Migranten in Mexiko: Erst eingesperrt, dann ausgesetzt

Zentralamerikanische Migranten wurden in Sammelunterkünften festgehalten, während sich das Corona-Virus weiter ausbreitete

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Sollen in ihre Länder zurückkehren: Migranten werden an die Südgrenze gebracht und dort ohne weitere Hilfeleistungen ausgesetzt
Sollen in ihre Länder zurückkehren: Migranten werden an die Südgrenze gebracht und dort ohne weitere Hilfeleistungen ausgesetzt

Die Zahl der an Covid-19 Erkrankten in Mexiko steigt täglich an. Bis Ende Juli hatten sich nach offiziellen Zahlen rund 416.000 Einwohner infiziert und mehr als 46.000 Menschen sind an den Folgen gestorben. Das Gesundheitsministerium diagnostiziert in mindestens 15 Bundesstaaten "maximale Ansteckungsgefahr". Währenddessen wird die restriktive Migrationspolitik verschärft und Asylsuchende und Migranten werden der Corona-Pandemie schutzlos ausgesetzt.

Die Auswüchse der diskriminierenden Migrationspolitik Mexikos zeigen sich während der Corona-Pandemie in ihrer brutalsten Form, steht für Aldo Ledón fest. Für den Aktivisten und Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Voces Mesoamericanas liegt die Verantwortung beim Staat: "Die Regierung lässt Schutz suchende Menschen links liegen und begeht Menschenrechtsverletzungen." Erkrankte Migranten etwa würden nicht behandelt und anderen kein Schutz vor einer Ansteckung geboten.

Er erinnert daran, dass es sich bei diesen Menschen um "Opfer von Zwangsumsiedlungen, sexualisierter Gewalt, organisierter Kriminalität, politischer Verfolgung oder ökonomischer Verarmung" handelt. Sie würden nun an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt und seien "multiplen-Krisen" ausgesetzt.

Rita Robles, Menschenrechtsaktivistin und Mitarbeiterin des nichtstaatlichen Menschenrechtszentrums Fray Matías Córdova, fügt hinzu, dass ihnen ohnehin schon jegliche Menschenrechte, wie "das Recht auf Freizügigkeit, Arbeit, Gesundheit oder Bildung" vorenthalten werden. Prekäre Lebenslagen seien schon lange der Status quo für Migranten in Mexiko: "Nicht einmal essenzielle Bedürfnisse werden durch die staatliche Migrationsarbeit ausreichend abgedeckt".

Es sei wichtig, den historisch politischen Kontext zu begreifen, der zur aktuellen Krise geführt habe, erklärt Aldo Ledón. Sie sei nämlich keineswegs erst dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie geschuldet. Mexiko gelte vor allem für Menschen aus Zentralamerika traditionell als Auffangbecken. Die Volkswirtschaft des Landes − insbesondere der informelle Arbeitssektor – profitierte seit Langem von der billigen Arbeitskraft der Migranten. Erst der Diskurs der Regierungen des 21. Jahrhunderts präsentiert Migration als "neues Phänomen", das aus Gründen der nationalen Sicherheit bekämpft werden müsse.

Aldo Ledón betrachtet es als polemisch, nationale Sicherheit in Verbindung mit Migration zu setzen. "Menschen in Notlagen haben das Recht auf Migration und der mexikanische Staat steht in der Sorgfaltspflicht, die Einhaltung dieses Rechts sicherzustellen". Die Stigmatisierung von Migranten ziehe sich wie ein roter Faden auch durch den Diskurs des amtierenden Präsidenten Ándres Manuel López Obrador.

Offiziell zuständig für in Mexiko ankommende Migranten ist das Nationale Institut für Migration (INM). Ihm obliegt die Umsetzung der föderalen Migrationspolitik. Regierungsvorgaben entsprechend registriert es Migranten bei ihrer Ankunft an der Südgrenze Mexikos zu Guatemala und Belize. Eigentlich soll es ihnen auch Information, Schutz und Unterkunft bieten. Nach Aldo Ledón würden die Menschen hier jedoch nur registriert, "um sie festnehmen und deportieren zu können". Sie würden außerdem gegen ihren Willen in staatlichen Unterkünften (estaciónes migratorias) – in der Regierungsrhetorik auch "Herbergen" genannt – festgehalten. Die staatlichen Unterkünfte "Herbergen" zu nennen, sei reiner Euphemismus, da sie eigentlich nichts weiter als provisorisch hergerichtete Deportationsgefängnisse seien, findet er.

