines Systems des Wuchers, des Ausschlusses, des Extraktivismus, für die die Concertación, die Koalition [der Parteien für die Demokratie], verantwortlich und schuldig ist [...].

Apec sollte stattfinden, um die Unterzeichnung des TPP11-Vertrags2 zu begehen, und wir kennen bereits die Schwierigkeiten, die es bezüglich der Verfassungsprozesse, die wir einfordern und vorantreiben, bedeutet, wenn dieser Vertrag verabschiedet wird. [...] Heute wird das System, das uns auferlegt wurde, das System der Sklaverei, eines Ökozids an der Umwelt und allen dort vorhandenen Lebens durch das neoliberale Modell, zum ersten Mal in Schach gehalten, und wenn das neoliberale System in Chile fällt, werden die Völker der ganzen Welt feiern. Als Völkergipfel werden wir diesen Diskussionsprozess fortsetzen, und dies wird nicht aufhören, nur weil die großen Handelsmächte nicht kommen. Hier gibt es eine große Macht, die sich erhoben hat, es ist die Macht der Völker, die Macht eines jeden Volkes Lateinamerikas, und das wird nicht aufhören [...].“

Claudia Arcos, Sprecherin des Völkergipfels der 5. Region, erklärte, dass COP25, wo über den Klimawandel gesprochen wird, nur eine große öffentliche Farce sei, ohne konkrete Lösungen für den Raubbau an den natürlichen Ressourcen und die Vergiftung des Bodens und des dort vorhandenen Lebens zu finden. Und sie ergänzte, "Wir rücken jetzt nicht mehr vom Völkergipfel ab, denn dies ist die Instanz, in der wir diskutieren und eigene Entscheidungen fällen müssen. [...] Wir möchten auch allen Chilenen im Ausland für die Kraft danken, mit der sie in jedem ihrer Länder schnell reagierten und anprangerten, was in Chile geschehen ist. Eines der ersten Länder, in dem darum ersucht wurde, nicht am Gipfel teilzunehmen, bis die Menschenrechte in Chile respektiert werden, war Frankreich. Nicht allein bis es eine Sozialversicherung gibt, wie die Regierung sagt, die die Realität geschickt falsch darstellt und andere Worte benutzt, um zu verwirren. Hier sprechen wir über die Verletzung der Menschenrechte, das heißt, wir sprechen von unseren Toten, unseren Gefolterten, unseren Verschwundenen, deshalb haben sie im französischen Parlament beantragt, nicht teilzunehmen, weil hier die Menschenrechte nicht respektiert werden. In Argentinien wurde dasselbe gefordert, und dann fordern die Abgeordneten des Europäischen Parlaments und beschließen, nicht teilzunehmen, bis die Menschenrechte respektiert werden [...]."

Dann bekräftigt, wie wichtig es ist, den TPP11-Vertrag mit großer Entschlossenheit abzulehnen, und fügt hinzu: "Was die Verfassungsänderungen mit der Annahme dieses Vertrags erschwert, ist, dass wirtschaftliche Hindernisse geschaffen werden, sodass die Völker, in diesem Fall unser Land, den transnationalen Unternehmen eine Entschädigung für vermeintlich entgangenen Gewinne zahlen muss. Die großen Unternehmen, die multinationalen Konzerne sagen: Wenn du deine Gesetzgebung änderst, werde ich dich mit meinen Experten bei den Internationalen Gerichten verklagen, und ich werde dich alles bezahlen lassen." Dann ergänzend sagt Claudia: "Es ist wichtig, dass die Menschen Folgendes verstehen: Abgesehen von dem, was die Mächtigen in Chile schon immer an Profiten gemacht haben, wie Dann erklärt hat, wollen sie nun auch noch, dass wir sie entschädigen, falls wir etwas zugunsten des chilenischen Volkes ändern. Das ist das Brutalste, was man je im Neoliberalismus gesehen hat. [...] Nicht genug damit, dass sie uns bis zum Tod, bis auf die Knochen ausbeuten wollen, jetzt wollen sie auch noch, dass wir für Geschäfte bezahlen, die sie gar nicht wahrgenommen haben, von denen sie aber meinen, dass ihnen daraus Profite zustehen. Das ist unmoralisch, und der Neoliberalismus versucht so, die Völker in die Knie zu zwingen. Für sie sind wir nur eine Arbeitskraft, die versklavt wird. Deshalb müssen wir weiter kämpfen und unsere Rechte einfordern [...]."

Am Mittag zog ein Marsch von Familien und Fachkräften, die mit autistischen Kindern arbeiten, durch die Straßen von Valparaíso und forderte ein Gesetz, das ihre Rechte schützt und achtet.

