Regierunspolitik in Ecuador: Zu den Gewinnern gehören die reichsten Sektoren

Interview mit dem Ökonom Andrés Arauz aus Ecuador über die Folgen der Politik von Präsident Moreno

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Proteste im Oktober 2019 in der Hauptstadt Quito gegen die neoliberale Politik von Moreno
Proteste im Oktober 2019 in der Hauptstadt Quito gegen die neoliberale Politik von Moreno

Andrés Arauz ist ecuadorianischer Ökonom und Politiker der “Bürgerrevolution” (Revolución Ciudadana). Während der Regierungszeit Rafael Correas war er in verschiedenen wichtigen Positionen im Wirtschafts-und Finanzbereich tätig, wo er z.B. als Generaldirektor für Bankgeschäfte der ecuadorianischen Zentralbank zukunftsweisende Neuerungen einführte. So entwarf er das elektronische Geld der Zentralbank und integrierte damit hunderte Genossenschaften in das Zahlungssystem. Er entwickelte den Mechanismus für die inländische Investition in den Sektor der Volksfinanzen und des öffentlichen Bankwesens. Danach war er als Vize-Minister für Planung in der Planungsbehörde tätig. Unter seiner Leitung erreichte Ecuador einen Rekord öffentlicher Investitionen und begann mit der vorausschauenden Planung für die Entwicklung des Landes bis 2035. Zuletzt war er Minister für Wissen und menschliches Talent und hat als solcher die Bereiche Bildung, Kultur und Universitätswesen koordiniert. Seine Aufgabe war es auch, Initiativen zur Gewinnung technologischer Souveränität zu fördern.

Wie schätzt du die politische-ökonomische Situation nach den Protesten im Oktober ein?

Einige Analysten haben den "Sieg des Volkes" aufgrund der temporären Rücknahme der Liberalisierung der Treibstoffpreise hervorgehoben. Allerdings hat Morenos Wirtschafts- und Finanzminister Richard Martínez bereits erklärt, dass ein neues Dekret vorgelegt werden müsse, um das Abkommen mit dem IWF zu erfüllen.

Es wird eine Preissteigerung bei den Treibstoffpreisen geben, aber auch ein neoliberales Gesetzespaket, das eine Finanzkrise im Jahr 2020 hervorrufen wird. Dies alles steht im Abkommen mit dem IWF.

Die Erhöhung der Treibstoffpreise war der Teil des Kürzungspakets, der auf die größte Ablehnung gestoßen ist und am meisten Straßenproteste ausgelöst hat. Ist es nicht trotzdem so, dass die Erhöhung der Preise aus Sicht der Allokationseffizienz sowie aus ökologischer Sicht ein sinnvoller Schritt war? Schließlich geht es darum, weniger ökologisch schädliche Konsummuster zu fördern. Hältst du die Streichung der Treibstoffsubventionen nicht für gerechtfertigt?

Keineswegs. Zum einen trägt Ecuador auf globaler Ebene nicht wesentlich zur Verschmutzung bei, zum anderen ist die Treibstoffnachfrage nicht elastisch und daher führt die Senkung der Subvention nicht zu einer Senkung des Verbrauchs von Treibstoff und folglich nicht zu weniger Umweltbelastung. Hinzu kommt, dass es zu einem Wechsel von Treibstoff mit hoher Oktanzahl zu Treibstoff niedrigerer Oktanzahl gekommen wäre und damit zu mehr Verschmutzung.

Es waren auch keine ökologischen Ziele, die die Regierung zu diesem Schritt motiviert haben. Tatsächlich hat die Regierung gleichzeitig eine Sondersubvention für Treibstoffe im Fischereisektor eingeführt – wobei es sich interessanterweise um die wichtigste Branche der Unternehmen der Familie des Vizepräsidenten handelt – sowie für Flugzeugtreibstoff. Zudem wurde eine Ökosteuer auf Fahrzeuge mit hohen Verschmutzungswerten gestrichen und Ecuador hat zudem die OPEC verlassen, um die Produktion und die Verbrennung von Erdöl auszuweiten.

Es ging also um eine Entscheidung, die nichts mit ökonomischer Effizienz zu tun hatte, sondern darum, wie es im Abkommen im IWF heißt, die Außenwirtschaftsbilanz zu verbessern. Auch vor diesem Hintergrund hätte man die Entscheidung, die Subvention abzuschaffen, graduell und nicht auf einen Schlag umsetzen können, also basierend auf einem umfassenden Dialog, unter Nutzung von Informationstechnologien und im Rahmen einer breiter angelegten Industrie- und Umweltpolitik. Die eingenommenen Ressourcen hätte man exklusiv für den Aufbau eines petrochemischen Komplex nutzen können, der z.B. Ersatz für Importtreibstoffe herstellt.