Ende Februar registrierte das mexikanische Gesundheitsministerium die ersten Covid-19 Patienten. Daraufhin wurde landesweit ein gesundheitliches Abstandsgebot verhängt. Menschen wurden aufgefordert, alle nicht essenziellen Aktivitäten zu unterlassen und zu Hause zu bleiben. Doch die in den staatlichen Unterkünften lebenden Migranten wurden über die Pandemie kaum informiert, berichtet Rita Robles. Lang sei die Regierung auf die Frage nach dem Umgang mit Covid-19 in den Unterkünften eine Antwort schuldig geblieben.

Erst Anfang April legte das INM einen Plan zum Schutz der Gesundheit vor. Allerdings sei schnell klar gewesen, dass es keine realistischen Möglichkeiten geben würde, die Schutzmaßnahmen umzusetzen: "Das INM verfügt weder über Ressourcen, um einen angemessenen Hygienestandard in den staatlichen Unterkünften einzuhalten, noch um Erkrankte zu versorgen", so Robles.

Die Lage spitzte sich weiter zu, als mexikanische Medien den Tod eines Asylsuchenden in einer estación migratoria in Tenosique (Tabasco) meldeten. Insgesamt 41 Inhaftierte sollen gegen unzureichende Gesundheitsbedingungen protestiert und ihre sofortige Freilassung gefordert haben. Im Laufe der Ausschreitungen kam es zu einem Brand. Anstatt die Inhaftierten zu retten, sollen Beamte die Ausgänge der Unterkunft versperrt haben, berichtet das linksalternative Nachrichtenportal animalpolítico am 1. April. Während sich der Großteil der Menschen dennoch befreien konnte, fiel Héctor Rolando Barrientos Dardón (42), ein guatemaltekischer Asylsuchender, dem Brand zum Opfer.

Der Leiter der nichtstaatlichen Unterkunft für Migranten La 72 in Tenosique, Fray Gabriel Romero, wundert sich wenig über die Ausschreitungen. Die inhaftierten Migranten seien einem hohen physischen und psychischen Leidensdruck ausgesetzt. In der besagten estación migratoria lebten sie zusammengepfercht auf engstem Raum. Zum Zeitpunkt des Aufstandes seien hier etwa 300 Menschen untergebracht gewesen, bei einer Höchstkapazität mit nur 100 Plätzen. "Regelmäßig wurde von Krankheitsausbrüchen wie Salmonellen durch verdorbenes Essen berichtet", erinnert sich Gabriel Romero.

Ein Fall, der den Leiter von La 72 besonders aufwühlt, ist die Verweigerung der medikamentösen Behandlung einer an Aids erkrankten Gefangenen. Diese habe aufgrund ihrer transsexuellen Genderidentität aus ihrem zutiefst konservativen Heimatland flüchten müssen. Er kann die Aufständischen verstehen: "Dies ist offenbar der einzige Weg, um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen."

Aufgrund ähnlich prekärer Zustände komme es laut Rita Robles landesweit immer wieder zu Protesten in den estaciones migratorias. Es bestünde ein stetiger Mangel an Nahrungsmitteln und anderen lebensnotwendigen Ressourcen. Auch fließendes Wasser sei ein seltenes Luxusgut. Außerdem sei der Umgang der Regierungsbeamten mit den Migrantnen herablassend und von Rassismus geprägt.

Voces Mesoamericanas und Fray Matías Córdova unterschrieben daher gemeinsam mit weiteren Nichtregierungsorganisationen (NGO), Wissenschaftlern und zivilgesellschaftlichen Aktivisten am zweiten April die Forderung nach der Freilassung der Migranten aus den staatlichen Unterkünften. Tatsächlich wurde dies Ende April durch einen richterlichen Beschluss genehmigt und Migranten aus den estaciones migratorias der Städte Mexiko-Stadt, Monterrey, Tapachula, Tenosique, Tijuana und Villahermosa entlassen.