Nachmittags gingen wir auch zu einem Volksmarkt auf dem Plaza del Cerro Yungay, wo verschiedene Kollektive ihre handwerklichen Produkte anboten. Und während sie zusammen einen Teller Linsen aus einem gemeinsamen Topf für alle teilten, tauschten sie Erfahrungen über die Situation in unserem Land aus, brachten Ideen und ihre eigenen Ansätze vor. Mittels Kenntnissen und kollektiver Kreativität, die aus dieser Praxis der Volksbildung erwachsen, sollen die Herausforderungen bewältigt werden können, um in einem Prozess voranzukommen, der ausgehend von den Protagonisten selbst Mechanismen für einen Verfassungsprozess entwickelt. Jedoch soll dies, wie sie selbst sagen, außerhalb des engen institutionellen Rahmens dieser in der illegitimen Verfassung von 1980 definierten diktatorischen Demokratie geschehen; einer Verfassung, welche die Grundlage eines wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systems bildet, das die in unserem Land bestehenden Machtmissbräuche und tiefgreifenden Ungleichheiten hervorbringt.

Im Lauf des Tages wich die morgendliche Trägheit der Aktivierung des Straßenprotestes und wieder wurden die Straßen Valparaísos von einer Vielzahl von Bewohnerinnen und Bewohnern besetzt. Zuerst taten es die Fans der verschiedenen Profifußballvereine, die nun ihre Differenzen und sportlichen Rivalitäten beiseite ließen, um im Rhythmus von "Das vereinigte Volk" (El pueblo unido) zu marschieren, und sie forderten, mit den Anonymen Aktiengesellschaften Schluss zu machen, die sich im Rahmen der vom neoliberalen Modell stimulierten Privatisierung verbreitet und ihre Krallen in diesen Volkssport gesteckt haben, um Profit zu machen und die Spieler in Handelswaren für den Meistbietenden zu verwandeln.

Die Sportfans, darunter ganze Familien, versammelten sich um 15 Uhr auf dem Plaza Sotomayor und marschierten dann zum Plaza del Pueblo Salvador Allende. Von dort aus zog nach einer kurzen Pause eine Gruppe von ihnen zum Nationalkongress, die von den Spezialeinheiten angegriffen wurde, als sie die Uruguay-Straße erreichte.

Am Abend gegen 19 Uhr eine weitere Protestaktion, die die kommerzielle "Hexennacht" umwandelte in eine Demonstration gegen die von der Regierung von Sebastián Piñera begangenen Menschenrechtsverletzungen bei den Verhaftungen Tausender chilenischer Frauen und Männer, den Folterungen, Morden und Todesfällen. Die brutale Unterdrückung durch Polizei und Militär hat immer mehr Demonstrantinnen und Demonstranten dazu gebracht, diese Regierung als eine diktatorische Demokratie, als Regierung, die dikatorische Mittel einsetzt oder direkt als Diktatur zu bezeichnen.

Etwa 10.000 Bewohnerinnen und Bewohner von Valparaíso kamen zusammen, viele von ihnen in Trauerkleidung, um den Gefallenen dieser Tage des am 18. Oktober begonnenen Volkskampfes zu gedenken. Und um gleichzeitig die Brutalität des repressiven Vorgehens anzuprangern, mit dem die Regierung auf den sozialen Ausbruch reagierte, der "Schluss mit dem Machtmissbrauch" gesagt hat. Die Demonstranten versammelten sich auch auf dem Plaza Sotomayor und marschierten dann zum Plaza Aníbal Pinto, wo sie verschiedene Darbietungen und Ausdrucksformen der Volkskunst mit einer kraftvollen und ausdrucksstarken Botschaft des Schmerzes aufführten. Dabei trugen sie auch Transparente, die die Akte der Gewalt und Unterdrückung anprangerten, sowie Plakate mit Namen und Gesichtern von Ermordeten und Gefallenen. Auf den Treppen zum Neptun-Brunnen dieses Platzes wurden zusammen mit den Bildern von jedem einzelnen Toten Kerzenlichter aufgestellt.

Das rebellische Volk zeigt weiterhin durch viele selbstorganisierte Mobilisierungen auf der Straße ohne jegliche vorherige Genehmigung, dass das Recht, sich frei im öffentlichen Raum zu äußern und verletzte Rechte einzufordern, keiner Erlaubnis durch staatliche Behörden bedarf; sie werden als ineffizient und mitschuldig an den begangenen Missbräuchen angesehen.

  • 1. Möglichen Absagen von Regierungsvertretern aus dem Ausland für die Teilnahme an der UN-Klimakonferenz kam Präsident Piñera zuvor. Kurzerhand sagte er sowohl das Treffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (Apec) als auch den Weltklimagipfel COP25 ab.
  • 2. Das TPP11, (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership, deutsch etwa: Umfassende und fortschrittliche Vereinbarung für eine Trans-Pazifische Partnerschaft) ist ein seit Ende Oktober 2018 von Australien, Brunei, Chile, Kanada, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam ratifiziertes Freihandselsabkommen