Die IWF-gestützte Politik beinhaltet die Privatisierung öffentlicher Unternehmen. Wie schreiten die Privatisierungen voran, die heute als "Monetisierung", also das Zu-Geld-machen von Aktiva bezeichnet werden?

Drei Privatisierungsprozesse sind vorangeschritten. Es handelt sich dabei um die Banco del Pacifico, das Telekommunikationsunternehmen CNT und das Wasserkraftwerk Sopladora. Diese drei Unternehmen sind absolut rentabel. Besonders die Privatisierung der Banco del Pacifico und der CNT bereitet Sorge, da es sich bei diesen um strategische Aktiva handelt, die Entwicklungsmotoren darstellen. Die Regierung erwartet, dass die Privatisierung noch dieses Jahr erfolgt, aber die Privatisierungsbemühungen gehen im Dunklen und ohne jedwede Transparenz vonstatten.

Heute werden Maßnahmen wie die von Moreno durchgeführte Steueramnestie und die Privatisierung von Staatseigentum kritisiert. Allerdings hat es auch eine Steueramnestie während der Revolución Ciudadana gegeben und 2016 hat man den Verkauf von Aktiva vorgeschlagen. Wenn dem so ist, ist also die These von der konservativen Restauration des Correismo richtig und wenn dem nicht so ist, wo liegt der Unterschied zur aktuellen Regierung?

Während der Regierung Correa wurde kein staatliches Eigentum privatisiert, mit Ausnahme von zwei Zementunternehmen und dem Hotel Quito. Darüber hinaus wurde Privateigentum verstaatlicht oder an die Arbeiter übergeben. Aktiva der Bankiers Isaías, Aspiazu, Peñafiel, Landes und anderen wurden für den Staat zurückgewonnen. Ebenso die Hacienda La Clementina des Bananenmagnaten Noboa. Die Regierung Moreno dagegen hat die Steuern und Schulden der Bankiers nicht eingetrieben, sondern sie im Gegenteil erlassen.

Die Isaías Brüder waren in den 1990er Jahren Eigentümer von Filanbanco und Protagonisten der Pleite der größten Bank Ecuadors während der Finanzkrise zur Jahrtausendwende. Heute leben sie in Miami und haben stets die Opposition gegen die jeweilige Regierung finanziert, um zu verhindern, ihre Schulden zahlen zu müssen. Correa hat zwei Fernehekanäle und viele andere Unternehmen der Isaías Brüder konfisziert, um die Kostenlücke zu schließen, die durch die Pleite der Bank und das staatliche Bailout-Programm entstanden war.

Fernando Aspiazu war Eigentümer der Banco del Progreso und der Tageszeitung El Telégrafo. Correa hat seine Eigentum konfisziert, zu denen auch die Elektrizitätswerke von Guayaquil gehörte. Nach der Konfiszierung wurde El Telégrafo zur ersten öffentlichen Zeitung. Aspiazu war mehrere Jahre in Haft. Alejandro Peñafiel war Eigentümer der Banco de Préstamos. Correa hat einige seiner Besitztümer konfisziert, wozu Erdölunternehmen und Großgrundbesitz (Hacienda) gehörten. Nicolas Landes war Eigentümer der Banco Popular.

Die Steueramnestie 2016 wurde im Kontext des Erdbebens von Manabí gewährt und war ein Notmechanismus. Und zudem wurde diese Steueramnestie von 2016 genutzt, um Ehrlichkeit in den Unternehmensbilanzen durchzusetzen, damit die Unternehmen die festgeschriebenen 15 Prozent Gewinnbeteiligung an die Arbeiter zahlen. Die Amnestieregelung Morenos umfasst auch die Sozialversicherung und öffentliche Dienstleistungen, ohne dass dies an mehr Transparenz geknüpft ist und ohne dass es eine ökonomische Dringlichkeit aufgrund einer Naturkatastrophe gegeben hätte. Die doppelte Buchführung in einer Höhe zwischen 6.780 und 12.000 Millionen USD wurde durch Moreno erlaubt, wobei die genaue Summe aufgrund fehlender Transparenz unbekannt ist. Es handelt sich um nicht gegenüber der Steuerbehörde deklarierte Einnahmen oder fälschlicherweise deklarierte Kosten.

Könntest du der Wirtschaftspolitik der Regierung Moreno das Regierungsprogramm gegenüberstellen, das ihn zur Präsidentschaft gebracht hat? Welche Resultate mit Hinblick auf den Wohlstand der Bevölkerung gibt es? Welche Sektoren profitieren, welche Sektoren verlieren?

