Pragmatismus in Argentinien

Die Gesundheitskrise scheint unter Kontrolle zu sein. Nun richtet sich das Augenmerk verstärkt auf die ökonomischen und finanziellen Folgen der Pandemie

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Präsident Fernández beim Besuch eines Krankenhauses in der Provinz Formosa, das sich auf die Behandlung von Covid-19-Patienten vorbereitet (vorn Mitte)
Präsident Fernández beim Besuch eines Krankenhauses in der Provinz Formosa, das sich auf die Behandlung von Covid-19-Patienten vorbereitet (vorn Mitte)

In Argentinien scheinen die Maßnahmen der Regierung die Ausbreitung von Covid-19 zumindest vorerst gedämpft zu haben. Seit kurzem regiert dort der neu gewählte Alberto Fernández, und wie in vielen Ländern derzeit stellt sich auch hier die Frage, wie es nach der Gesundheitskrise weitergehen wird. Denn Argentinien steht eventuell schon bald – erneut – vor dem finanziellen Kollaps.

Generell sind die Erwartungen nach einem Regierungswechsel immer hoch und kaum werden alle erfüllt beziehungsweise können erfüllt werden. Die ersten drei Monate sind stets eine Art "Galgenfrist", die die Bevölkerung und auch die Medien neuen Regierungen geben.

So war es auch im Fall von Alberto Fernández, der seit dem 10. Dezember 2019 als Präsident Argentiniens amtiert. In dieser Phase waren bereits erste politische Leitlinien der Regierung ansatzweise erkennbar. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Mauricio Macri (2015-2019) sollte es mehr Geld für die ärmsten Teile der Bevölkerung geben. Dies hatte aber zur Folge, dass sich innerhalb der argentinischen Mittelklasse bereits Unmut über die von Fernández angedachten Reformen und Programme regte. Vor allem jene, die dem Lager der Macristas zuzuordnen sind, lehnen die Unterstützung der Ärmsten ab.

Der eingeschlagene progressive Kurs der Regierung Fernández in der Sozialpolitik war somit schnell unter Beschuss geraten. Die Rahmenbedingungen und vor allem die budgetäre Situation, auf nationaler Ebene wie auch in den Provinzen, erlaubten ihm und seiner Regierung generell wenig Spielraum. Die "Jahrhundertschuld", die Macri dem Land hinterließ, hat die ökonomische Situation in den letzten zwei Jahren seiner Amtszeit verschlimmert. Unter Macris Führung nahm Argentinien im September 2018 einen Kredit von 57 Milliarden US-Dollar beim Internationalen Währungsfonds (IWF) auf, der bisher größte in dessen Geschichte. Den erwarteten wirtschaftlichen Aufschwung brachte er jedoch nie. Im Gegenteil: Die Inflation kletterte unter Macri stetig weiter und lag im Jahr 2019 offiziell bei 50 Prozent.

Die fiskalische Hauptlast trägt die argentinische Mittelklasse, die mit ihren Steuerabgaben in die Staatskasse einzahlt, da sie nicht, wie 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung, im informellen Sektor tätig ist. Unter Macri ging aber auch der Konsum im Land stetig zurück, der unter den Kirchner-Regierungen strukturell ausgebaut wurde, was auch die im Land produzierten Güter betraf.

Macris wirtschaftsliberale Politik traf auch die ärmsten Teile der Bevölkerung, was die Armutsrate in den letzten Jahren steigen ließ und soziale Proteste hervorrief. Die Erinnerungen an die Finanzkrise der späten 1990er und frühen 2000er Jahre, die im Dezember 2001 zu schweren Unruhen führte, sind noch bei den meisten sehr präsent. Viele Experten gingen schon vor zwei Jahren von einem möglichen erneuten Zahlungsausfall Argentiniens nach jenem von 2001/02 aus, also noch vor Covid-19.