Was zunächst wie ein erster Erfolg für den Kampf um den gesundheitlichen Schutz der Migranten erschien, entpuppte sich schon bald als eigentliche Verschlimmerung der bereits drastischen Situation. "Das INM transportierte Migranten aus den estaciones migratorias im Norden an die Südgrenze des Landes und setzte sie dort ohne weitere Hilfeleistungen und mit der Aufforderung, nach eigenen Möglichkeiten in ihre Heimatländer zurückzukehren, einfach aus", berichtet Rita Robles.

Für einen Großteil der Migranten ist eine Rückkehr jedoch unmöglich. Sie sind nun obdachlos und leben auf den Straßen in den Grenzstädten Tenosique und Tapachula. Auch dort nimmt die diskriminierende Behandlung der Migranten kein Ende: "In Tapachula wurden öffentliche Plätze, wo sie zuvor übernachtet hatten, abgesperrt. Die Migranten werden von allen staatlichen Instanzen ausgestoßen", stellt Rita Robles bedauernd fest.

In den vergangenen zehn Jahren hat die zivilgesellschaftliche Mobilisierung gegen die humanitäre Notlage der Migranten zugenommen. NGO und kirchliche Einrichtungen bilden mittlerweile ein wichtiges Gegengewicht zur restriktiven Migrationspolitik. Trotz knapper Ressourcen und unter Androhung von Repressalien seitens der Regierung, stellen sie autonome Infrastrukturen für alternative Hilfsmechanismen bereit.

Mitarbeiter von Voces Mesoamericanas oder Fray Matías Córdova sind kontinuierlich an den Grenzübergängen im Süden des Landes präsent, um die Arbeit des INM zu kontrollieren. Außerdem versorgen sie die Ankommenden medizinisch und bieten ihnen Rechtsbeistand an. Nach Bedarf organisieren sie die Überführung bedürftiger Menschen in alternative Unterkünfte wie in das La 72, um sie so vor einer Inhaftierung in den staatlichen Einrichtungen zu bewahren.

Gabriel Romero von La 72 hat viele Fragen an die Regierung. Für ihn besteht kein tragfähiger Grund, Migranten zu registrieren und sie in Mexiko festzuhalten: "Die meisten Ankommenden wollen ja gar nicht bleiben, sondern weiter gen Norden in die USA. Daran werden sie bereits an der Südgrenze des Landes, zur Freude des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, gehindert", meint Gabriel Romero. Er verweist auf das Treffen zwischen López Obrador und Trump am 8. Juli 2020 in Washington, zur Feier des nordamerikanischen Freihandelsabkommens USMCA (zuvor Nafta), das seit dem 1. Juli in Kraft ist.

Trump soll sich zuvor beim mexikanischen Präsidenten bedankt haben, "27.000 Soldaten an der Südgrenze Mexikos stationiert und dadurch die Migration aufgehalten" zu haben. Tatsächlich sind laut dem mexikanischen Verteidigungsminister Luis Sandoval 6.500 Soldaten an der Südgrenze Mexikos im Einsatz. Gabriel Romero erklärt, dass Trump bereits 2018 den neu gewählten Präsidenten Mexikos gewarnt hatte, dass der Freihandel nur weiterginge, wenn das Land den Migrationsstrom an seiner Nordgrenze "in den Griff" bekäme. Trumps populistisches Vorhaben, eine Grenzmauer zwischen den Ländern erbauen zu lassen, habe sich nun dank der brutalen Migrationspolitik Mexikos erübrigt, so Gabriel Romero.

Trotz allem prognostizieren Rita Robles, Aldo Ledón und Fray Gabriel Romero einen massiven Anstieg der Migrationszahlen in absehbarer Zeit. Menschen würden aus existenzieller Not ihre Heimat verlassen, um in den Norden zu emigrieren. Für Aldo Ledón gleicht der Kampf um Menschenrechte in Mexiko einem Teufelskreis. Es sei klar, dass die Arbeit der Aktivisten keine reale Chance habe gegen die Regierungsmacht und ihre diskriminierende Migrationspolitik anzukommen. "Wir wissen, dass wir diesen Kampf nicht gewinnen können. Das was uns antreibt ist das Prinzip, so wenig wie möglich zu verlieren."

Der Beitrag ist erschienen in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 553/554