Das Regierungsprogramm war eindeutig entwicklungsorientiert und sah eine protagonistische Rolle der öffentlichen Investitionen und eine starke staatliche Regulierung vor. Dies hat sich total zugunsten der traditionellen Eliten und transnationalen Unternehmen umgekehrt. Es gibt eine Steigerung der Arbeitslosigkeit, der Unterbeschäftigung, der Armut und der Ungleichheit. Zu den Gewinnern gehören die reichsten Sektoren Ecuadors. Die Mittelschicht verliert.

Wodurch wird Moreno in der Präsidentschaft gehalten?

Moreno wird durch die USA, durch die dominierenden Kommunikationsmedien, die Bankiers, die Eliten und den politischen Pakt, der in der neoliberalen Verfassung von 1998 zum Ausdruck gekommen ist gestützt.

Könntest du uns etwas darüber sagen, wer protestiert hat und ob die Protestierenden im Dialog mit der Regierung repräsentiert sind?

Die Proteste fanden in ganz Ecuador statt. Es gibt eine Erklärung von Pablo Dávalos, in der er sagt, dass der Fall Morenos unmittelbar bevor stand, als die Stadtviertel Quitos sich den Protesten anschlossen. Trotzdem wurden sie nicht im Dialog mit der Regierung berücksichtigt. Lediglich die Führung bestimmter Indigenenorganisationen waren präsent, auch solche die nicht zu Protesten mobilisiert hatten wie die Feina und Fenocin.

Wie bewertest du die Rolle der Indigenenbewegung und ihr Verhältnis zum Morenismus?

Bis zum Tag der Erhöhung der Treibstoffpreise war die CONAIE durch die Beteiligung von Luis Macas, Diana Atamaint und Humberto Cholango im Wasserministerium Teil der Regierung, wobei letzterer der Preissteigerung öffentlich applaudierte. Zum Glück für die CONAIE hat die Indigenenbewegung der Provinz Cotopaxi eine Führungsrolle eingenommen und zeitgleich hat dort ein Generationenwechsel stattgefunden hatte. Trotz der Konflikte mit der Revolución Ciudana ist es doch so, dass diese neue Generation von Anführern nicht mehr an den alten Pakt mit der Oligarchie von 1998 gebunden ist.

Kannst du uns mehr über die eben genannten Personen sagen?

Luisa Macas ist ein historischer Anführer der CONAIE, der besonders Ende der 1990er Jahre eine wichtige Rolle gespielt hat. In der Moreno-Regierung war er Mitglied des CPCCS-T. Diana Atamaint ist ebenfalls eine Führungsfigur von CONAIE und Pachakutik. Sie war zu Beginn der Periode der Präsidentschaft Correas eine regierungsnahe Abgeordnete, hat sich aber später distanziert. Während der Regierung Moreno wurde sie durch den CPCCS-T zur Vize-Präsidentin des Interimswahlrats ernannt. Danach hat sie den vermeintlichen Bewerbungsprozess um die Besetzung der Präsidentschaft des festen Wahlrats gewonnen. Humberto Cholgano ist ebenfalls ein wichtiger historischer Anführer der CONAIE. Er hat keine direkt konfrontative Position gegen den Correísmo eingenommen. In der Regierung Moreno wurde er zum Sekretär für Wasser und später Umweltminister, um dann wieder Sekretär für Wasser zu werden. Er war bis einen Tag nach der Ankündigung der Treibstoffpreiserhöhungen Teil der Regierung und hat die Maßnahmen sogar auf Twitter gelobt.

Welche Rolle hat die Gewerkschaftsbewegung gespielt?

Die Frente Unitario de Trabajadores FUT war ein wichtiger Akteur bei der Demobilisierung. Sie weigerten sich auch lange, sich der Einigung mit dem IWF zu widersetzen. Es hat (bei der FUT) keinen Generationenwechsel gegeben. Es ist wichtig, dazu die Transkription des 40-minütigen Audios von Enrique Ayala Mora zu analysieren, in dem er diese Dynamik beschreibt. [In dem Audio erklärt Mora, dass FUT und CONAIE, ohne vorab Zugeständnisse zu machen, an den Verhandlungstisch gebracht werden müssen. Ihnen müsse klargemacht werden, dass ihr Ziel lediglich die Rücknahme des Dekrets sein sollte und nicht sie, sondern Correa von einem Regierungssturz profitieren würde. Mora erklärt, wie die Correa-Anhänger unter den Protestierenden isoliert und schließlich als Verbrecher bezeichnet werden könnten.] Dazu ist zu sagen, dass Ayala Mora ein historischer Führer der sozialistischen Partei ist und sich während der Revolución Ciudadana von seiner Partei distanziert hat, die in einer permanenten Allianz mit den Unterstützern Correas stand. Ayala Mora ist außerdem ehemaliger Parlamentsabgeordneter und war über 20 Jahr lang Rektor der Universidad Andina Simón Bolívar.