Rasche Reaktion auf das Virus

Am 3. März 2020 meldeten die Gesundheitsbehörden den ersten mit Covid-19 Infizierten, einer der ersten Fälle in ganz Lateinamerika. In der gleichen Woche, als die Regierung in Österreich Ausgangsbeschränkungen verhängte, verkündete die argentinische am 19. März ein Verbot für alle Inlandsreisen und am 20. März eine Ausgangssperre. Das Haus durfte nur verlassen werden, um einer unbedingt notwendigen Arbeit nachzugehen (Krankenhauspersonal), um Lebensmitteleinkäufe zu erledigen, zur Apotheke zu gehen und direkten Angehörigen, die über 65 Jahre alt sind, zu helfen. Dies wurde von der Polizei streng kontrolliert und Verstöße geahndet, wobei etwa den Autofahrern, die gegen die Verordnungen verstießen, die Autos vorläufig weggenommen wurden.

Ursprünglich sollte die Ausgangssperre Mitte April enden, wurde aber mehrere Male verlängert. Angesichts geringer oder sinkender Zahlen von Infizierten beendeten gegen Ende Mai auch schon einige Provinzen die Ausgangsperre und Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Die Bewohner von Buenos Aires Stadt und der Provinz werden aber noch länger mit Ausgangsbeschränkungen leben müssen. Generell reagierte die Fernández-Regierung schnell und pragmatisch. Die Gesundheitskrise scheint bisher dank der nachdrücklichen und lange anhaltenden Maßnahmen unter Kontrolle zu sein. Die Rate der positiv getesteten Personen lag Mitte Mai in Argentinien bei etwa 18 pro 100.000 Einwohnern, im Vergleich dazu in Chile bei 240 und in Uruguay bei 21.1

Nicht zu vergessen ist jedoch, dass Argentinien – wie auch andere lateinamerikanische Staaten – mit dem Denguefieber zu kämpfen hat.2 Die Panamerikanische Gesundheitsorganisation mit Sitz in Washington zählte in der Region 560.000 Infektionen allein in den ersten Märzwochen. Besonders betroffen sind Paraguay und auch Bolivien. Die Behörden sehen im Vergleich zu den vorherigen Jahren einen starken Anstieg an Infektionen in Argentinien, bei über 12.000 offiziell bestätigten Fällen im April, 7.000 davon in Buenos Aires.

Fernández konnte sogar von der Covid-Krise "profitieren". Das Image als ruhiger, pragmatischer Regierungs- und Staatschef und die strikten Beschränkungen geben ihm und seinem Beraterstab – zumindest bisher – recht, besonders wenn man in das Nachbarland Brasilien blickt. Dies hatte auch zur Folge, dass sich Fernández endgültig als unabhängig von seiner Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner (CFK) positionieren konnte. Ein guter Teil seines Wahlsieges ist nämlich CFK zuzuschreiben, die im Wahlkampf das "Zugpferd" bei der Mobilisierung für das Wahlbündnis Frente de Todos war. Ihre Popularität war ausschlaggebend für den Wiedereinzug der Peronisten in die Casa Rosada.

Allerdings wird CFK seit längerem vorgeworfen, in ihren Amtszeiten als Präsidentin (2007-2015) für mehrere Fälle von Korruption verantwortlich zu sein. Inzwischen wurden etliche der Verfahren gegen sie eingestellt, und da sie nun als Vizepräsidentin politische Immunität genießt, wird es in nächster Zeit zu keinen weiteren Untersuchungen kommen. Die auflagenstarken Tageszeitungen La Nación und Clarín führen seit Jahren eine regelrechte Anti-CFK-Kampagne. Daher war es überraschend, dass sie sich im März und Anfang April sehr zurückhaltend gegenüber den Maßnahmen der Regierung von Alberto Fernández zeigten. Aber noch im April sind sie erneut umgeschwenkt.

Vor neuer Schuldenkrise?

Wie in vielen anderen Staaten auch richtet sich das Augenmerk nun verstärkt auf die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen der Corona-Pandemie. Aufgrund der schon vorher angespannten finanziellen Situation stehen Argentinien wirtschaftspolitisch noch schwierigere Zeiten bevor. Um einem kompletten Zahlungsausfall zu verhindern, machte Fernández Mitte April dem Ausschuss der privaten Gläubiger argentinischer Staatsschulden einen Vorschlag, bei dem es um die Restrukturierung der Schulden ging. Diesen lehnten die Gläubiger jedoch ab, obwohl sogar der IWF, der größte Gläubiger, einen umfassenden Schuldenerlass durch private Gläubiger unterstützt. Die anderen Gläubiger, die fast alle in der Wall Street in New York sitzen, zeigen sich (noch) für weitere Gespräche offen.