Wie bewertest du die Konflikte zwischen Revolución Ciudadana und der Indigenenbewegung?

Was die Konflikte mit der Revolución Ciudadana angeht, würde ich zwei wichtige Themen nennen: den Bergbau und die interkulturelle und bilinguale Bildung. Was den Bergbau angeht, gebe ich der Indigenenbewegung recht, denn das Bergbaugeschäft ohne die wissenschaftliche und industrielle Aneignung, ohne gemischte Wirtschaft und Technologietransfer, ohne rechtliche und finanzielle Garantien für die Deckung der Umweltschäden und im Kontext der Investor-Staat-Schiedsverfahren ist weder für den Staat noch für die Gemeinden ein gutes Geschäft ist.

Was das Thema der interkulturellen Bildung angeht, gebe ich der Revolución Ciudadana recht, denn die Bildungsqualität wurde signifikant verbessert. Das Argument der CONAIE, dass kleine Schulen mit nur einer Lehrkraft das Zentrum der dörflichen Gemeinschaft gewesen seien und deshalb erhalten werden müssen, ist nicht haltbar. Hier muss eine Lehrkraft alle Fächer in allen Altersstufen unterrichten. Es geht darum, dass Bildung ein Menschenrecht ist, das für alle garantiert werden muss. Und bei der Ernennung von Lehrern durch die Gemeinde selbst wird dies nicht durch den verfassungsmäßigen Rahmen der staatlichen Verantwortung für Bildung gestützt. Der wichtigste Fehler dabei war das Fehlen von adäquaten Transportmöglichkeiten. Aber das ist ein Thema, über das man weiter im Dialog bleiben kann.

Was den Bergbau angeht, gab es während der Revolución Ciudadana keine Pläne für zusätzliche Wertschöpfung?

Es gab nur einen Machbarkeitsplan für die Kupferraffinerie, ein höheres technologisches Institut, das sich auf Bergbauwissenschaften in der Provinz Zamora spezialisiert hatte, aber es gab keine breit angelegte Wissenschafts- und Industriestrategie, die zum Beispiel Joint-Ventures ähnlich wie zwischen dem staatlichen Erdölkonzern CEPE und Texaco in den 1970ern ermöglicht hätten.

Wenn du Correa und Moreno vergleichst: In was für einem Zustand haben sie Ecuador übernommen? Die aktuelle Regierung pflegt auf das schwere Erbe des Correismo hinzuweisen. Was waren aus deiner Sicht die wichtigsten Erfolge und Fehler in der Entwicklungspolitik der Revolución Ciudadana?

Der Neoliberalismus hatte ein schweres Erbe hinterlassen:

- immense sozialen Schulden,

- ausländische Militärbasen,

- Schiedsverfahren mit transnationalen Konzernen,

- ein feudales Staatswesen.

Moreno dagegen hat Ecuador in einem laufenden positiven Entwicklungsprozess übernommen. Die Erfolge waren, was die Demokratisierung des Staates angeht, unter Correa enorm, auch mit Blick auf die wirtschaftliche Souveränität und regionale Integration. Zu den größten Fehlern hat gehört, dass die Veränderung der subjektiven Einstellungen der Menschen vernachlässigt worden war, dass der Glaube an das positive Agieren einer veralteten Geschäftselite weiterhin bestand, und schließlich der fehlende Aufbau einer tief verankerten Volksmacht und des ideologischen Wandels in den Streitkräften.

Morenos Amtszeit wird in weniger als zwei Jahren enden. In welchem Zustand wird er Ecuador übergeben und welche Möglichkeiten gibt es, auf den Weg einer fortschrittlichen Entwicklung zurückzukehren?

Moreno wird ein Land inmitten einer Krise hinterlassen, die ab 2020 durch das von der Regierung verabschiedete "Gesetz für wirtschaftliches Wachstum" verursacht wurde. Dieses Gesetz führt erneut zu deregulierten Kapitalflüssen ohne staatliche Kontrolle und wird so eine Krise des Finanzsystems provozieren.

Die Chancen, die Zustimmung der Bevölkerung zu erhalten, sind groß. Auf institutioneller Ebene liegen die Möglichkeiten aber durch die Blockade der politischen Mittel und die Verfolgung politischer Führungskräfte – sowohl der Revolución Ciudadana als auch der Indigenenbewegung – fast bei Null. Die Herausforderung liegt darin, die Blockade des politischen Prozesses zu überwinden und das Leben und die Freiheit der politischen Führungspersonen zu schützen.