Fernández und seine Regierung bleiben vorerst auf dem von ihnen eingeschlagenen Kurs, nämlich den ärmsten Bevölkerungsschichten zu helfen, aber auch der zunehmend finanziell gefährdeten Mittelklasse mit sozialpolitischen Maßnahmen unter die Arme zu greifen. Daniel Arroyo, Minister für soziale Entwicklung, stellte Anfang Mai ein Maßnahmenpaket vor, das unter anderem einen "Null-Zinsen-Kredit" (Crédito Tasa Cero) in Höhe von bis zu 150.000 Pesos (rund 1.900 Euro) für Selbstständige mit Bruttoeinnahmen pro Jahr von mehr als 400.000 Pesos (rund 5.100 Euro) enthält. Dies bedeutet bei der aktuellen Inflationsrate von 60 Prozent, dass für den Kredit später deutlich weniger als der aktuelle Wert zurückgezahlt werden muss.

Durch das Paket sollen Kleinunternehmen, aber auch die in Argentinien generell hohe Anzahl von "monotributistas" ‒ vergleichbar mit selbständigen Arbeitnehmern ‒ finanziell durch die nächsten Monate gebracht werden. So erhalten "monotributistas" Zuschüsse, und laufende Zahlungen, etwa Sozialversicherungsbeiträge, können zu einem späteren Zeitpunkt beglichen werden. Das soll verhindern, dass Tausende Argentinier in die Armut abrutschen. Denn der Minister rechnet mit einer Erhöhung der Armutsquote. Die Soziale Beobachtungsstelle der Katholischen Universität Argentinien schätzt, dass die Armutsrate auf 45 Prozent steigen könnte. Auch für Personen im informellen Sektor, wie etwa Putzhilfen, sind Zuschüsse bis zu 10.000 Pesos (rund 130 Euro) vorgesehen.

Zugeständnisse und noch mehr sozialpolitisches Fingerspitzengefühl erforderten von den Behörden auch die Unruhen in einem Gefängnis im Viertel Villa Devoto am 24. April. Die Szenen in dem im Westen der Stadt liegenden Gefängnis – der einzigen Strafanstalt innerhalb von Buenos Aires Stadt – spiegeln eine Situation wider, die in vielen lateinamerikanischen Gefängnissen Alltag ist: Oft sind sie bis über das Dreifache überbelegt, was ein erhebliches Gesundheits- und auch Sicherheitsrisiko für die Insassen, aber auch das Personal bedeutet. Die engen und überfüllten Räume und unhygienischen Verhältnisse könnten die Ausbreitung von Covid-19 enorm beschleunigen. Auch die Gefangenen von Villa Devoto machten mit ihrem Aufstand nachdrücklich darauf aufmerksam.

Am Verhandlungstisch, an dem auch Mitarbeiter des Justizministeriums saßen, einigte man sich unter anderem darauf, dass Inhaftierte mit chronischen Erkrankungen (Herz- und Lungenkrankheiten, Diabetes etc.) separiert und damit geschützt werden sollen. Seither ist vor allem in den sozialen Medien eine emotionalisierte Debatte über die "Spezialbehandlung" von Häftlingen ausgebrochen. Viele Kommentare kreisen um das Thema Gerechtigkeit: Während die "normalen, braven" Bürger zuhause bleiben müssen, komme man Verbrechern mit „Sonderbehandlungen“ entgegen. Auch wird der Regierung nachgesagt, sie plane Hunderte Insassen vorzeitig in den Hausarrest zu schicken, was diese vehement dementiert. Bisher hat auch hier das Zusammenspiel von politischem Pragmatismus und vorausschauender Sozialpolitik, die soziale Unruhen verhindern sollen, vorerst seinen Zweck erfüllt.

Laurin Blecha ist Historiker und Lateinamerikaexperte an der Universität Wien

Der Beitrag erschien zuerst in "Lateinamerika anders" 2/2020, Österreichs Zeitschrift für Lateinamerika und die Karibik